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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Deutschland und die Erschließung Chinas

zwischen seinem Norden und Süden gegeben sind. Unter dem harten oft
rauhen Klima des Nordens lebt ein Menschenschlag, in dessen Adern das Blut
ruhiger fließt, der sich langsamer entwickelt, dem Fortschritt weniger zugänglich
ist, mit großer Zähigkeit an dem Alten festhält, während die Chinesen des
wärmeren Süden geistig regsam und von leichter Auffassungsgabe, wirtschaftlich
strebsam, Neuerungen nicht abgeneigt und von leicht beeinflußbarem Temperamente
sind. Diese völkischen Gegensätze zwischen Nord und Süd schienen in den letzten
Jahren (wie früher schon oft) mehr als einmal aufeinander stoßen und zu un¬
heilbarem Bruche führen zu sollen. Einstweilen ist es gelungen, sie zu über¬
brücken. Auf wie lange? Ob auf absehbare Zukunft hinaus? Das neue China
ist nicht nur kulturell und wirtschaftlich, es ist auch staatsrechtlich noch im
Werden; was aus ihm wird, wissen wir noch nicht.*) -- Mehr noch als die
Zweifel an der Dauer seiner heutigen staatsrechtlichen Verhältnisse sind die
Zweifel an dem Bestände seiner derzeitigen territorialen Ausdehnung berechtigt,
wenn wir unter China nicht nur die achtzehn Provinzen sondern auch seine
ungeheuren Nebenländer: die Mandschurei, die Mongolei und Dsungarei, Ost-
turkestan und Tibet verstehen. Zwar die Gefahr einer Aufteilung der achtzehn
Provinzen an die erwähnten sechs Großmächte liegt gegenwärtig außerhalb der
übersehbaren Möglichkeiten. Aber in den weiten Grenzmarken des chinesischen
Reiches, im Norden, Westen und Südwesten, stehen Veränderungen in den
Herrschafts- und Einflußverhältnissen bevor, die bereits soweit vorgeschritten
sind, daß China, wenn überhaupt, so nur mit äußerster Kraftanstrengung den
es bedrohenden Verlust abwenden könnte.

Namentlich in der Mongolei und Mandschurei spielt sich ein erbitterter,
wenn auch einstweilen noch ein unblutiger, politischer und wirtschaftlicher Kampf
ab, in dem Rußland und Japan mit China um dessen Außenländer ringen.
Rußland erstrebt die ausschlaggebende Stellung im Westen und Norden der
Mongolei (sogenannte äußere Mongolei), während Japan die Vorherrschaft in
der inneren Mongolei und in der Mandschurei zu erlangen sucht.

Rußlands Interesse an der Mongolei, in die Kosakenschwärme bald mit fried¬
lichen, bald mit feindlichen Absichten bereits seit dem Anfang des siebzehnten
Jahrhunderts eindrangen, ist nicht mehr jungen Datums. Den amtlichen
Stempel erhielt dieses Interesse allerdings erst vor fünfzig bis sechzig Jahren,
als Rußland eine Anzahl Chinas Grenzen nahe gelegener Khanate (Chiwa,
Buchara usw.) unter seine Botmäßigkeit brachte. Seit jener Zeit hat es nicht auf¬
gehört sich auch mit der Mongolei zu beschäftigen, durch diplomatische Künste,
durch Einwirkungen -- mit und ohne metallischen Beigeschmack -- auf die
mongolischen Khane, durch wirtschaftliche und militärische Mittel aller Art in
jenen weiten Gebieten Einfluß zu erwerben. Seinen Bemühungen kam und
kommt der Umstand zugute, daß die Beziehungen der chinesischen Regierung



") Vgl. den Aufsatz von Dr. R. Stube: Geschichtliche Bemerkungen zur chinesischen
Revolution; Heft 26 S. 620 ff. des vorigen Jahrganges der Grenzboten.
Deutschland und die Erschließung Chinas

zwischen seinem Norden und Süden gegeben sind. Unter dem harten oft
rauhen Klima des Nordens lebt ein Menschenschlag, in dessen Adern das Blut
ruhiger fließt, der sich langsamer entwickelt, dem Fortschritt weniger zugänglich
ist, mit großer Zähigkeit an dem Alten festhält, während die Chinesen des
wärmeren Süden geistig regsam und von leichter Auffassungsgabe, wirtschaftlich
strebsam, Neuerungen nicht abgeneigt und von leicht beeinflußbarem Temperamente
sind. Diese völkischen Gegensätze zwischen Nord und Süd schienen in den letzten
Jahren (wie früher schon oft) mehr als einmal aufeinander stoßen und zu un¬
heilbarem Bruche führen zu sollen. Einstweilen ist es gelungen, sie zu über¬
brücken. Auf wie lange? Ob auf absehbare Zukunft hinaus? Das neue China
ist nicht nur kulturell und wirtschaftlich, es ist auch staatsrechtlich noch im
Werden; was aus ihm wird, wissen wir noch nicht.*) — Mehr noch als die
Zweifel an der Dauer seiner heutigen staatsrechtlichen Verhältnisse sind die
Zweifel an dem Bestände seiner derzeitigen territorialen Ausdehnung berechtigt,
wenn wir unter China nicht nur die achtzehn Provinzen sondern auch seine
ungeheuren Nebenländer: die Mandschurei, die Mongolei und Dsungarei, Ost-
turkestan und Tibet verstehen. Zwar die Gefahr einer Aufteilung der achtzehn
Provinzen an die erwähnten sechs Großmächte liegt gegenwärtig außerhalb der
übersehbaren Möglichkeiten. Aber in den weiten Grenzmarken des chinesischen
Reiches, im Norden, Westen und Südwesten, stehen Veränderungen in den
Herrschafts- und Einflußverhältnissen bevor, die bereits soweit vorgeschritten
sind, daß China, wenn überhaupt, so nur mit äußerster Kraftanstrengung den
es bedrohenden Verlust abwenden könnte.

