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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Agrare Reformen in Rußland

bei uns hat, sondern entschloß sich lieber, den radikalen Schnitt zu machen,
indem man das Kind mit dem Bade ausschüttete und den Mir als solchen
preisgab. Damit ist Rußland in seiner Wirtschaftsverfassung auf den Weg der
Entwicklung gedrängt, wie ihn Westeuropa genommen hat, ohne jedoch die ent¬
sprechende Vorentwicklung durchgemacht zu haben. Das belastet die Entwicklung
mit einem wichtigen Gefahrenmoment: Rußland hat nicht nur ein Zentrum,
wie etwa Frankreich Paris vor der großen Revolution als Sammelbecken des
Proletariats und politischer Machtfaktoren hatte, sondern ein Dutzend. Die
politische Schwäche Rußlands und somit auch die Auffassung vom Koloß auf
tönernen Füßen ist darum durchaus nicht beseitigt.

Durchaus zutreffend ist indessen, wenn Herr Linde meint, das Kapital habe
durch die Reform in der Landwirtschaft einen neuen Stimulus gefunden, sowie,
daß die tüchtigen Bauern, von denen schon Schultze-Gaevernitz spricht, heute den
Acker noch leichter an sich reißen können wie früher, was zur Folge haben wird,
daß sich in Rußland ein reich mit Land ausgestatteter Großbauernstand bilden
kann. Diesem Großbauernstand muß aber nach und nach die Unterschicht ver¬
loren gehen, weil in der russischen Landwirtschaft sich entweder nur der Riesen¬
betrieb, von schnell auftreibbaren Arbeiterhänden bewirtschaftet, halten kann oder
eine genossenschaftlich betriebene Organisation von Kleinbauern. Also möchte ich
folgern: die Agrarreform hat vorläufig Kräfte entfesselt, befreit, die der Ent¬
wicklung des Handels zweifellos in den nächsten Jahren zugute kommen müssen
und zwar um so mehr, je mehr die russische Regierung es sich angelegen sein
läßt, die neuerschlossenen Gebiete durch Verbesserung der Verkehrswege an die
großen Märkte anzuschließen und sofern, und das ist die conäitiv sine qua non,
immer gutes Erntewetter eintritt. Südrußland zum Beispiel hängt fast ausschließlich
von den Witterungsverhältnissen ab, die Bodenbearbeitung hat einen ganz
minimalen Einfluß auf die Güte der Ernte und tritt nur dann in ihre Rechte,
wenn die Witterungsverhältnisse es gestatten.

Auf diese Darlegungen antwortet Herr Dr. Linde mit einer ausführlicheren
Begründung seiner Auffassung, die hier folgen möge:

". . . Sie schreiben, meine Auffassung vom Mir sei die der russischen offi¬
ziellen Kreise. Das stimmt zwar, aber es ist auch die communis opinio der
Wissenschaft. Nach eigenem Durchdenken der Verhältnisse habe ich mich dieser
Ansicht anschließen müssen, da nach meiner festen Überzeugung eine sozialistische
oder kommunistische Organisationsform, wie die des Mir, nicht anders als fort¬
schritthemmend und sogar rückschrittlich wirken kann. Eine soweitgehende wirt¬
schaftliche Gebundenheit mußte notwendig zum Zusammenbruch sühren. Ich
gebe ohne weiteres zu, daß das russische Polizeisystem einen Teil -- vielleicht
einen großen Teil -- der Schuld an der schließlichen Gestaltung der Ver¬
hältnisse trägt, doch das Prius scheint mir in dem Dinge an sich, im Mir, zu
liegen. Für mich sind die meines Erachtens in erster Linie durch den Mir
herbeigeführten Zustände ein charakteristisches Beispiel dafür, daß letzten Endes


Agrare Reformen in Rußland

bei uns hat, sondern entschloß sich lieber, den radikalen Schnitt zu machen,
indem man das Kind mit dem Bade ausschüttete und den Mir als solchen
preisgab. Damit ist Rußland in seiner Wirtschaftsverfassung auf den Weg der
Entwicklung gedrängt, wie ihn Westeuropa genommen hat, ohne jedoch die ent¬
sprechende Vorentwicklung durchgemacht zu haben. Das belastet die Entwicklung
mit einem wichtigen Gefahrenmoment: Rußland hat nicht nur ein Zentrum,
wie etwa Frankreich Paris vor der großen Revolution als Sammelbecken des
Proletariats und politischer Machtfaktoren hatte, sondern ein Dutzend. Die
politische Schwäche Rußlands und somit auch die Auffassung vom Koloß auf
tönernen Füßen ist darum durchaus nicht beseitigt.

Durchaus zutreffend ist indessen, wenn Herr Linde meint, das Kapital habe
durch die Reform in der Landwirtschaft einen neuen Stimulus gefunden, sowie,
daß die tüchtigen Bauern, von denen schon Schultze-Gaevernitz spricht, heute den
Acker noch leichter an sich reißen können wie früher, was zur Folge haben wird,
daß sich in Rußland ein reich mit Land ausgestatteter Großbauernstand bilden
kann. Diesem Großbauernstand muß aber nach und nach die Unterschicht ver¬
loren gehen, weil in der russischen Landwirtschaft sich entweder nur der Riesen¬
betrieb, von schnell auftreibbaren Arbeiterhänden bewirtschaftet, halten kann oder
eine genossenschaftlich betriebene Organisation von Kleinbauern. Also möchte ich
folgern: die Agrarreform hat vorläufig Kräfte entfesselt, befreit, die der Ent¬
wicklung des Handels zweifellos in den nächsten Jahren zugute kommen müssen
und zwar um so mehr, je mehr die russische Regierung es sich angelegen sein
läßt, die neuerschlossenen Gebiete durch Verbesserung der Verkehrswege an die
großen Märkte anzuschließen und sofern, und das ist die conäitiv sine qua non,
immer gutes Erntewetter eintritt. Südrußland zum Beispiel hängt fast ausschließlich
von den Witterungsverhältnissen ab, die Bodenbearbeitung hat einen ganz
minimalen Einfluß auf die Güte der Ernte und tritt nur dann in ihre Rechte,
wenn die Witterungsverhältnisse es gestatten.

