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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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I, I, Rousseau als Erzieher

verglichen werden, daß ihm die bewußte Erkenntnis von dem Willen als Zentrum
der Persönlichkeit noch nicht aufgegangen ist, obwohl die Art seines Unterrichts
durchaus voluntaristisch erscheint. So ist also auch seine Psychologie, wenn auch
tiefergehend als beispielsweise die Lockes, von welcher eine Abhängigkeit oft
nachgewiesen worden ist, im ganzen nicht über die seiner Zeit hinausgekommen.
Aber er hat, und in dem Maße doch zum ersten Male, die Erziehung in den
verschiedenen Lebensaltern auf eine ihnen entsprechende psychologische, oder besser
philosophische Grundlage gestellt und dadurch weiterhin anregend gewirkt. Das
Verhältnis ist hier ungesähr das gleiche wie in der Ethik: er geht direkt keine
neuen Wege, und doch hat er dadurch, daß er den Menschen auf sich selbst,
auf sein eigenes Inneres verweist, auch eine starke ethische Wirkung ausgeübt.

Wenn es nun auch um der Vielseitigkeit seiner Erscheinung willen nicht
angängig ist, Rousseau in die Reihe der Pädagogen im schulgemäßen Sinne zu
stellen, seine weitaus größte Bedeutung hat er doch auf dem Gebiete der
Erziehung gewonnen, der Begriff freilich in seiner weitesten Fassung verstanden.
Er war Musiker, aber seine Kompositionen haben nur für den Musikstudierenden
noch einen gewissen Wert; seine staatsrechtlichen Untersuchungen mögen den
Rechtslehrer historisch interessieren; er war vor allem auch Poet und Künstler,
und wir wissen, welchen Einfluß seine "Neue Heloise" und seine Bekenntnisse*)
auch auf unsere Literatur gehabt haben, im letzten Grunde aber war er doch
Erzieher, seine ideelle Kraft ist zuletzt immer auf erziehliche Einwirkung gewendet.
Es ist kein Zufall, daß gerade Schiller ihm in einem seiner Jugendgedichte
ein Denkmal gesetzt hat. So verschieden der Genfer Idealist und der idealistische
große Deutsche sein mögen, in dem ideellen Drange erzieherisch auf ihre Zeit
einzuwirken, der bei Rousseau wegen des fast krankhaften Mangels an Aktivität
nur wieder ganz innerlich verstanden werden darf, begegnen sich beide. Ihr aus
der Idee geschöpfter Glaube an das Gute im Menschen ist die Voraussetzung
für ihr Vertrauen an die Erziehungsmöglichkeit des Menschengeschlechts. Freilich
unterscheidet sich dann Schillers ästhetisches Erziehungsideal doch grundsätzlich
von dem Rousseaus, dem man wohl eher Tolstois religiös gewendetes Ideal
an die Seite setzen könnte, wie denn Tolstoi überhaupt als Kulturerscheinung
mancherlei mit Rousseau gemein hat.

Man hat anläßlich der Zweijahrhundertfeier Friedrichs des Großen auch
Rousseau neben den großen König gestellt, natürlich auf Kosten Rousseaus,
was aber selbstverständlich sehr billig ist. Wahrscheinlich aber waren Friedrichs
Erziehungsmaximen von denen des anderen gar nicht so weit entfernt, wie
man nachzuweisen versucht hat und wie er selbst glaubte, wenn er in seinen
späteren Zeiten einmal sagt: "Gute Sitten sind für die Gesellschaft mehr wert



