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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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unterbrochene Fensterreihe, die das obere
Viertel der Außenwand einnimmt und an die
Bedachung aus Wellblech stößt, ist nicht gläsern,
sondern aus dem unzerbrechlichen und un-
verorennbaren Sicoid, einem Zelluloidprodukt,

Nicht die Halle allein, auch der Geist
dieser Ausstellung ist neu. Er ist gekenn¬
zeichnet von der unerschrockenen Empirie und
Versuchsfreudigkeit, die dem eidgenössischen Ge¬
meinwesen so Wohl ansteht. Es liegt darin
ein herzerhebendes Selbst- und Gottvertrauen.

Seit dem 16. September ist die Aus¬
stellung eröffnet und jetzt noch, wie belagert.
Der Place du Port, wo die Halle steht, ist
ein Marktplatz. Ringsherum Karussels, Schie߬
buden, Panorama, Menagerie mit Kind und
Kegel, mit grün, gelb, blau schreiend ge¬
tünchten Wagen und der bekannten Dar¬
stellungsbarbarei der Jahrmarksbuden: die
zusammengewachsenen Schwestern, der In¬
dianer, blutige Familiendramen u. a. in.
Mitten in dieser wüsten Unechtheit, verlogenen
Gottverlassenheit die schlichte Halle, in ihrer
edlen Zweckmäßigkeit, mit der Front einer
herbstschimmernden Ahornallee zugewendet.
Eintrittsgeld -- 60 Centimes, nicht mehr als
zur Jungfrau ohne Unterleib, und Bauern,
Viehhändler, Weinbergbesitzer, Gewerbler,
Arbeiter, Kinder, Buben, Mädchen, Intel¬
lektuelle, mit einem Wort, alles, was auf den
Beinen ist und müßig, steht vor den zwei¬
undzwanzig Bildern Max Buris, dem Löwen
der Ausstellung, vor Hodler, Amiet, Welti,
Hermanjat und den anderen Schöpfern schwei¬
zerischer Kunst. Die tüchtigen Vertreter reihen
sich um sie, es folgen die kühnen Sucher, die
der Zukunft angehören, die braven, erfreu¬
lichen Maler, deren Bilder "jeder Wohnung
zur Zierde gereichen", schließlich recht zahl¬
reich die ganze Mannschaft (und Weibschaft)
des mehr oder weniger Unbedeutenden.


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diesen Versuch stolz sein und der Versuch als
durchaus gelungen bezeichnet werden. Ge¬
lungen nicht allein, weil Bilder im Werte
von 160000 Franken verkauft wurden --
NeucMel zählt 22000 Einwohnerl --, nicht
bloß, weil künstlerischer Genuß, Bekanntschaft
und Befreundung mit der nationalen Kunst
einer bisher unerreichten Breite der Bevölke¬
rung zugeflossen, sondern hauptsächlich, weil
erst die Wanderhalle, die bald hier, bald dort
in kleinen Provinzstädten die gesamte Gegen¬
wartsleistung der nationalen Künstlerschaft
vereinigt, die Kunst zu einem Lebenswert der
gesamten Nation machen wird. Die Leute
wogen durch die Säle und sind zumeist bei
den Größten entrüstet. Vor Hodlers Porträts
hört man Ausrufe: "e'ost iZnobls", vor
AmietS "Obsternte" lachen junge Leute laut,
und vor einiger Zeit stach einer mit dem
Messer in ein Hodlerbild. Dergleichen ist
natürlich schmerzlich im ersten Augenblick.
Aber was beweist das schließlich? Daß die
Wirkung gewaltig war. Der Messerheld, der
auf das Hodlerbild losging, ist für die Kunst
lange nicht so verloren, wie manches Dämchen
cmsBerlin>V.,das mitKennermiene dieLorgnette
vor van Gogh aufsetzt. Denn Hodler zu er¬
leben, heißt eine Unterwerfung erdulden, eine
Geistesgewalt über sich Herr werden lassen.
Wer bleibt da gutwillig? Gegen Unterjochung
wehrt sich jeder Aufrechte -- der eine mit
dem Messer, der andere mit dem Wort --,
auch Petrus griff einst zum Schwerte. Nein,
auf den Messer-Löst") setze ich große Hoff¬
nung, er wird nicht der erste Saulus sein,
aus dem ein Paulus geworden. Und ge¬
fallen die Mittelmäßigen dein lauten, erregten
und nichtkaufenden Teil des Publikums am
besten, so bedenken wir, daß der Schritt von
den zusammengewachsenen Frauen und dem
grünbemalten Skalpjägcr zur Abend-, oder
Morgen- oder Herbst- oder Frühlingsland¬
schaft des -- aber wozu einen Namen nennen?
wir kennen ja den Begriff -- des Kunst¬
malers X. U. Z. bedeutend schwieriger ist, als
von diesem zu Hodler. Unmerklich vollziehen
sich die größten Wandlungen: drin in der
Halle empört man sich über Hodler, lacht
Amiet aus, steht gerührt vor X. U. Z. Doch

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Straße hineinzustellen. Der Bund darf auf



*) Löst Lümmel.
Maßgebliches und Unmaßgebliches

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unterbrochene Fensterreihe, die das obere
Viertel der Außenwand einnimmt und an die
Bedachung aus Wellblech stößt, ist nicht gläsern,
sondern aus dem unzerbrechlichen und un-
verorennbaren Sicoid, einem Zelluloidprodukt,

Nicht die Halle allein, auch der Geist
dieser Ausstellung ist neu. Er ist gekenn¬
zeichnet von der unerschrockenen Empirie und
Versuchsfreudigkeit, die dem eidgenössischen Ge¬
meinwesen so Wohl ansteht. Es liegt darin
ein herzerhebendes Selbst- und Gottvertrauen.

