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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Schülerjahre

Beziehung eine so weitgehende Freiheit, daß das in der heutigen Zeit, wo in
jedem Lehrfache auf das rigoroseste und unbedingt das staatlich vorgeschriebene
Ziel erreicht werden muß, unglaublich erscheint." (Heinr. Winkler.) Selbst noch
aus der Zeit um 1890 klingt das dankbare Bekenntnis eines Schülers herüber:
"Unsere Schule ließ uns Zeit für eigene Arbeit, Spiel und Liebhabereien. Sie
war noch nicht in den modernen Wahn verfallen, daß sie alles in ihre Hand
nehmen müßte." (H. Weinet). Als Forderung ließe sich diese Erfahrung etwa
so formulieren: laßt dem reifer gewordenen Schüler Kraft und Zeit, auch
Mensch mit eigenen Neigungen zu sein. Erfüllt man diesen Wunsch, so wird
einerseits der körperliche Sport stark sein Recht fordern (Übertreibung ist zu
verhüten), aber auch von der Schule unabhängige geistige Arbeit wird aus dem
Wesen des jungen Menschen herauswachsen. Dieser Weg ist heute eigentlich
nur gangbar, wenn die Schule in dem Alter, wo die Wesensart des jungen
Menschen sich in besonderen Neigungen äußert, aufhört, das erwachte Interesse
am Einzelfach durch das Vielerlei des Lehrstoffes wieder ins Flache zu treiben.
Der Ruf nach freier Gestaltung des Unterrichts in den Oberklassen der höheren
Schulen scheint einem Bedürfnis zu entsprechen. Diese freie Gestaltung wird
allerdings nur einem Teil der Schüler von Nutzen sein, da sich einseitige
Neigungen bei weitem nicht bei jedem schon in diesem Alter einstellen; für die
letzteren kann es bei der bisherigen Vielseitigkeit der Vorbildung bleiben. Nicht
in "Sonderunterrichtskursen" (vgl. den Artikel von R. Hanisch im "Tag" vom
21. März 1912) sollte die stärkere Pflege des bevorzugten Faches meines Er-
achtens seinen Ausdruck finden, sondern in "Studiertagen" nach dem alten
Muster. Eigene Wege soll hier der Schüler gehen, als Berater und Helfer den
Lehrer heranziehen dürfen, aber nicht müssen. Nur eine Kontrolle des Ergebnisses
der Studientage wird diesem bleiben müssen; denn Trägheit soll natürlich durch
ihre Freigabe nicht gefördert werden. --

Ich nenne oben das Buch "Schülerjahre" ein zeitgemäßes Buch. Das ist
es gewiß nach der guten wie der schlechten Seite. In seinen Blättern dieselben
Widersprüche, dieselbe Unklarheit über die Ziele wie über die Auffassung des
Gegebenen, die in unserem ganzen Kulturleben hervortreten. Aber auch --
wenigstens bet den meisten der Mitarbeiter ^-- dasselbe Streben nach Vorwärts,
nach Befreiung von unerfreulichen Zustünden. Der Tadel ist hierin nicht nur
etwas Negatives; er hat auch seine positive Seite. Zwar möchte ich Graff
einleitendes Wort: "Das Nichtige, das, was unsere Zeit braucht, das wird sich
durchsetzen!" nicht nachsprechen. Aber sicher ist, daß wir auf dem Wege zum
Nichtigen aus dem Buche manches lernen können. Und ein Buch, aus dem
eine Zeit lernen kann, ist immer zeitgemäß.




Schülerjahre

Beziehung eine so weitgehende Freiheit, daß das in der heutigen Zeit, wo in
jedem Lehrfache auf das rigoroseste und unbedingt das staatlich vorgeschriebene
Ziel erreicht werden muß, unglaublich erscheint." (Heinr. Winkler.) Selbst noch
aus der Zeit um 1890 klingt das dankbare Bekenntnis eines Schülers herüber:
„Unsere Schule ließ uns Zeit für eigene Arbeit, Spiel und Liebhabereien. Sie
war noch nicht in den modernen Wahn verfallen, daß sie alles in ihre Hand
nehmen müßte." (H. Weinet). Als Forderung ließe sich diese Erfahrung etwa
so formulieren: laßt dem reifer gewordenen Schüler Kraft und Zeit, auch
Mensch mit eigenen Neigungen zu sein. Erfüllt man diesen Wunsch, so wird
einerseits der körperliche Sport stark sein Recht fordern (Übertreibung ist zu
verhüten), aber auch von der Schule unabhängige geistige Arbeit wird aus dem
Wesen des jungen Menschen herauswachsen. Dieser Weg ist heute eigentlich
nur gangbar, wenn die Schule in dem Alter, wo die Wesensart des jungen
Menschen sich in besonderen Neigungen äußert, aufhört, das erwachte Interesse
am Einzelfach durch das Vielerlei des Lehrstoffes wieder ins Flache zu treiben.
Der Ruf nach freier Gestaltung des Unterrichts in den Oberklassen der höheren
Schulen scheint einem Bedürfnis zu entsprechen. Diese freie Gestaltung wird
allerdings nur einem Teil der Schüler von Nutzen sein, da sich einseitige
Neigungen bei weitem nicht bei jedem schon in diesem Alter einstellen; für die
letzteren kann es bei der bisherigen Vielseitigkeit der Vorbildung bleiben. Nicht
in „Sonderunterrichtskursen" (vgl. den Artikel von R. Hanisch im „Tag" vom
21. März 1912) sollte die stärkere Pflege des bevorzugten Faches meines Er-
achtens seinen Ausdruck finden, sondern in „Studiertagen" nach dem alten
Muster. Eigene Wege soll hier der Schüler gehen, als Berater und Helfer den
Lehrer heranziehen dürfen, aber nicht müssen. Nur eine Kontrolle des Ergebnisses
der Studientage wird diesem bleiben müssen; denn Trägheit soll natürlich durch
ihre Freigabe nicht gefördert werden. —

Ich nenne oben das Buch „Schülerjahre" ein zeitgemäßes Buch. Das ist
es gewiß nach der guten wie der schlechten Seite. In seinen Blättern dieselben
Widersprüche, dieselbe Unklarheit über die Ziele wie über die Auffassung des
Gegebenen, die in unserem ganzen Kulturleben hervortreten. Aber auch —
wenigstens bet den meisten der Mitarbeiter ^— dasselbe Streben nach Vorwärts,
nach Befreiung von unerfreulichen Zustünden. Der Tadel ist hierin nicht nur
etwas Negatives; er hat auch seine positive Seite. Zwar möchte ich Graff
einleitendes Wort: „Das Nichtige, das, was unsere Zeit braucht, das wird sich
durchsetzen!" nicht nachsprechen. Aber sicher ist, daß wir auf dem Wege zum
Nichtigen aus dem Buche manches lernen können. Und ein Buch, aus dem
eine Zeit lernen kann, ist immer zeitgemäß.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/81>, abgerufen am 18.05.2024.