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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Aus der deutschen Bergarbeiterbewegung

der Berufsgenossen organisiert sind, und wenn bei dem häufigen Stellenwechsel
der Bergarbeiter die Haftbarkeit eigentlich nur bei den Unternehmern gegeben
ist? Bei den Lohnstreitigkeiten ist ja heute der Kontraktbruch etwas sehr ge¬
wöhnliches, und der Abg. Gothein hat im Reichstage (15. März 1912) die
Häufigkeit des Kontraktbruches damit begründet, daß es zu umständlich und zu
riskant für den einzelnen Arbeiter sei, zu kündigen. Er schlug als Abhilfe¬
maßregel vor, daß es dem Arbeiterausschuß erlaubt sein sollte, für die Gesamt¬
heit der Arbeiter Erklärungen über Kündigung oder Wiederaufnahme der Arbeit
abzugeben. Das aber heißt mit Riesenschritten in das parlamentarische System
der Arbeit eintreten und den freien Arbeitsvertrag dem Majoritätswillen aus¬
liefern. Dreiviertel eines Arbeiterausschusses verlangt den Streik, dann muß
die Gesamtheit der zugehörigen Arbeiterschaft die Arbeit einstellen. Das ist die
konstitutionelle Fabrik, die Herrschaft der Mehrheit in der Industrie.

Da sich auf solche Experimente am lebenden Körper unserer Industrie die
Landesgesetzgebung in Preußen bisher nicht eingelassen hat und denen auch inZukunft
voraussichtlich Widerstand leisten wird, so wird ein Reichsberggesetz gefordert in
, der Erwartung, daß im Reichstage auch für die gewagtesten sozialpolitischen
Versuche eine Mehrheit leicht zu haben ist.

Ich halte den Standpunkt mancher Zechenverwaltungen, keine Arbeiter¬
vertretung anerkennen und nur mit dem einzelnen Arbeiter verhandeln zu wollen,
für verkehrt, da solche Einzelverhandlungen unter Umstünden mit 350000 Mann
doch ein Unding darstellen, und da auch die preußische Gesetzgebung bereits
gewisse Organisationen und Arbeitervertretungen als berechtigt anerkannt hat.
Man mag so vorsichtig und schonend wie möglich vorgehen, aber man sollte
sich nicht den Vorwurf der Weltfremdheit verdienen. Ich würde es für keinen
Fehler halten, das Institut der Arbeiterausschüsse lebensfähig zu gestalten, als
ein brauchbares Vermittlungsorgan zwischen Unternehmer und Arbeiter. Wie
die Verhältnisse sich heute entwickelt haben, wird freilich die Sozialdemokratie
jeder Organisation und Vermittlungsinstanz ihren Stempel aufzudrücken sich
bemühen. Das erschwert die sozialpolitische Arbeit und mahnt zur Vorsicht,
aber es kann sie auch nicht völlig unterbinden, weil das laiiZser faire, Iai8ser
aller erst recht der Sozialdemokratie zugute kommt. Jedenfalls sollte den
Arbeiterausschüssen das Recht gewährt werden, auch über die Lohnverhältnisse
mit den Zechenverwaltungen in Unterhandlungen zu treten. Die gegenteilige
oder zweifelhafte Bestimmung des Allgemeinen Preußischen Berggesetzes hat
wenig Zweck und Sinn und ist auch vielfach bei dem letzten Streik zur Seite
geschoben worden. Ein Organ muß dafür da sein, und dann ist der Arbeiter¬
ausschuß der für die Disziplin zuträglichste und darum überhaupt zweckmäßigste.

