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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Agrare Reformen in Rußland

einen Pachtzins, Naturalleistungen oder dergleichen zu prüstieren hatten. Aber
diese einstweilige Abhängigkeit, diese "zeitweilige Verpflichtung", sollte nur ein
Ubergangszustand sein, der sobald wie möglich in die vollständige Unabhängigkeit
hinüberleiten sollte. Zu diesem Zweck sah das Gesetz die entgeltliche Ablösung
des Bauernlandes vor; war sie perfekt geworden, d. h. das Bauernland aus¬
gekauft, so wurden die Bauern endgültig frei, so gelangten sie in den Stand
der freien Ackerbauern. Da naturgemäß weder der einzelne Bauer, noch die
Gemeinde, noch etwa die Bauernschaft als Ganzes in der Lage war, die un¬
geheuren Summen, die die Ablösung erforderte, aufzubringen, so sah sich der
Staat veranlaßt, einzugreifen. Er übernahm einstweilen die Schuld der Bauern¬
schaft, indem er zinstragende Papiere, sogenannte Loskaufsscheine, ausgab, die
den Gutsbesitzern als Gegenwert für das abzulösende Land übermittelt wurden,
während der Bauernschaft die Verpflichtung auferlegt wurde, die gesamte Los¬
kaufsschuld nebst Zinsen in dem Zeitraum von neunundvierzig Jahren zu tilgen.
Auf dieser Grundlage ist die Landablösung in der Folge dank der Unterstützung
des Staates einerseits, dank der erheblichen Verschuldung der Gutsbesitzerschaft
anderseits verhältnismäßig rasch vor sich gegangen.

Das Werk der Bauernbefreiung griff so unmittelbar und so tief in die
Lebensverhältnisse der russischen Bauernschaft ein, daß es verständlich ist, wenn
man versuchte, so weit wie möglich an bewährte überkommene Einrichtungen
anzuknüpfen und den Umfang der Neuerungen nicht weiter auszudehnen als
der Zweck des Emanzipationswerkes erforderte. Zu diesen anscheinend
bewährten, überkommenen Institutionen gehörte der "Mir", eine seit Jahr¬
hunderten bestehende Institution des russischen Rechts. "Mir" bedeutet im
russischen "Welt" und in der Tat war -- bzw. soweit er noch besteht: ist --
der Mir die Welt, in der der russische Bauer lebt. Unter "Mir" versteht
man ein dreifaches: 1. ein Organ des öffentlichen Rechts, ein Verwaltungs¬
organ; 2. die Versammlung der Wirtschaftshäupter einer Gemeinde; 3. die
Gemeinde als Eigentümerin des gesamten ihr übertragenen Bauernlandes, die
Feldgemeinschaft. An diese alte Rechtsinstitution des Mir knüpfte das
Befreiungsedikt dergestalt an, daß es den Bauern aus der gutsherrlichen
Abhängigkeit befreite und ihn dem rechtlichen und wirtschaftlichen Zwange des
Mir unterwarf. Der Mir als Verwaltungsorgan bietet hier kein Interesse;")
nur zur Illustration sei bemerkt, daß der Mir dem Bauern die Erlaubnis zum
Verlassen seines Dorfes erteilen mußte, daß er ihm den Paß auszustellen hatte,
daß er eine beschränkte niedere Gerichtsbarkeit über die Gemeindemitglieder
ausübte u. tgi. in. Hier interessiert der Mir in seiner Eigenschaft als Besitzer
des Gemeindelandes, als Feldgemeinschaft. Von den rund 110 Millionen
Dessjätinen**) Land, die durch das Freilassungsmanifest von 1861 in den




