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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Alte und neue Hamletforschung

Im großen und ganzen sage ich. Denn mit diesem Satz war ja zunächst
nur eine Unzulänglichkeit Hamlets konstatiert, ohne daß geso.gr wird, worin eben
diese Unzulänglichkeit besteht. Und doch sind diese Worte bewunderungswert,
weil sie der eigenen und vielen Jahrzehnten der folgenden Zeit vorauseilen
und den Grund und Boden bilden, ans dem auch der moderne Mensch sich
Hamlet nähert.

Die Arbeiten der folgenden Zeit bemühen sich vergeblich um die Weiter¬
entwicklung des Goethescher Gedankens. Sie sind zum großen Teil ungemein
geistvoll und fördern manche wertvolle Einzelheit ans Licht. Aber vor der
Kardinalfrage, dem Zaudern Hamlets stehen diese Kommentare von Ziegler,
Tieck, Gervinus, von Friesen, Baumgart, Fischer ratlos da. Fast alle sehen
ihn im Grunde als ethisch hochstehenden Phlegmatiker und wollen aus der
Dickflüssigkeit seines Temperamentes und aus sittlichen Bedenken sein Zögern
erklären. Ebenso wird geltend gemacht, daß der Ästhet in ihm sich gegen die
blutige Rache empört.

Ohne Frage sind das Gründe, die mitsprechen. Aber nie und nimmer
kommt man mit ihnen aus. In der am Ende der Tragödie immer deutlicher
werdenden Destruktion in Hamlets Gemüt scheiterten diese Erklärungsversuche
vollends, und um nun wieder über diese Tatsache hinwegzukommen, wurden
langatmige, unendlich qualvolle ..Ehrenrettungen" Hamlets unternommen. So
wird von Gerth-Putbus sein Zögern mit religiösen Bedenken begründet, und
in die engen Grenzen dieser Anschauung dann die ganzen inneren Reibungen
der Tragödie eingezwängt. Vor der Tatsache der rasenden Temperament¬
ausbrüche steht man gänzlich ratlos da. Der ,,Wahnsinn" Hamlets wird von
einem Autor ausgeschlossen, weil er mit ästhetischen Grundsätzen unvereinbar sei.

Man debattiert äußerst geistvoll über die Tragödie, aber in das innere
Getriebe seiner Seele vermag man nicht zu schauen. Und so muß man sich
zum Beispiel mit der Beobachtung der Tatsache begnügen, daß in Hamlets
Gemütsleben Arsis und Thesis wechseln (Fischer). Oder man verläßt überhaupt
das eigentliche Problem, studiert die Entwicklung der Tragödie aus der Fabel
des Laxo Qramrimticu8 und erläutert die Wortspiele. Oder man prüft das
Verhältnis der Tragödie zu den dramaturgischen Regeln des Aristoteles, unter¬
sucht, ob die Erscheinung des Geistes dramatisch sich rechtfertigen läßt, und was
der philologischen Amüsements mehr sind. Goethes Gedanke wird nicht weiter¬
geführt. Man beschränkt sich darauf, ihn zu variieren. Nur hin und wieder
finden sich Äußerungen, die die Unzulänglichkeit der bisherigen Grundlagen ein¬
gestehen und schon auf Ergebnisse verweisen, die dann die Zukunft brachte.

In der Tat war es unserer Zeit vorbehalten, jene Fragen zu beant¬
worten. Unserer Zeit, in der die Menge der psychopathologischen Literatur,
die dramatische Verwendung ähnlicher Motive und nicht zuletzt unsere reflek¬
tierendere, dem Grundmotiv des Hamlet verwandtere Psyche den Boden der
Erkenntnis befruchten.


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Alte und neue Hamletforschung

Im großen und ganzen sage ich. Denn mit diesem Satz war ja zunächst
nur eine Unzulänglichkeit Hamlets konstatiert, ohne daß geso.gr wird, worin eben
diese Unzulänglichkeit besteht. Und doch sind diese Worte bewunderungswert,
weil sie der eigenen und vielen Jahrzehnten der folgenden Zeit vorauseilen
und den Grund und Boden bilden, ans dem auch der moderne Mensch sich
Hamlet nähert.

