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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Agrarc Reformen in Rußland

Kapital zu, das in der russischen Wirtschaft Anlage suchte, obwohl durch die
gemeinsame Bürgschaft eine Kreditfähigkeit gegeben war, wie sie in der Klein¬
industrie sonst nirgends in der Welt zu finden ist. So blieben denn auch
alle Versuche der Regierung, die Hausindustrie zu heben, die besonders lebhaft
um die Jahrhundertwende angestellt wurden, auf dem Papier oder Spielzeuge
für die Petersburger Hofgesellschaft.

Unter der Herrschaft des Finanzministers Witte erhielt der Mir wirtschaftlich
den Todesstoß durch die forzierte Industrialisierung Rußlands. Schon von 1870 ab
riß das Industriekapital die gewinnversprechende Produktion an sich, ohne an die
bestehenden Wirtschaftsorganisationen anknüpfen zu dürfen, weil die politische Polizei
das Einströmen nichtbäuerlicher Elemente in den Mir verhinderte. Der Mir wehrte
sich auf seine Art: bis heute hat die russische Industrie es noch nicht vermocht,
sich einen dem deutschen, ja selbst auch nur dem polnischen gleichwertigen Arbeiter¬
stamm zu schaffen. Der Industriearbeiter ging bis in die jüngste Zeit während der
Sommermonate aufs Land und half vielfach beim Einbringen der Ernte. Diese
Unterbrechung seiner Tätigkeit in der Fabrik auf zwei bis drei Monate beein¬
trächtigte naturgemäß seine Fertigkeit als Schlosser oder Weber. Die im Dorf
hergestellten Erzeugnisse konnten dennoch bald nicht mehr mit den städtischen
konkurrieren. Aus dem Mir verschwand die industrielle Produktion, seine wirt¬
schaftliche Kraft war schließlich auf die primitivste Ackerwirtschaft gestützt. Die
aber mußte umso kläglicher werden, als auch die Sommerarbeiter in den Städten
an höhere Löhne gewöhnt, immer zahlreicher ausblieben und die starken Bauern¬
burschen den Mir-Acker zu vernachlässigen begannen, weil sie als Streckenarbeiter
der schnell wachsenden Eisenbahnen, als Gutsarbeiter, Flußschiffer usw. bares Geld
verdienten, mit dem sie die Abgaben im Mir bezahlen konnten. So ist der Mir
nicht am Kommunismus zugrunde gegangen, sondern an der Unvernunft der
Regierenden und an der Habgier des Fiskus, der die russische Staatswirtschaft
absolut auf europäische Grundlagen stellen wollte.

Die Agrarreform Stolypins geht meines Erachtens zu weit. Sie schüttet
das Kind mit dem Bade aus. Sie berücksichtigt ausschließlich die Großunter¬
nehmer und unter ihnen besonders die industriellen. Die russische Industrie
wird nach völliger Loslösung des Arbeiters von der Scholle einen dem west¬
europäischen wahrscheinlich gleichwertigen und dennoch billigeren Arbeiterstamm
erhalten. Dadurch werden die russischen Produkte konkurrenzfähiger auf dem
Weltmarkte werden und Rußland dürfte noch mehr wie bisher zur Ausdehnungs¬
politik getrieben werden. Aber die Landwirtschaft dürfte um so schwereren
Tagen zusteuern, weil sie keine Arbeiter findet. Schon vor der Reform über¬
stiegen die landwirtschaftlichen Löhne im Juli-August in gewissen Gegenden
Südrußlands die in Deutschland üblichen um das Doppelte. Woher sollen die
Arbeitshände kommen, wenn die Verödung der Dörfer weiter die rapiden
Fortschritte macht, wie in den letzten sechs Jahren? Sollen nur kapitalistische
Grundsätze auch für die Landwirtschaft maßgebend sein, dann hat Herr Linde


Agrarc Reformen in Rußland

Kapital zu, das in der russischen Wirtschaft Anlage suchte, obwohl durch die
gemeinsame Bürgschaft eine Kreditfähigkeit gegeben war, wie sie in der Klein¬
industrie sonst nirgends in der Welt zu finden ist. So blieben denn auch
alle Versuche der Regierung, die Hausindustrie zu heben, die besonders lebhaft
um die Jahrhundertwende angestellt wurden, auf dem Papier oder Spielzeuge
für die Petersburger Hofgesellschaft.

Unter der Herrschaft des Finanzministers Witte erhielt der Mir wirtschaftlich
den Todesstoß durch die forzierte Industrialisierung Rußlands. Schon von 1870 ab
riß das Industriekapital die gewinnversprechende Produktion an sich, ohne an die
bestehenden Wirtschaftsorganisationen anknüpfen zu dürfen, weil die politische Polizei
das Einströmen nichtbäuerlicher Elemente in den Mir verhinderte. Der Mir wehrte
sich auf seine Art: bis heute hat die russische Industrie es noch nicht vermocht,
sich einen dem deutschen, ja selbst auch nur dem polnischen gleichwertigen Arbeiter¬
stamm zu schaffen. Der Industriearbeiter ging bis in die jüngste Zeit während der
Sommermonate aufs Land und half vielfach beim Einbringen der Ernte. Diese
Unterbrechung seiner Tätigkeit in der Fabrik auf zwei bis drei Monate beein¬
trächtigte naturgemäß seine Fertigkeit als Schlosser oder Weber. Die im Dorf
hergestellten Erzeugnisse konnten dennoch bald nicht mehr mit den städtischen
konkurrieren. Aus dem Mir verschwand die industrielle Produktion, seine wirt¬
schaftliche Kraft war schließlich auf die primitivste Ackerwirtschaft gestützt. Die
aber mußte umso kläglicher werden, als auch die Sommerarbeiter in den Städten
an höhere Löhne gewöhnt, immer zahlreicher ausblieben und die starken Bauern¬
burschen den Mir-Acker zu vernachlässigen begannen, weil sie als Streckenarbeiter
der schnell wachsenden Eisenbahnen, als Gutsarbeiter, Flußschiffer usw. bares Geld
verdienten, mit dem sie die Abgaben im Mir bezahlen konnten. So ist der Mir
nicht am Kommunismus zugrunde gegangen, sondern an der Unvernunft der
Regierenden und an der Habgier des Fiskus, der die russische Staatswirtschaft
absolut auf europäische Grundlagen stellen wollte.

Die Agrarreform Stolypins geht meines Erachtens zu weit. Sie schüttet
das Kind mit dem Bade aus. Sie berücksichtigt ausschließlich die Großunter¬
nehmer und unter ihnen besonders die industriellen. Die russische Industrie
wird nach völliger Loslösung des Arbeiters von der Scholle einen dem west¬
europäischen wahrscheinlich gleichwertigen und dennoch billigeren Arbeiterstamm
erhalten. Dadurch werden die russischen Produkte konkurrenzfähiger auf dem
Weltmarkte werden und Rußland dürfte noch mehr wie bisher zur Ausdehnungs¬
politik getrieben werden. Aber die Landwirtschaft dürfte um so schwereren
Tagen zusteuern, weil sie keine Arbeiter findet. Schon vor der Reform über¬
stiegen die landwirtschaftlichen Löhne im Juli-August in gewissen Gegenden
Südrußlands die in Deutschland üblichen um das Doppelte. Woher sollen die
Arbeitshände kommen, wenn die Verödung der Dörfer weiter die rapiden
Fortschritte macht, wie in den letzten sechs Jahren? Sollen nur kapitalistische
Grundsätze auch für die Landwirtschaft maßgebend sein, dann hat Herr Linde


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/38>, abgerufen am 31.05.2024.