Wenn man das politische Fazit aus der Bergarbeiterbewegung ziehen soll,
so darf man sagen, daß es dank der vernünftigen Haltung der Unternehmer,
die rechtzeitig im Rahmen des Möglichen Zugeständnisse gemacht haben, ohne
den Streik abzuwarten, dank den christlichen und nationalen Organisationen,


Aus der deutschen Bergarbeiterbewegung

der Berufsgenossen organisiert sind, und wenn bei dem häufigen Stellenwechsel
der Bergarbeiter die Haftbarkeit eigentlich nur bei den Unternehmern gegeben
ist? Bei den Lohnstreitigkeiten ist ja heute der Kontraktbruch etwas sehr ge¬
wöhnliches, und der Abg. Gothein hat im Reichstage (15. März 1912) die
Häufigkeit des Kontraktbruches damit begründet, daß es zu umständlich und zu
riskant für den einzelnen Arbeiter sei, zu kündigen. Er schlug als Abhilfe¬
maßregel vor, daß es dem Arbeiterausschuß erlaubt sein sollte, für die Gesamt¬
heit der Arbeiter Erklärungen über Kündigung oder Wiederaufnahme der Arbeit
abzugeben. Das aber heißt mit Riesenschritten in das parlamentarische System
der Arbeit eintreten und den freien Arbeitsvertrag dem Majoritätswillen aus¬
liefern. Dreiviertel eines Arbeiterausschusses verlangt den Streik, dann muß
die Gesamtheit der zugehörigen Arbeiterschaft die Arbeit einstellen. Das ist die
konstitutionelle Fabrik, die Herrschaft der Mehrheit in der Industrie.

Da sich auf solche Experimente am lebenden Körper unserer Industrie die
Landesgesetzgebung in Preußen bisher nicht eingelassen hat und denen auch inZukunft
voraussichtlich Widerstand leisten wird, so wird ein Reichsberggesetz gefordert in
, der Erwartung, daß im Reichstage auch für die gewagtesten sozialpolitischen
Versuche eine Mehrheit leicht zu haben ist.

Ich halte den Standpunkt mancher Zechenverwaltungen, keine Arbeiter¬
vertretung anerkennen und nur mit dem einzelnen Arbeiter verhandeln zu wollen,
für verkehrt, da solche Einzelverhandlungen unter Umstünden mit 350000 Mann
doch ein Unding darstellen, und da auch die preußische Gesetzgebung bereits
gewisse Organisationen und Arbeitervertretungen als berechtigt anerkannt hat.
Man mag so vorsichtig und schonend wie möglich vorgehen, aber man sollte
sich nicht den Vorwurf der Weltfremdheit verdienen. Ich würde es für keinen
Fehler halten, das Institut der Arbeiterausschüsse lebensfähig zu gestalten, als
ein brauchbares Vermittlungsorgan zwischen Unternehmer und Arbeiter. Wie
die Verhältnisse sich heute entwickelt haben, wird freilich die Sozialdemokratie
jeder Organisation und Vermittlungsinstanz ihren Stempel aufzudrücken sich
bemühen. Das erschwert die sozialpolitische Arbeit und mahnt zur Vorsicht,
aber es kann sie auch nicht völlig unterbinden, weil das laiiZser faire, Iai8ser
aller erst recht der Sozialdemokratie zugute kommt. Jedenfalls sollte den
Arbeiterausschüssen das Recht gewährt werden, auch über die Lohnverhältnisse
mit den Zechenverwaltungen in Unterhandlungen zu treten. Die gegenteilige
oder zweifelhafte Bestimmung des Allgemeinen Preußischen Berggesetzes hat
wenig Zweck und Sinn und ist auch vielfach bei dem letzten Streik zur Seite
geschoben worden. Ein Organ muß dafür da sein, und dann ist der Arbeiter¬
ausschuß der für die Disziplin zuträglichste und darum überhaupt zweckmäßigste.

Wenn man das politische Fazit aus der Bergarbeiterbewegung ziehen soll,
so darf man sagen, daß es dank der vernünftigen Haltung der Unternehmer,
die rechtzeitig im Rahmen des Möglichen Zugeständnisse gemacht haben, ohne
den Streik abzuwarten, dank den christlichen und nationalen Organisationen,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/68>, abgerufen am 17.06.2024.