Seit dem 16. September ist die Aus¬
stellung eröffnet und jetzt noch, wie belagert.
Der Place du Port, wo die Halle steht, ist
ein Marktplatz. Ringsherum Karussels, Schie߬
buden, Panorama, Menagerie mit Kind und
Kegel, mit grün, gelb, blau schreiend ge¬
tünchten Wagen und der bekannten Dar¬
stellungsbarbarei der Jahrmarksbuden: die
zusammengewachsenen Schwestern, der In¬
dianer, blutige Familiendramen u. a. in.
Mitten in dieser wüsten Unechtheit, verlogenen
Gottverlassenheit die schlichte Halle, in ihrer
edlen Zweckmäßigkeit, mit der Front einer
herbstschimmernden Ahornallee zugewendet.
Eintrittsgeld — 60 Centimes, nicht mehr als
zur Jungfrau ohne Unterleib, und Bauern,
Viehhändler, Weinbergbesitzer, Gewerbler,
Arbeiter, Kinder, Buben, Mädchen, Intel¬
lektuelle, mit einem Wort, alles, was auf den
Beinen ist und müßig, steht vor den zwei¬
undzwanzig Bildern Max Buris, dem Löwen
der Ausstellung, vor Hodler, Amiet, Welti,
Hermanjat und den anderen Schöpfern schwei¬
zerischer Kunst. Die tüchtigen Vertreter reihen
sich um sie, es folgen die kühnen Sucher, die
der Zukunft angehören, die braven, erfreu¬
lichen Maler, deren Bilder „jeder Wohnung
zur Zierde gereichen", schließlich recht zahl¬
reich die ganze Mannschaft (und Weibschaft)
des mehr oder weniger Unbedeutenden.


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diesen Versuch stolz sein und der Versuch als
durchaus gelungen bezeichnet werden. Ge¬
lungen nicht allein, weil Bilder im Werte
von 160000 Franken verkauft wurden —
NeucMel zählt 22000 Einwohnerl —, nicht
bloß, weil künstlerischer Genuß, Bekanntschaft
und Befreundung mit der nationalen Kunst
einer bisher unerreichten Breite der Bevölke¬
rung zugeflossen, sondern hauptsächlich, weil
erst die Wanderhalle, die bald hier, bald dort
in kleinen Provinzstädten die gesamte Gegen¬
wartsleistung der nationalen Künstlerschaft
vereinigt, die Kunst zu einem Lebenswert der
gesamten Nation machen wird. Die Leute
wogen durch die Säle und sind zumeist bei
den Größten entrüstet. Vor Hodlers Porträts
hört man Ausrufe: „e'ost iZnobls", vor
AmietS „Obsternte" lachen junge Leute laut,
und vor einiger Zeit stach einer mit dem
Messer in ein Hodlerbild. Dergleichen ist
natürlich schmerzlich im ersten Augenblick.
Aber was beweist das schließlich? Daß die
Wirkung gewaltig war. Der Messerheld, der
auf das Hodlerbild losging, ist für die Kunst
lange nicht so verloren, wie manches Dämchen
cmsBerlin>V.,das mitKennermiene dieLorgnette
vor van Gogh aufsetzt. Denn Hodler zu er¬
leben, heißt eine Unterwerfung erdulden, eine
Geistesgewalt über sich Herr werden lassen.
Wer bleibt da gutwillig? Gegen Unterjochung
wehrt sich jeder Aufrechte — der eine mit
dem Messer, der andere mit dem Wort —,
auch Petrus griff einst zum Schwerte. Nein,
auf den Messer-Löst") setze ich große Hoff¬
nung, er wird nicht der erste Saulus sein,
aus dem ein Paulus geworden. Und ge¬
fallen die Mittelmäßigen dein lauten, erregten
und nichtkaufenden Teil des Publikums am
besten, so bedenken wir, daß der Schritt von
den zusammengewachsenen Frauen und dem
grünbemalten Skalpjägcr zur Abend-, oder
Morgen- oder Herbst- oder Frühlingsland¬
schaft des — aber wozu einen Namen nennen?
wir kennen ja den Begriff — des Kunst¬
malers X. U. Z. bedeutend schwieriger ist, als
von diesem zu Hodler. Unmerklich vollziehen
sich die größten Wandlungen: drin in der
Halle empört man sich über Hodler, lacht
Amiet aus, steht gerührt vor X. U. Z. Doch

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Straße hineinzustellen. Der Bund darf auf



