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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Am Bau der deutschen Zukunft

nicht, ob die Mächte des Lebens oder des Todes in diesem Volke schließlich
triumphieren werden.

So hat sich in den letzten Jahrzehnten unter den nachdenklichen unseres
Volkes ein sonderbares Bedürfnis erst unbewußt, dann immer bewußter fühlbar
gemacht, das Bedürfnis nach einer Antwort auf die Schicksalsfrage: Sind wir
ein junges Volk oder ein altes? Stehen wir, weil erst jetzt unser Staatswesen
eine feste Schale um den größten Teil unseres Volkskörpers schließt, und weil
unser Wirtschaftsleben sich ungeahnt entwickelt hat, am Anfange eines gewaltigen
Aufschwunges zu höchsten nationalen Werten, -- oder sind alle jene Zeichen
staatlicher und wirtschaftlicher Expansion nur die letzten Lebensregungen eines
greisenhafter Volkes, das seine Lebenszeit zu Ende läuft, seinen Kulturhöhepunkt
längst hinter sich hat und in krampfhaft lächerlicher Weise eine Jugend vor¬
zutäuschen sucht, vortäuschen kann, weil die ganze Staatengesellschaft ringsum
selbst aus lauter abgelebten Kulturvölkern besteht? Man ringt nach Orien¬
tierung für unsere Zeit im Verlaufe des Weltgeschehens und glaubt vielleicht
in der richtigen Einordnung in die Entwicklungsreihe einen Trost zu finden,
der doch nur der Trost des Quietisten sein kann, denn mit dieser Einordnung
scheint man sich blind dem Determinismus der Entwicklung zu unterwerfen.

Aber eine solche Orientierung muß uns doch nicht dahin führen, die Hände
in den Schoß zu legen, sondern kann auch in der Absicht geschehen, von diesem
festen Pol aus den Hebel anzusetzen an den Lauf der Entwicklung; dieser Begriff
braucht nicht der Idee des persönlich freien Willens zu widersprechen. Auch
die Persönlichkeiten sind Träger der Entwicklung, und in ihren Händen kaun
in manchen Zeiten das richtunggebende Steuer liegen. So wird man die Be¬
deutung der gesuchten Orientierung für das praktische Wirken nicht verkennen.
Jndeni man es unternimmt, den Ablauf des (an sich zwar großenteils irrationalen)
historischen Prozesses in einer Weise zu rationalisieren, daß der gegenwärtige
Zustand sich diesem Ablauf einfügt, werden die Kräfte und Möglichkeiten sichtbar,
die eine Lenkung der Entwicklung ermöglichen. Aber freilich, sei es unter dem
suggestiven Einfluß der naturwissenschaftlichen Entwicklungsidee, sei es aus einem
Bedürfnis des menschlichen Wesens heraus: die bisher sich an diesem Problem der
Rationalisierung versucht haben, sind doch wieder bedenklich ins deterministische
Fahrwasser geraten. Wenn Marx allein von wirtschaftlichen Verhältnissen die
Geschicke des Menschen abhängen läßt, wenn Lamprecht die Kollektivpsyche in
ihrer Wandlung als bestimmend für das menschliche Geschehen setzt, wenn
Breysig den gesetzmäßigen, mithin unabänderlichen Ablauf der historischen Reihen
wenigstens auf dem Gebiet des staatlichen Lebens statuiert, so könnte man von
hier aus zum resignierten Zuschauer werden. Daß dem nicht so zu sein braucht,
daß z. B. Breysig selbst statt dieser Rolle die des politischen Vorkämpfers über¬
nommen hat, ist eine von den irrationalen Erscheinungen, die in der Zeit
der Mechanisierung und der Masse den Glauben an die Undurchdringlichkeit der
menschlichen Natur wachrufen.


Am Bau der deutschen Zukunft

nicht, ob die Mächte des Lebens oder des Todes in diesem Volke schließlich
triumphieren werden.

So hat sich in den letzten Jahrzehnten unter den nachdenklichen unseres
Volkes ein sonderbares Bedürfnis erst unbewußt, dann immer bewußter fühlbar
gemacht, das Bedürfnis nach einer Antwort auf die Schicksalsfrage: Sind wir
ein junges Volk oder ein altes? Stehen wir, weil erst jetzt unser Staatswesen
eine feste Schale um den größten Teil unseres Volkskörpers schließt, und weil
unser Wirtschaftsleben sich ungeahnt entwickelt hat, am Anfange eines gewaltigen
Aufschwunges zu höchsten nationalen Werten, — oder sind alle jene Zeichen
staatlicher und wirtschaftlicher Expansion nur die letzten Lebensregungen eines
greisenhafter Volkes, das seine Lebenszeit zu Ende läuft, seinen Kulturhöhepunkt
längst hinter sich hat und in krampfhaft lächerlicher Weise eine Jugend vor¬
zutäuschen sucht, vortäuschen kann, weil die ganze Staatengesellschaft ringsum
selbst aus lauter abgelebten Kulturvölkern besteht? Man ringt nach Orien¬
tierung für unsere Zeit im Verlaufe des Weltgeschehens und glaubt vielleicht
in der richtigen Einordnung in die Entwicklungsreihe einen Trost zu finden,
der doch nur der Trost des Quietisten sein kann, denn mit dieser Einordnung
scheint man sich blind dem Determinismus der Entwicklung zu unterwerfen.

Aber eine solche Orientierung muß uns doch nicht dahin führen, die Hände
in den Schoß zu legen, sondern kann auch in der Absicht geschehen, von diesem
festen Pol aus den Hebel anzusetzen an den Lauf der Entwicklung; dieser Begriff
braucht nicht der Idee des persönlich freien Willens zu widersprechen. Auch
die Persönlichkeiten sind Träger der Entwicklung, und in ihren Händen kaun
in manchen Zeiten das richtunggebende Steuer liegen. So wird man die Be¬
deutung der gesuchten Orientierung für das praktische Wirken nicht verkennen.
Jndeni man es unternimmt, den Ablauf des (an sich zwar großenteils irrationalen)
historischen Prozesses in einer Weise zu rationalisieren, daß der gegenwärtige
Zustand sich diesem Ablauf einfügt, werden die Kräfte und Möglichkeiten sichtbar,
die eine Lenkung der Entwicklung ermöglichen. Aber freilich, sei es unter dem
suggestiven Einfluß der naturwissenschaftlichen Entwicklungsidee, sei es aus einem
Bedürfnis des menschlichen Wesens heraus: die bisher sich an diesem Problem der
Rationalisierung versucht haben, sind doch wieder bedenklich ins deterministische
Fahrwasser geraten. Wenn Marx allein von wirtschaftlichen Verhältnissen die
Geschicke des Menschen abhängen läßt, wenn Lamprecht die Kollektivpsyche in
ihrer Wandlung als bestimmend für das menschliche Geschehen setzt, wenn
Breysig den gesetzmäßigen, mithin unabänderlichen Ablauf der historischen Reihen
wenigstens auf dem Gebiet des staatlichen Lebens statuiert, so könnte man von
hier aus zum resignierten Zuschauer werden. Daß dem nicht so zu sein braucht,
daß z. B. Breysig selbst statt dieser Rolle die des politischen Vorkämpfers über¬
nommen hat, ist eine von den irrationalen Erscheinungen, die in der Zeit
der Mechanisierung und der Masse den Glauben an die Undurchdringlichkeit der
menschlichen Natur wachrufen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/113>, abgerufen am 20.05.2024.