*) Die "Bekenntnisse" Rousseaus sind zu seinem 200jährigen Geburtstage in einer
billigen Neuausgabe (gebunden 2 M.) im Verlage von Martin Mörike erschienen. Der
Herausgeber, Otto Fischer, hat eine recht brauchbare deutsche Übersetzung deren Verfasser
,D. Schriftltg. leider nicht genannt wird, benutzt und ein wenig gekürzt.
I, I, Rousseau als Erzieher

verglichen werden, daß ihm die bewußte Erkenntnis von dem Willen als Zentrum
der Persönlichkeit noch nicht aufgegangen ist, obwohl die Art seines Unterrichts
durchaus voluntaristisch erscheint. So ist also auch seine Psychologie, wenn auch
tiefergehend als beispielsweise die Lockes, von welcher eine Abhängigkeit oft
nachgewiesen worden ist, im ganzen nicht über die seiner Zeit hinausgekommen.
Aber er hat, und in dem Maße doch zum ersten Male, die Erziehung in den
verschiedenen Lebensaltern auf eine ihnen entsprechende psychologische, oder besser
philosophische Grundlage gestellt und dadurch weiterhin anregend gewirkt. Das
Verhältnis ist hier ungesähr das gleiche wie in der Ethik: er geht direkt keine
neuen Wege, und doch hat er dadurch, daß er den Menschen auf sich selbst,
auf sein eigenes Inneres verweist, auch eine starke ethische Wirkung ausgeübt.

Wenn es nun auch um der Vielseitigkeit seiner Erscheinung willen nicht
angängig ist, Rousseau in die Reihe der Pädagogen im schulgemäßen Sinne zu
stellen, seine weitaus größte Bedeutung hat er doch auf dem Gebiete der
Erziehung gewonnen, der Begriff freilich in seiner weitesten Fassung verstanden.
Er war Musiker, aber seine Kompositionen haben nur für den Musikstudierenden
noch einen gewissen Wert; seine staatsrechtlichen Untersuchungen mögen den
Rechtslehrer historisch interessieren; er war vor allem auch Poet und Künstler,
und wir wissen, welchen Einfluß seine „Neue Heloise" und seine Bekenntnisse*)
auch auf unsere Literatur gehabt haben, im letzten Grunde aber war er doch
Erzieher, seine ideelle Kraft ist zuletzt immer auf erziehliche Einwirkung gewendet.
Es ist kein Zufall, daß gerade Schiller ihm in einem seiner Jugendgedichte
ein Denkmal gesetzt hat. So verschieden der Genfer Idealist und der idealistische
große Deutsche sein mögen, in dem ideellen Drange erzieherisch auf ihre Zeit
einzuwirken, der bei Rousseau wegen des fast krankhaften Mangels an Aktivität
nur wieder ganz innerlich verstanden werden darf, begegnen sich beide. Ihr aus
der Idee geschöpfter Glaube an das Gute im Menschen ist die Voraussetzung
für ihr Vertrauen an die Erziehungsmöglichkeit des Menschengeschlechts. Freilich
unterscheidet sich dann Schillers ästhetisches Erziehungsideal doch grundsätzlich
von dem Rousseaus, dem man wohl eher Tolstois religiös gewendetes Ideal
an die Seite setzen könnte, wie denn Tolstoi überhaupt als Kulturerscheinung
mancherlei mit Rousseau gemein hat.

Man hat anläßlich der Zweijahrhundertfeier Friedrichs des Großen auch
Rousseau neben den großen König gestellt, natürlich auf Kosten Rousseaus,
was aber selbstverständlich sehr billig ist. Wahrscheinlich aber waren Friedrichs
Erziehungsmaximen von denen des anderen gar nicht so weit entfernt, wie
man nachzuweisen versucht hat und wie er selbst glaubte, wenn er in seinen
späteren Zeiten einmal sagt: „Gute Sitten sind für die Gesellschaft mehr wert