*) Löst Lümmel.
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[0289] Maßgebliches und Unmaßgebliches unterbrochene Fensterreihe, die das obere Viertel der Außenwand einnimmt und an die Bedachung aus Wellblech stößt, ist nicht gläsern, sondern aus dem unzerbrechlichen und un- verorennbaren Sicoid, einem Zelluloidprodukt, Nicht die Halle allein, auch der Geist dieser Ausstellung ist neu. Er ist gekenn¬ zeichnet von der unerschrockenen Empirie und Versuchsfreudigkeit, die dem eidgenössischen Ge¬ meinwesen so Wohl ansteht. Es liegt darin ein herzerhebendes Selbst- und Gottvertrauen. Seit dem 16. September ist die Aus¬ stellung eröffnet und jetzt noch, wie belagert. Der Place du Port, wo die Halle steht, ist ein Marktplatz. Ringsherum Karussels, Schie߬ buden, Panorama, Menagerie mit Kind und Kegel, mit grün, gelb, blau schreiend ge¬ tünchten Wagen und der bekannten Dar¬ stellungsbarbarei der Jahrmarksbuden: die zusammengewachsenen Schwestern, der In¬ dianer, blutige Familiendramen u. a. in. Mitten in dieser wüsten Unechtheit, verlogenen Gottverlassenheit die schlichte Halle, in ihrer edlen Zweckmäßigkeit, mit der Front einer herbstschimmernden Ahornallee zugewendet. Eintrittsgeld — 60 Centimes, nicht mehr als zur Jungfrau ohne Unterleib, und Bauern, Viehhändler, Weinbergbesitzer, Gewerbler, Arbeiter, Kinder, Buben, Mädchen, Intel¬ lektuelle, mit einem Wort, alles, was auf den Beinen ist und müßig, steht vor den zwei¬ undzwanzig Bildern Max Buris, dem Löwen der Ausstellung, vor Hodler, Amiet, Welti, Hermanjat und den anderen Schöpfern schwei¬ zerischer Kunst. Die tüchtigen Vertreter reihen sich um sie, es folgen die kühnen Sucher, die der Zukunft angehören, die braven, erfreu¬ lichen Maler, deren Bilder „jeder Wohnung zur Zierde gereichen", schließlich recht zahl¬ reich die ganze Mannschaft (und Weibschaft) des mehr oder weniger Unbedeutenden. diesen Versuch stolz sein und der Versuch als durchaus gelungen bezeichnet werden. Ge¬ lungen nicht allein, weil Bilder im Werte von 160000 Franken verkauft wurden — NeucMel zählt 22000 Einwohnerl —, nicht bloß, weil künstlerischer Genuß, Bekanntschaft und Befreundung mit der nationalen Kunst einer bisher unerreichten Breite der Bevölke¬ rung zugeflossen, sondern hauptsächlich, weil erst die Wanderhalle, die bald hier, bald dort in kleinen Provinzstädten die gesamte Gegen¬ wartsleistung der nationalen Künstlerschaft vereinigt, die Kunst zu einem Lebenswert der gesamten Nation machen wird. Die Leute wogen durch die Säle und sind zumeist bei den Größten entrüstet. Vor Hodlers Porträts hört man Ausrufe: „e'ost iZnobls", vor AmietS „Obsternte" lachen junge Leute laut, und vor einiger Zeit stach einer mit dem Messer in ein Hodlerbild. Dergleichen ist natürlich schmerzlich im ersten Augenblick. Aber was beweist das schließlich? Daß die Wirkung gewaltig war. Der Messerheld, der auf das Hodlerbild losging, ist für die Kunst lange nicht so verloren, wie manches Dämchen cmsBerlin>V.,das mitKennermiene dieLorgnette vor van Gogh aufsetzt. Denn Hodler zu er¬ leben, heißt eine Unterwerfung erdulden, eine Geistesgewalt über sich Herr werden lassen. Wer bleibt da gutwillig? Gegen Unterjochung wehrt sich jeder Aufrechte — der eine mit dem Messer, der andere mit dem Wort —, auch Petrus griff einst zum Schwerte. Nein, auf den Messer-Löst") setze ich große Hoff¬ nung, er wird nicht der erste Saulus sein, aus dem ein Paulus geworden. Und ge¬ fallen die Mittelmäßigen dein lauten, erregten und nichtkaufenden Teil des Publikums am besten, so bedenken wir, daß der Schritt von den zusammengewachsenen Frauen und dem grünbemalten Skalpjägcr zur Abend-, oder Morgen- oder Herbst- oder Frühlingsland¬ schaft des — aber wozu einen Namen nennen? wir kennen ja den Begriff — des Kunst¬ malers X. U. Z. bedeutend schwieriger ist, als von diesem zu Hodler. Unmerklich vollziehen sich die größten Wandlungen: drin in der Halle empört man sich über Hodler, lacht Amiet aus, steht gerührt vor X. U. Z. Doch hfpf ggn i Barbarei der Straße hineinzustellen. Der Bund darf auf *) Löst Lümmel.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/289>, abgerufen am 19.05.2024.