*) Diese Auffassung meines verehrten Mitarbeiters vermag ich nicht zu teilen und bitte
den Leser von meinem Nachwort freundlichst Kenntnis nehmen zu wollen.
Eine DeMtine ist ungefähr gleich 1 da (1 da 6 s).
Agrare Reformen in Rußland

einen Pachtzins, Naturalleistungen oder dergleichen zu prüstieren hatten. Aber
diese einstweilige Abhängigkeit, diese „zeitweilige Verpflichtung", sollte nur ein
Ubergangszustand sein, der sobald wie möglich in die vollständige Unabhängigkeit
hinüberleiten sollte. Zu diesem Zweck sah das Gesetz die entgeltliche Ablösung
des Bauernlandes vor; war sie perfekt geworden, d. h. das Bauernland aus¬
gekauft, so wurden die Bauern endgültig frei, so gelangten sie in den Stand
der freien Ackerbauern. Da naturgemäß weder der einzelne Bauer, noch die
Gemeinde, noch etwa die Bauernschaft als Ganzes in der Lage war, die un¬
geheuren Summen, die die Ablösung erforderte, aufzubringen, so sah sich der
Staat veranlaßt, einzugreifen. Er übernahm einstweilen die Schuld der Bauern¬
schaft, indem er zinstragende Papiere, sogenannte Loskaufsscheine, ausgab, die
den Gutsbesitzern als Gegenwert für das abzulösende Land übermittelt wurden,
während der Bauernschaft die Verpflichtung auferlegt wurde, die gesamte Los¬
kaufsschuld nebst Zinsen in dem Zeitraum von neunundvierzig Jahren zu tilgen.
Auf dieser Grundlage ist die Landablösung in der Folge dank der Unterstützung
des Staates einerseits, dank der erheblichen Verschuldung der Gutsbesitzerschaft
anderseits verhältnismäßig rasch vor sich gegangen.

Das Werk der Bauernbefreiung griff so unmittelbar und so tief in die
Lebensverhältnisse der russischen Bauernschaft ein, daß es verständlich ist, wenn
man versuchte, so weit wie möglich an bewährte überkommene Einrichtungen
anzuknüpfen und den Umfang der Neuerungen nicht weiter auszudehnen als
der Zweck des Emanzipationswerkes erforderte. Zu diesen anscheinend
bewährten, überkommenen Institutionen gehörte der „Mir", eine seit Jahr¬
hunderten bestehende Institution des russischen Rechts. „Mir" bedeutet im
russischen „Welt" und in der Tat war — bzw. soweit er noch besteht: ist —
der Mir die Welt, in der der russische Bauer lebt. Unter „Mir" versteht
man ein dreifaches: 1. ein Organ des öffentlichen Rechts, ein Verwaltungs¬
organ; 2. die Versammlung der Wirtschaftshäupter einer Gemeinde; 3. die
Gemeinde als Eigentümerin des gesamten ihr übertragenen Bauernlandes, die
Feldgemeinschaft. An diese alte Rechtsinstitution des Mir knüpfte das
Befreiungsedikt dergestalt an, daß es den Bauern aus der gutsherrlichen
Abhängigkeit befreite und ihn dem rechtlichen und wirtschaftlichen Zwange des
Mir unterwarf. Der Mir als Verwaltungsorgan bietet hier kein Interesse;")
nur zur Illustration sei bemerkt, daß der Mir dem Bauern die Erlaubnis zum
Verlassen seines Dorfes erteilen mußte, daß er ihm den Paß auszustellen hatte,
daß er eine beschränkte niedere Gerichtsbarkeit über die Gemeindemitglieder
ausübte u. tgi. in. Hier interessiert der Mir in seiner Eigenschaft als Besitzer
des Gemeindelandes, als Feldgemeinschaft. Von den rund 110 Millionen
Dessjätinen**) Land, die durch das Freilassungsmanifest von 1861 in den