Auf diese Darlegungen antwortet Herr Dr. Linde mit einer ausführlicheren
Begründung seiner Auffassung, die hier folgen möge:

„. . . Sie schreiben, meine Auffassung vom Mir sei die der russischen offi¬
ziellen Kreise. Das stimmt zwar, aber es ist auch die communis opinio der
Wissenschaft. Nach eigenem Durchdenken der Verhältnisse habe ich mich dieser
Ansicht anschließen müssen, da nach meiner festen Überzeugung eine sozialistische
oder kommunistische Organisationsform, wie die des Mir, nicht anders als fort¬
schritthemmend und sogar rückschrittlich wirken kann. Eine soweitgehende wirt¬
schaftliche Gebundenheit mußte notwendig zum Zusammenbruch sühren. Ich
gebe ohne weiteres zu, daß das russische Polizeisystem einen Teil — vielleicht
einen großen Teil — der Schuld an der schließlichen Gestaltung der Ver¬
hältnisse trägt, doch das Prius scheint mir in dem Dinge an sich, im Mir, zu
liegen. Für mich sind die meines Erachtens in erster Linie durch den Mir
herbeigeführten Zustände ein charakteristisches Beispiel dafür, daß letzten Endes


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[0034] Agrare Reformen in Rußland bei uns hat, sondern entschloß sich lieber, den radikalen Schnitt zu machen, indem man das Kind mit dem Bade ausschüttete und den Mir als solchen preisgab. Damit ist Rußland in seiner Wirtschaftsverfassung auf den Weg der Entwicklung gedrängt, wie ihn Westeuropa genommen hat, ohne jedoch die ent¬ sprechende Vorentwicklung durchgemacht zu haben. Das belastet die Entwicklung mit einem wichtigen Gefahrenmoment: Rußland hat nicht nur ein Zentrum, wie etwa Frankreich Paris vor der großen Revolution als Sammelbecken des Proletariats und politischer Machtfaktoren hatte, sondern ein Dutzend. Die politische Schwäche Rußlands und somit auch die Auffassung vom Koloß auf tönernen Füßen ist darum durchaus nicht beseitigt. Durchaus zutreffend ist indessen, wenn Herr Linde meint, das Kapital habe durch die Reform in der Landwirtschaft einen neuen Stimulus gefunden, sowie, daß die tüchtigen Bauern, von denen schon Schultze-Gaevernitz spricht, heute den Acker noch leichter an sich reißen können wie früher, was zur Folge haben wird, daß sich in Rußland ein reich mit Land ausgestatteter Großbauernstand bilden kann. Diesem Großbauernstand muß aber nach und nach die Unterschicht ver¬ loren gehen, weil in der russischen Landwirtschaft sich entweder nur der Riesen¬ betrieb, von schnell auftreibbaren Arbeiterhänden bewirtschaftet, halten kann oder eine genossenschaftlich betriebene Organisation von Kleinbauern. Also möchte ich folgern: die Agrarreform hat vorläufig Kräfte entfesselt, befreit, die der Ent¬ wicklung des Handels zweifellos in den nächsten Jahren zugute kommen müssen und zwar um so mehr, je mehr die russische Regierung es sich angelegen sein läßt, die neuerschlossenen Gebiete durch Verbesserung der Verkehrswege an die großen Märkte anzuschließen und sofern, und das ist die conäitiv sine qua non, immer gutes Erntewetter eintritt. Südrußland zum Beispiel hängt fast ausschließlich von den Witterungsverhältnissen ab, die Bodenbearbeitung hat einen ganz minimalen Einfluß auf die Güte der Ernte und tritt nur dann in ihre Rechte, wenn die Witterungsverhältnisse es gestatten. Auf diese Darlegungen antwortet Herr Dr. Linde mit einer ausführlicheren Begründung seiner Auffassung, die hier folgen möge: „. . . Sie schreiben, meine Auffassung vom Mir sei die der russischen offi¬ ziellen Kreise. Das stimmt zwar, aber es ist auch die communis opinio der Wissenschaft. Nach eigenem Durchdenken der Verhältnisse habe ich mich dieser Ansicht anschließen müssen, da nach meiner festen Überzeugung eine sozialistische oder kommunistische Organisationsform, wie die des Mir, nicht anders als fort¬ schritthemmend und sogar rückschrittlich wirken kann. Eine soweitgehende wirt¬ schaftliche Gebundenheit mußte notwendig zum Zusammenbruch sühren. Ich gebe ohne weiteres zu, daß das russische Polizeisystem einen Teil — vielleicht einen großen Teil — der Schuld an der schließlichen Gestaltung der Ver¬ hältnisse trägt, doch das Prius scheint mir in dem Dinge an sich, im Mir, zu liegen. Für mich sind die meines Erachtens in erster Linie durch den Mir herbeigeführten Zustände ein charakteristisches Beispiel dafür, daß letzten Endes

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/34>, abgerufen am 20.05.2024.