*) Die „Bekenntnisse" Rousseaus sind zu seinem 200jährigen Geburtstage in einer
billigen Neuausgabe (gebunden 2 M.) im Verlage von Martin Mörike erschienen. Der
Herausgeber, Otto Fischer, hat eine recht brauchbare deutsche Übersetzung deren Verfasser
,D. Schriftltg. leider nicht genannt wird, benutzt und ein wenig gekürzt.
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[0624] I, I, Rousseau als Erzieher verglichen werden, daß ihm die bewußte Erkenntnis von dem Willen als Zentrum der Persönlichkeit noch nicht aufgegangen ist, obwohl die Art seines Unterrichts durchaus voluntaristisch erscheint. So ist also auch seine Psychologie, wenn auch tiefergehend als beispielsweise die Lockes, von welcher eine Abhängigkeit oft nachgewiesen worden ist, im ganzen nicht über die seiner Zeit hinausgekommen. Aber er hat, und in dem Maße doch zum ersten Male, die Erziehung in den verschiedenen Lebensaltern auf eine ihnen entsprechende psychologische, oder besser philosophische Grundlage gestellt und dadurch weiterhin anregend gewirkt. Das Verhältnis ist hier ungesähr das gleiche wie in der Ethik: er geht direkt keine neuen Wege, und doch hat er dadurch, daß er den Menschen auf sich selbst, auf sein eigenes Inneres verweist, auch eine starke ethische Wirkung ausgeübt. Wenn es nun auch um der Vielseitigkeit seiner Erscheinung willen nicht angängig ist, Rousseau in die Reihe der Pädagogen im schulgemäßen Sinne zu stellen, seine weitaus größte Bedeutung hat er doch auf dem Gebiete der Erziehung gewonnen, der Begriff freilich in seiner weitesten Fassung verstanden. Er war Musiker, aber seine Kompositionen haben nur für den Musikstudierenden noch einen gewissen Wert; seine staatsrechtlichen Untersuchungen mögen den Rechtslehrer historisch interessieren; er war vor allem auch Poet und Künstler, und wir wissen, welchen Einfluß seine „Neue Heloise" und seine Bekenntnisse*) auch auf unsere Literatur gehabt haben, im letzten Grunde aber war er doch Erzieher, seine ideelle Kraft ist zuletzt immer auf erziehliche Einwirkung gewendet. Es ist kein Zufall, daß gerade Schiller ihm in einem seiner Jugendgedichte ein Denkmal gesetzt hat. So verschieden der Genfer Idealist und der idealistische große Deutsche sein mögen, in dem ideellen Drange erzieherisch auf ihre Zeit einzuwirken, der bei Rousseau wegen des fast krankhaften Mangels an Aktivität nur wieder ganz innerlich verstanden werden darf, begegnen sich beide. Ihr aus der Idee geschöpfter Glaube an das Gute im Menschen ist die Voraussetzung für ihr Vertrauen an die Erziehungsmöglichkeit des Menschengeschlechts. Freilich unterscheidet sich dann Schillers ästhetisches Erziehungsideal doch grundsätzlich von dem Rousseaus, dem man wohl eher Tolstois religiös gewendetes Ideal an die Seite setzen könnte, wie denn Tolstoi überhaupt als Kulturerscheinung mancherlei mit Rousseau gemein hat. Man hat anläßlich der Zweijahrhundertfeier Friedrichs des Großen auch Rousseau neben den großen König gestellt, natürlich auf Kosten Rousseaus, was aber selbstverständlich sehr billig ist. Wahrscheinlich aber waren Friedrichs Erziehungsmaximen von denen des anderen gar nicht so weit entfernt, wie man nachzuweisen versucht hat und wie er selbst glaubte, wenn er in seinen späteren Zeiten einmal sagt: „Gute Sitten sind für die Gesellschaft mehr wert *) Die „Bekenntnisse" Rousseaus sind zu seinem 200jährigen Geburtstage in einer billigen Neuausgabe (gebunden 2 M.) im Verlage von Martin Mörike erschienen. Der Herausgeber, Otto Fischer, hat eine recht brauchbare deutsche Übersetzung deren Verfasser ,D. Schriftltg. leider nicht genannt wird, benutzt und ein wenig gekürzt.

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Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/624>, abgerufen am 17.06.2024.