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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Jer deutsche Idealismus

ihrer allgemeinsten philosophischen Weltbetrachtung; ein gleich großes, vielleicht
ein größeres Interesse beansprucht der Kampf, in dem sich Carlyle diesen
Jdeenbesitz erwarb. Es handelt sich dabei um erschütternde seelische Erlebnisse,
die freilich in ihrer Besonderheit, wie alles im höchsten Sinne Persönliche,
unwiederholbar sind, deren Inhalt aber ethisch-religiöse Probleme von weit über¬
individueller Bedeutung bilden. Keiner, der es ernst nimmt mit sich selbst und
mit der Welt, entgeht diesen höchsten Lebensfragen; in der Auseinandersetzung
mit ihnen pflegt sich erst der echte Wert eines jeden Menschen zu zeigen. Nur
wenige finden eine dauernd befriedigende Lösung dafür; aber wenn nur der
Kampf mit der tiefen Wahrhaftigkeit geführt wird, die Carlyle von seinen
"Helden" verlangt, so bleibt das Ergebnis für die Gesamtheit unverloren.
Eben in der seltenen Reinheit der Gesinnung, mit der Carlyle diesen Kampf
mit sich selbst bis zu Ende durchfocht, liegt das Vorbildliche seiner geistigen
Entwicklung.

Gerade in unseren Tagen werden ja im Bewußtsein vieler Menschen die
letzten Lebensrätsel wieder lebendig, mit denen der schottische Denker zu ringen
hatte. Und wie er sich auf der Wahrheitssuche in die tiefen Brunnen der
deutschen Philosophie hinabwagen mußte, um von dort die reinsten und wert¬
vollsten Erkenntnisse heraufzuholen, die fortan sein ganzes Denken befruchteten
-- so ergeht es auch uns; wie er die materialistisch und empiristisch gerichtete
englische Kultur seiner Tage durch die Grundgedanken des deutschen Idealismus
geistig zu überwinden suchte, so scheint auch unter uns heutigen Deutschen eine
Erneuerung jener hundertjährigen Ideen anzuheben, eine geistige Reaktion gegen
die Schwächen und Schäden unseres realistischen Zeitalters. Sicherlich wird
es bei solcher Kulturarbeit die schwerste und größte Aufgabe sein, von jenen
romantisch-idealistischen Gedankenreihen aus zu einer Durchdringung des ver¬
wandelten modernen Kulturinhalts zu gelangen, und damit zu einer Befruchtung
auch des praktischen Lebens im Zeitalter des aufsteigenden Imperialismus.
Wer aber immer an diesen Aufgaben tätig anzuschaffen sucht, wird dankbar
Thomas Carlyles als eines hervorragenden Vorkämpfers und Mithelfers ge¬
denken. Denn gerade in der praktischen Verwertung der philosophischen Grund¬
gedanken schuf dieser sein eigenstes und bestes: indem sein Geist sich von
innen wieder nach außen wandte und nun mit den neugewonnenen Ideen die
gewaltige Masse seines praktischen Kulturbesitzes durchleuchtete und gestaltete.
Daß er zu dieser Kulturarbeit, vor allem zur Lösung der Probleme des soziale"
Lebens, der Hilfe des deutschen Idealismus bedürfte und aus ihr den wert¬
vollsten praktischen Gewinn zog, muß gerade uns Deutsche immer wieder zum
Nachdenken über seine geistige Entwicklung anregen.




Unter allen Bildungseinflüssen, die bei dieser Entwicklung tätig waren,
sind zweifellos die Einflüsse des Elternhauses, die Familienerbschaft und die


Jer deutsche Idealismus

ihrer allgemeinsten philosophischen Weltbetrachtung; ein gleich großes, vielleicht
ein größeres Interesse beansprucht der Kampf, in dem sich Carlyle diesen
Jdeenbesitz erwarb. Es handelt sich dabei um erschütternde seelische Erlebnisse,
die freilich in ihrer Besonderheit, wie alles im höchsten Sinne Persönliche,
unwiederholbar sind, deren Inhalt aber ethisch-religiöse Probleme von weit über¬
individueller Bedeutung bilden. Keiner, der es ernst nimmt mit sich selbst und
mit der Welt, entgeht diesen höchsten Lebensfragen; in der Auseinandersetzung
mit ihnen pflegt sich erst der echte Wert eines jeden Menschen zu zeigen. Nur
wenige finden eine dauernd befriedigende Lösung dafür; aber wenn nur der
Kampf mit der tiefen Wahrhaftigkeit geführt wird, die Carlyle von seinen
„Helden" verlangt, so bleibt das Ergebnis für die Gesamtheit unverloren.
Eben in der seltenen Reinheit der Gesinnung, mit der Carlyle diesen Kampf
mit sich selbst bis zu Ende durchfocht, liegt das Vorbildliche seiner geistigen
Entwicklung.

