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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Agraro Reformen in Rußland

den Zweck, den Bauern durch die Verpfändung Geld in die Hand zu geben
und sie dadurch in den Stand zu setzen, Land zu kaufen.

5. Man suchte die Übersiedelung von Bauern nach Sibirien auszugestalten,
um die vielfach äußerst volkreichen Gemeinden im europäischen Rußland zu ent¬
völkern und auf diesem Wege Land frei zu machen.

So beachtenswert alle diese Maßnahmen auch waren, die wichtigsten Ur¬
sachen der schlechten Lage des Bauernstandes, die Feldgemeinschaft und die
Gemenglage der Landanteile, berührten sie nicht. Um in dieser Richtung grund¬
legende Reformen durchzuführen, mußte zunächst, wenn auch einstweilen nur im
kleinen Kreise einflußreicher und sachverständiger Personen, der fast in ganz
Rußland herrschende Glaube an die Unübertrefflichkeit des Mir erschüttert und
überwunden werden. Daß eine solche Wandlung in den Anschauungen über
eine durch eine jahrhundertealte Überlieferung geheiligte Institution nur
allmählich um sich greifen konnte, ist verständlich. Anderseits konnte aber die
gewonnene Erkenntnis: der Mir ist die Wurzel alles Übels, in Anbetracht der
trostlosen Lage der Bauernschaft, nicht wieder untergehen, und die Forderung
der Abschaffung der Feldgemeinschaft und des Übergangs zum Sonderbesitz mußte
um Anhänger werben. Schon eine im Jahre 1902 eingesetzte, weitschichtig
organisierte Konferenz, die die Bedürfnisse der Bauern und ihre Lage unter¬
suchen sollte, hatte erkennen lassen, daß die Meinungen über den Mir nicht
mehr ungeteilt waren und daß auch bereits, namentlich unter den vor¬
geschritteneren Landwirten Westrußlands, Stimmen laut wurden, die die Be¬
seitigung der Gemenglage forderten. Wenn die Regierung sich trotzdem mit
ihren ersten Maßnahmen der Forderung, den Bauern mehr Land zu schaffen,
anschloß, so nahm sie damit auf die allgemeine öffentliche Meinung, insbesondere
auch auf die in den Kreisen der aufständischen Bauern herrschenden Ansichten
kluge Rücksicht. Im Schoße der Negierung selbst aber war man wohl schon
damals überzeugt, daß mit diesen ersten Maßnahmen die Reformen nicht beendet
sein, sondern erst begonnen haben konnten, daß der nächste Schritt die Zer¬
trümmerung des Mir und die Beseitigung der Gemenglage sein mußte. Die
treibende Kraft innerhalb der Regierung wurde der im März 1906 auf den
Posten eines Ministers des Innern berufene spätere russische Ministerpräsident
P. A. Stolypin, ein Mann, fähig und entschlossen, seine Reformpläne durch¬
zuführen. (Vgl. über ihn den Aufsatz des Herausgebers der Grenzboten: Stolypin
und Rußland, Jahrgang 1911, Ur. 39. S. 581.)

In der Zeit zwischen der Auflösung der ersten, oppositionellen Duma und
dem Zusammentritt der zweiten, ebenso oppositionellen Duma war es, als
Stolypin seine Gedanken in die Tat umzusetzen begann. Ein Paragraph der
russischen Verfassung (Z 87) gibt der Regierung das Recht, in varlamentslosen
Zeiten in dringenden Notfällen gesetzgeberische Aktionen im Wege kaiserlicher
Manifeste vorzunehmen unter der Bedingung, daß sie nach Zusammentritt der
Kammern innerhalb einer gewissen Frist deren Sanktion einholt. Auf diesen


Agraro Reformen in Rußland

den Zweck, den Bauern durch die Verpfändung Geld in die Hand zu geben
und sie dadurch in den Stand zu setzen, Land zu kaufen.

5. Man suchte die Übersiedelung von Bauern nach Sibirien auszugestalten,
um die vielfach äußerst volkreichen Gemeinden im europäischen Rußland zu ent¬
völkern und auf diesem Wege Land frei zu machen.

So beachtenswert alle diese Maßnahmen auch waren, die wichtigsten Ur¬
sachen der schlechten Lage des Bauernstandes, die Feldgemeinschaft und die
Gemenglage der Landanteile, berührten sie nicht. Um in dieser Richtung grund¬
legende Reformen durchzuführen, mußte zunächst, wenn auch einstweilen nur im
kleinen Kreise einflußreicher und sachverständiger Personen, der fast in ganz
Rußland herrschende Glaube an die Unübertrefflichkeit des Mir erschüttert und
überwunden werden. Daß eine solche Wandlung in den Anschauungen über
eine durch eine jahrhundertealte Überlieferung geheiligte Institution nur
allmählich um sich greifen konnte, ist verständlich. Anderseits konnte aber die
gewonnene Erkenntnis: der Mir ist die Wurzel alles Übels, in Anbetracht der
trostlosen Lage der Bauernschaft, nicht wieder untergehen, und die Forderung
der Abschaffung der Feldgemeinschaft und des Übergangs zum Sonderbesitz mußte
um Anhänger werben. Schon eine im Jahre 1902 eingesetzte, weitschichtig
organisierte Konferenz, die die Bedürfnisse der Bauern und ihre Lage unter¬
suchen sollte, hatte erkennen lassen, daß die Meinungen über den Mir nicht
mehr ungeteilt waren und daß auch bereits, namentlich unter den vor¬
geschritteneren Landwirten Westrußlands, Stimmen laut wurden, die die Be¬
seitigung der Gemenglage forderten. Wenn die Regierung sich trotzdem mit
ihren ersten Maßnahmen der Forderung, den Bauern mehr Land zu schaffen,
anschloß, so nahm sie damit auf die allgemeine öffentliche Meinung, insbesondere
auch auf die in den Kreisen der aufständischen Bauern herrschenden Ansichten
kluge Rücksicht. Im Schoße der Negierung selbst aber war man wohl schon
damals überzeugt, daß mit diesen ersten Maßnahmen die Reformen nicht beendet
sein, sondern erst begonnen haben konnten, daß der nächste Schritt die Zer¬
trümmerung des Mir und die Beseitigung der Gemenglage sein mußte. Die
treibende Kraft innerhalb der Regierung wurde der im März 1906 auf den
Posten eines Ministers des Innern berufene spätere russische Ministerpräsident
P. A. Stolypin, ein Mann, fähig und entschlossen, seine Reformpläne durch¬
zuführen. (Vgl. über ihn den Aufsatz des Herausgebers der Grenzboten: Stolypin
und Rußland, Jahrgang 1911, Ur. 39. S. 581.)

In der Zeit zwischen der Auflösung der ersten, oppositionellen Duma und
dem Zusammentritt der zweiten, ebenso oppositionellen Duma war es, als
Stolypin seine Gedanken in die Tat umzusetzen begann. Ein Paragraph der
russischen Verfassung (Z 87) gibt der Regierung das Recht, in varlamentslosen
Zeiten in dringenden Notfällen gesetzgeberische Aktionen im Wege kaiserlicher
Manifeste vorzunehmen unter der Bedingung, daß sie nach Zusammentritt der
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/28>, abgerufen am 31.05.2024.