*) Diese Auffassung meines verehrten Mitarbeiters vermag ich nicht zu teilen und bitte
den Leser von meinem Nachwort freundlichst Kenntnis nehmen zu wollen.
Eine DeMtine ist ungefähr gleich 1 da (1 da 6 s).
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[0023] Agrare Reformen in Rußland einen Pachtzins, Naturalleistungen oder dergleichen zu prüstieren hatten. Aber diese einstweilige Abhängigkeit, diese „zeitweilige Verpflichtung", sollte nur ein Ubergangszustand sein, der sobald wie möglich in die vollständige Unabhängigkeit hinüberleiten sollte. Zu diesem Zweck sah das Gesetz die entgeltliche Ablösung des Bauernlandes vor; war sie perfekt geworden, d. h. das Bauernland aus¬ gekauft, so wurden die Bauern endgültig frei, so gelangten sie in den Stand der freien Ackerbauern. Da naturgemäß weder der einzelne Bauer, noch die Gemeinde, noch etwa die Bauernschaft als Ganzes in der Lage war, die un¬ geheuren Summen, die die Ablösung erforderte, aufzubringen, so sah sich der Staat veranlaßt, einzugreifen. Er übernahm einstweilen die Schuld der Bauern¬ schaft, indem er zinstragende Papiere, sogenannte Loskaufsscheine, ausgab, die den Gutsbesitzern als Gegenwert für das abzulösende Land übermittelt wurden, während der Bauernschaft die Verpflichtung auferlegt wurde, die gesamte Los¬ kaufsschuld nebst Zinsen in dem Zeitraum von neunundvierzig Jahren zu tilgen. Auf dieser Grundlage ist die Landablösung in der Folge dank der Unterstützung des Staates einerseits, dank der erheblichen Verschuldung der Gutsbesitzerschaft anderseits verhältnismäßig rasch vor sich gegangen. Das Werk der Bauernbefreiung griff so unmittelbar und so tief in die Lebensverhältnisse der russischen Bauernschaft ein, daß es verständlich ist, wenn man versuchte, so weit wie möglich an bewährte überkommene Einrichtungen anzuknüpfen und den Umfang der Neuerungen nicht weiter auszudehnen als der Zweck des Emanzipationswerkes erforderte. Zu diesen anscheinend bewährten, überkommenen Institutionen gehörte der „Mir", eine seit Jahr¬ hunderten bestehende Institution des russischen Rechts. „Mir" bedeutet im russischen „Welt" und in der Tat war — bzw. soweit er noch besteht: ist — der Mir die Welt, in der der russische Bauer lebt. Unter „Mir" versteht man ein dreifaches: 1. ein Organ des öffentlichen Rechts, ein Verwaltungs¬ organ; 2. die Versammlung der Wirtschaftshäupter einer Gemeinde; 3. die Gemeinde als Eigentümerin des gesamten ihr übertragenen Bauernlandes, die Feldgemeinschaft. An diese alte Rechtsinstitution des Mir knüpfte das Befreiungsedikt dergestalt an, daß es den Bauern aus der gutsherrlichen Abhängigkeit befreite und ihn dem rechtlichen und wirtschaftlichen Zwange des Mir unterwarf. Der Mir als Verwaltungsorgan bietet hier kein Interesse;") nur zur Illustration sei bemerkt, daß der Mir dem Bauern die Erlaubnis zum Verlassen seines Dorfes erteilen mußte, daß er ihm den Paß auszustellen hatte, daß er eine beschränkte niedere Gerichtsbarkeit über die Gemeindemitglieder ausübte u. tgi. in. Hier interessiert der Mir in seiner Eigenschaft als Besitzer des Gemeindelandes, als Feldgemeinschaft. Von den rund 110 Millionen Dessjätinen**) Land, die durch das Freilassungsmanifest von 1861 in den *) Diese Auffassung meines verehrten Mitarbeiters vermag ich nicht zu teilen und bitte den Leser von meinem Nachwort freundlichst Kenntnis nehmen zu wollen. Eine DeMtine ist ungefähr gleich 1 da (1 da 6 s).

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/23>, abgerufen am 20.05.2024.