Gerade in unseren Tagen werden ja im Bewußtsein vieler Menschen die
letzten Lebensrätsel wieder lebendig, mit denen der schottische Denker zu ringen
hatte. Und wie er sich auf der Wahrheitssuche in die tiefen Brunnen der
deutschen Philosophie hinabwagen mußte, um von dort die reinsten und wert¬
vollsten Erkenntnisse heraufzuholen, die fortan sein ganzes Denken befruchteten
— so ergeht es auch uns; wie er die materialistisch und empiristisch gerichtete
englische Kultur seiner Tage durch die Grundgedanken des deutschen Idealismus
geistig zu überwinden suchte, so scheint auch unter uns heutigen Deutschen eine
Erneuerung jener hundertjährigen Ideen anzuheben, eine geistige Reaktion gegen
die Schwächen und Schäden unseres realistischen Zeitalters. Sicherlich wird
es bei solcher Kulturarbeit die schwerste und größte Aufgabe sein, von jenen
romantisch-idealistischen Gedankenreihen aus zu einer Durchdringung des ver¬
wandelten modernen Kulturinhalts zu gelangen, und damit zu einer Befruchtung
auch des praktischen Lebens im Zeitalter des aufsteigenden Imperialismus.
Wer aber immer an diesen Aufgaben tätig anzuschaffen sucht, wird dankbar
Thomas Carlyles als eines hervorragenden Vorkämpfers und Mithelfers ge¬
denken. Denn gerade in der praktischen Verwertung der philosophischen Grund¬
gedanken schuf dieser sein eigenstes und bestes: indem sein Geist sich von
innen wieder nach außen wandte und nun mit den neugewonnenen Ideen die
gewaltige Masse seines praktischen Kulturbesitzes durchleuchtete und gestaltete.
Daß er zu dieser Kulturarbeit, vor allem zur Lösung der Probleme des soziale»
Lebens, der Hilfe des deutschen Idealismus bedürfte und aus ihr den wert¬
vollsten praktischen Gewinn zog, muß gerade uns Deutsche immer wieder zum
Nachdenken über seine geistige Entwicklung anregen.




Unter allen Bildungseinflüssen, die bei dieser Entwicklung tätig waren,
sind zweifellos die Einflüsse des Elternhauses, die Familienerbschaft und die


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[0125] Jer deutsche Idealismus ihrer allgemeinsten philosophischen Weltbetrachtung; ein gleich großes, vielleicht ein größeres Interesse beansprucht der Kampf, in dem sich Carlyle diesen Jdeenbesitz erwarb. Es handelt sich dabei um erschütternde seelische Erlebnisse, die freilich in ihrer Besonderheit, wie alles im höchsten Sinne Persönliche, unwiederholbar sind, deren Inhalt aber ethisch-religiöse Probleme von weit über¬ individueller Bedeutung bilden. Keiner, der es ernst nimmt mit sich selbst und mit der Welt, entgeht diesen höchsten Lebensfragen; in der Auseinandersetzung mit ihnen pflegt sich erst der echte Wert eines jeden Menschen zu zeigen. Nur wenige finden eine dauernd befriedigende Lösung dafür; aber wenn nur der Kampf mit der tiefen Wahrhaftigkeit geführt wird, die Carlyle von seinen „Helden" verlangt, so bleibt das Ergebnis für die Gesamtheit unverloren. Eben in der seltenen Reinheit der Gesinnung, mit der Carlyle diesen Kampf mit sich selbst bis zu Ende durchfocht, liegt das Vorbildliche seiner geistigen Entwicklung. Gerade in unseren Tagen werden ja im Bewußtsein vieler Menschen die letzten Lebensrätsel wieder lebendig, mit denen der schottische Denker zu ringen hatte. Und wie er sich auf der Wahrheitssuche in die tiefen Brunnen der deutschen Philosophie hinabwagen mußte, um von dort die reinsten und wert¬ vollsten Erkenntnisse heraufzuholen, die fortan sein ganzes Denken befruchteten — so ergeht es auch uns; wie er die materialistisch und empiristisch gerichtete englische Kultur seiner Tage durch die Grundgedanken des deutschen Idealismus geistig zu überwinden suchte, so scheint auch unter uns heutigen Deutschen eine Erneuerung jener hundertjährigen Ideen anzuheben, eine geistige Reaktion gegen die Schwächen und Schäden unseres realistischen Zeitalters. Sicherlich wird es bei solcher Kulturarbeit die schwerste und größte Aufgabe sein, von jenen romantisch-idealistischen Gedankenreihen aus zu einer Durchdringung des ver¬ wandelten modernen Kulturinhalts zu gelangen, und damit zu einer Befruchtung auch des praktischen Lebens im Zeitalter des aufsteigenden Imperialismus. Wer aber immer an diesen Aufgaben tätig anzuschaffen sucht, wird dankbar Thomas Carlyles als eines hervorragenden Vorkämpfers und Mithelfers ge¬ denken. Denn gerade in der praktischen Verwertung der philosophischen Grund¬ gedanken schuf dieser sein eigenstes und bestes: indem sein Geist sich von innen wieder nach außen wandte und nun mit den neugewonnenen Ideen die gewaltige Masse seines praktischen Kulturbesitzes durchleuchtete und gestaltete. Daß er zu dieser Kulturarbeit, vor allem zur Lösung der Probleme des soziale» Lebens, der Hilfe des deutschen Idealismus bedürfte und aus ihr den wert¬ vollsten praktischen Gewinn zog, muß gerade uns Deutsche immer wieder zum Nachdenken über seine geistige Entwicklung anregen. Unter allen Bildungseinflüssen, die bei dieser Entwicklung tätig waren, sind zweifellos die Einflüsse des Elternhauses, die Familienerbschaft und die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/125>, abgerufen am 26.05.2024.