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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Freiherr von Marschall

zwischen den großen Erwerbsgruppen herbeigeführt und die Konservativen zu
einseitigen Verfechtern extrem argrarischer Forderungen gemacht hätten.

Was aus dieser Zeit zurückblieb, war eine erbitterte Feindschaft zwischen
Marschall und den Konservativen, so wie sie nun inzwischen geworden waren.
Und als nun der Kanzlerwechsel 1894 eine gewisse Umkehr von manchen
Prinzipien und Anschauungen des "neuen Kurses" mit sich brachte, erschien die
Stellung des Staatssekretärs ernstlich gefährdet. In Wirklichkeit war das
Vertrauen des Kaisers zu Herrn von Marschall unerschüttert, und ein sachlicher
Grund, dem Staatssekretär die Führung der Geschäfte, in die er sich jetzt ganz
eingearbeitet hatte, zu entziehen, bestand durchaus nicht. Aber in politischen
Kreisen war um jene Zeit der Eindruck entstanden, als ob es in der Führung
der Reichsgeschäste an der nötigen Einheitlichkeit fehle, als ob es in den
höchsten Neichsämtern Strömungen gebe, die gegeneinander arbeiteten. Und
das war auch in dem Sinne richtig, daß der persönliche Einfluß des alten
Fürsten Hohenlohe nicht mehr die beherrschende Kraft hatte, um eine entschiedene
Überlegenheit geltend zu machen. Daß eine solche Lage die politische Intrige
weckt, ist eine traurige, aber sich immer wieder bestätigende Erfahrung. In
dem Freiherrn von Marschall glaubten die Drahtzieher der Intrige einen der
Männer zu sehen, die als charakteristische Figuren aus der Capriviperiode in
die neue Lage angeblich nicht passen sollten. So galt es sür sie, an ent¬
scheidenden Stellen den entsprechenden Eindruck zu erwecken. Ging es nicht
auf geradem Wege, so mußte es auf krummem gehen. Jetzt begann die
Lanzierung von allerlei Nachrichten und Aufsätzen in der Presse, die Herrn
von Marschall kompromittieren sollten. Es sollte der Anschein erweckt werden,
als ob Marschall selbst mit Hilfe der ihm ergebenen Presse intrigiere oder
politische Sonderzwecke verfolge. Aber die Erwartungen der im Dunkeln
Schleichenden schlugen in einer ganz ungeahnten Weise fehl. Der Staatssekretär
selbst zerriß das Netz, mit dem er umsponnen werden sollte, indem er die
ermittelten Vertreiber dieser Preßnotizen vor Gericht ziehen ließ. Er unternahm,
wie er sagte, -- und der Ausdruck ist seitdem berühmt geworden, -- die
"Flucht in die Öffentlichkeit". Dieser Prozeß Leckerl-von Lützow, dem im
Jahre 1897 infolge der dabei gemachten Enthüllungen der Prozeß gegen den
Agenten der politischen Polizei, Kriminalkommissar von Tausch folgte, reinigte
allerdings die politische Atmosphäre, aber er verleidete auch durch seine
Konsequenzen dem Staatssekretär die Weiterführung seines Amts. Auch hatten
ihn die Aufregungen dieses schlimmen Jahres körperlich schwer angegriffen.
So schied er nach einem längeren Urlaub, während dessen sein Nachfolger,
Botschafter von Bülow, die Geschäfte führte, von seinem Posten, und damit
wurde seine Kraft für das Amt frei, auf dem er seine höchsten Triumphe
gefeiert hat. Er wurde im Herbst 1897 Botschafter in Konstantinopel.

Worauf beruhten nun die bekannten Erfolge, die Marschall in fast fünf¬
zehnjähriger Tätigkeit an: goldenen Horn erreicht hat? Worauf die eigenartige


Freiherr von Marschall

zwischen den großen Erwerbsgruppen herbeigeführt und die Konservativen zu
einseitigen Verfechtern extrem argrarischer Forderungen gemacht hätten.

Was aus dieser Zeit zurückblieb, war eine erbitterte Feindschaft zwischen
Marschall und den Konservativen, so wie sie nun inzwischen geworden waren.
Und als nun der Kanzlerwechsel 1894 eine gewisse Umkehr von manchen
Prinzipien und Anschauungen des „neuen Kurses" mit sich brachte, erschien die
Stellung des Staatssekretärs ernstlich gefährdet. In Wirklichkeit war das
Vertrauen des Kaisers zu Herrn von Marschall unerschüttert, und ein sachlicher
Grund, dem Staatssekretär die Führung der Geschäfte, in die er sich jetzt ganz
eingearbeitet hatte, zu entziehen, bestand durchaus nicht. Aber in politischen
Kreisen war um jene Zeit der Eindruck entstanden, als ob es in der Führung
der Reichsgeschäste an der nötigen Einheitlichkeit fehle, als ob es in den
höchsten Neichsämtern Strömungen gebe, die gegeneinander arbeiteten. Und
das war auch in dem Sinne richtig, daß der persönliche Einfluß des alten
Fürsten Hohenlohe nicht mehr die beherrschende Kraft hatte, um eine entschiedene
Überlegenheit geltend zu machen. Daß eine solche Lage die politische Intrige
weckt, ist eine traurige, aber sich immer wieder bestätigende Erfahrung. In
dem Freiherrn von Marschall glaubten die Drahtzieher der Intrige einen der
Männer zu sehen, die als charakteristische Figuren aus der Capriviperiode in
die neue Lage angeblich nicht passen sollten. So galt es sür sie, an ent¬
scheidenden Stellen den entsprechenden Eindruck zu erwecken. Ging es nicht
auf geradem Wege, so mußte es auf krummem gehen. Jetzt begann die
Lanzierung von allerlei Nachrichten und Aufsätzen in der Presse, die Herrn
von Marschall kompromittieren sollten. Es sollte der Anschein erweckt werden,
als ob Marschall selbst mit Hilfe der ihm ergebenen Presse intrigiere oder
politische Sonderzwecke verfolge. Aber die Erwartungen der im Dunkeln
Schleichenden schlugen in einer ganz ungeahnten Weise fehl. Der Staatssekretär
selbst zerriß das Netz, mit dem er umsponnen werden sollte, indem er die
ermittelten Vertreiber dieser Preßnotizen vor Gericht ziehen ließ. Er unternahm,
wie er sagte, — und der Ausdruck ist seitdem berühmt geworden, — die
„Flucht in die Öffentlichkeit". Dieser Prozeß Leckerl-von Lützow, dem im
Jahre 1897 infolge der dabei gemachten Enthüllungen der Prozeß gegen den
Agenten der politischen Polizei, Kriminalkommissar von Tausch folgte, reinigte
allerdings die politische Atmosphäre, aber er verleidete auch durch seine
Konsequenzen dem Staatssekretär die Weiterführung seines Amts. Auch hatten
ihn die Aufregungen dieses schlimmen Jahres körperlich schwer angegriffen.
So schied er nach einem längeren Urlaub, während dessen sein Nachfolger,
Botschafter von Bülow, die Geschäfte führte, von seinem Posten, und damit
wurde seine Kraft für das Amt frei, auf dem er seine höchsten Triumphe
gefeiert hat. Er wurde im Herbst 1897 Botschafter in Konstantinopel.

Worauf beruhten nun die bekannten Erfolge, die Marschall in fast fünf¬
zehnjähriger Tätigkeit an: goldenen Horn erreicht hat? Worauf die eigenartige


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/19>, abgerufen am 20.05.2024.