Namentlich in der Mongolei und Mandschurei spielt sich ein erbitterter,
wenn auch einstweilen noch ein unblutiger, politischer und wirtschaftlicher Kampf
ab, in dem Rußland und Japan mit China um dessen Außenländer ringen.
Rußland erstrebt die ausschlaggebende Stellung im Westen und Norden der
Mongolei (sogenannte äußere Mongolei), während Japan die Vorherrschaft in
der inneren Mongolei und in der Mandschurei zu erlangen sucht.

Rußlands Interesse an der Mongolei, in die Kosakenschwärme bald mit fried¬
lichen, bald mit feindlichen Absichten bereits seit dem Anfang des siebzehnten
Jahrhunderts eindrangen, ist nicht mehr jungen Datums. Den amtlichen
Stempel erhielt dieses Interesse allerdings erst vor fünfzig bis sechzig Jahren,
als Rußland eine Anzahl Chinas Grenzen nahe gelegener Khanate (Chiwa,
Buchara usw.) unter seine Botmäßigkeit brachte. Seit jener Zeit hat es nicht auf¬
gehört sich auch mit der Mongolei zu beschäftigen, durch diplomatische Künste,
durch Einwirkungen — mit und ohne metallischen Beigeschmack — auf die
mongolischen Khane, durch wirtschaftliche und militärische Mittel aller Art in
jenen weiten Gebieten Einfluß zu erwerben. Seinen Bemühungen kam und
kommt der Umstand zugute, daß die Beziehungen der chinesischen Regierung



") Vgl. den Aufsatz von Dr. R. Stube: Geschichtliche Bemerkungen zur chinesischen
Revolution; Heft 26 S. 620 ff. des vorigen Jahrganges der Grenzboten.
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[0169] Deutschland und die Erschließung Chinas zwischen seinem Norden und Süden gegeben sind. Unter dem harten oft rauhen Klima des Nordens lebt ein Menschenschlag, in dessen Adern das Blut ruhiger fließt, der sich langsamer entwickelt, dem Fortschritt weniger zugänglich ist, mit großer Zähigkeit an dem Alten festhält, während die Chinesen des wärmeren Süden geistig regsam und von leichter Auffassungsgabe, wirtschaftlich strebsam, Neuerungen nicht abgeneigt und von leicht beeinflußbarem Temperamente sind. Diese völkischen Gegensätze zwischen Nord und Süd schienen in den letzten Jahren (wie früher schon oft) mehr als einmal aufeinander stoßen und zu un¬ heilbarem Bruche führen zu sollen. Einstweilen ist es gelungen, sie zu über¬ brücken. Auf wie lange? Ob auf absehbare Zukunft hinaus? Das neue China ist nicht nur kulturell und wirtschaftlich, es ist auch staatsrechtlich noch im Werden; was aus ihm wird, wissen wir noch nicht.*) — Mehr noch als die Zweifel an der Dauer seiner heutigen staatsrechtlichen Verhältnisse sind die Zweifel an dem Bestände seiner derzeitigen territorialen Ausdehnung berechtigt, wenn wir unter China nicht nur die achtzehn Provinzen sondern auch seine ungeheuren Nebenländer: die Mandschurei, die Mongolei und Dsungarei, Ost- turkestan und Tibet verstehen. Zwar die Gefahr einer Aufteilung der achtzehn Provinzen an die erwähnten sechs Großmächte liegt gegenwärtig außerhalb der übersehbaren Möglichkeiten. Aber in den weiten Grenzmarken des chinesischen Reiches, im Norden, Westen und Südwesten, stehen Veränderungen in den Herrschafts- und Einflußverhältnissen bevor, die bereits soweit vorgeschritten sind, daß China, wenn überhaupt, so nur mit äußerster Kraftanstrengung den es bedrohenden Verlust abwenden könnte. Namentlich in der Mongolei und Mandschurei spielt sich ein erbitterter, wenn auch einstweilen noch ein unblutiger, politischer und wirtschaftlicher Kampf ab, in dem Rußland und Japan mit China um dessen Außenländer ringen. Rußland erstrebt die ausschlaggebende Stellung im Westen und Norden der Mongolei (sogenannte äußere Mongolei), während Japan die Vorherrschaft in der inneren Mongolei und in der Mandschurei zu erlangen sucht. Rußlands Interesse an der Mongolei, in die Kosakenschwärme bald mit fried¬ lichen, bald mit feindlichen Absichten bereits seit dem Anfang des siebzehnten Jahrhunderts eindrangen, ist nicht mehr jungen Datums. Den amtlichen Stempel erhielt dieses Interesse allerdings erst vor fünfzig bis sechzig Jahren, als Rußland eine Anzahl Chinas Grenzen nahe gelegener Khanate (Chiwa, Buchara usw.) unter seine Botmäßigkeit brachte. Seit jener Zeit hat es nicht auf¬ gehört sich auch mit der Mongolei zu beschäftigen, durch diplomatische Künste, durch Einwirkungen — mit und ohne metallischen Beigeschmack — auf die mongolischen Khane, durch wirtschaftliche und militärische Mittel aller Art in jenen weiten Gebieten Einfluß zu erwerben. Seinen Bemühungen kam und kommt der Umstand zugute, daß die Beziehungen der chinesischen Regierung ") Vgl. den Aufsatz von Dr. R. Stube: Geschichtliche Bemerkungen zur chinesischen Revolution; Heft 26 S. 620 ff. des vorigen Jahrganges der Grenzboten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/169>, abgerufen am 22.05.2024.