Die Arbeiten der folgenden Zeit bemühen sich vergeblich um die Weiter¬
entwicklung des Goethescher Gedankens. Sie sind zum großen Teil ungemein
geistvoll und fördern manche wertvolle Einzelheit ans Licht. Aber vor der
Kardinalfrage, dem Zaudern Hamlets stehen diese Kommentare von Ziegler,
Tieck, Gervinus, von Friesen, Baumgart, Fischer ratlos da. Fast alle sehen
ihn im Grunde als ethisch hochstehenden Phlegmatiker und wollen aus der
Dickflüssigkeit seines Temperamentes und aus sittlichen Bedenken sein Zögern
erklären. Ebenso wird geltend gemacht, daß der Ästhet in ihm sich gegen die
blutige Rache empört.

Ohne Frage sind das Gründe, die mitsprechen. Aber nie und nimmer
kommt man mit ihnen aus. In der am Ende der Tragödie immer deutlicher
werdenden Destruktion in Hamlets Gemüt scheiterten diese Erklärungsversuche
vollends, und um nun wieder über diese Tatsache hinwegzukommen, wurden
langatmige, unendlich qualvolle ..Ehrenrettungen" Hamlets unternommen. So
wird von Gerth-Putbus sein Zögern mit religiösen Bedenken begründet, und
in die engen Grenzen dieser Anschauung dann die ganzen inneren Reibungen
der Tragödie eingezwängt. Vor der Tatsache der rasenden Temperament¬
ausbrüche steht man gänzlich ratlos da. Der ,,Wahnsinn" Hamlets wird von
einem Autor ausgeschlossen, weil er mit ästhetischen Grundsätzen unvereinbar sei.

Man debattiert äußerst geistvoll über die Tragödie, aber in das innere
Getriebe seiner Seele vermag man nicht zu schauen. Und so muß man sich
zum Beispiel mit der Beobachtung der Tatsache begnügen, daß in Hamlets
Gemütsleben Arsis und Thesis wechseln (Fischer). Oder man verläßt überhaupt
das eigentliche Problem, studiert die Entwicklung der Tragödie aus der Fabel
des Laxo Qramrimticu8 und erläutert die Wortspiele. Oder man prüft das
Verhältnis der Tragödie zu den dramaturgischen Regeln des Aristoteles, unter¬
sucht, ob die Erscheinung des Geistes dramatisch sich rechtfertigen läßt, und was
der philologischen Amüsements mehr sind. Goethes Gedanke wird nicht weiter¬
geführt. Man beschränkt sich darauf, ihn zu variieren. Nur hin und wieder
finden sich Äußerungen, die die Unzulänglichkeit der bisherigen Grundlagen ein¬
gestehen und schon auf Ergebnisse verweisen, die dann die Zukunft brachte.

In der Tat war es unserer Zeit vorbehalten, jene Fragen zu beant¬
worten. Unserer Zeit, in der die Menge der psychopathologischen Literatur,
die dramatische Verwendung ähnlicher Motive und nicht zuletzt unsere reflek¬
tierendere, dem Grundmotiv des Hamlet verwandtere Psyche den Boden der
Erkenntnis befruchten.


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[0439] Alte und neue Hamletforschung Im großen und ganzen sage ich. Denn mit diesem Satz war ja zunächst nur eine Unzulänglichkeit Hamlets konstatiert, ohne daß geso.gr wird, worin eben diese Unzulänglichkeit besteht. Und doch sind diese Worte bewunderungswert, weil sie der eigenen und vielen Jahrzehnten der folgenden Zeit vorauseilen und den Grund und Boden bilden, ans dem auch der moderne Mensch sich Hamlet nähert. Die Arbeiten der folgenden Zeit bemühen sich vergeblich um die Weiter¬ entwicklung des Goethescher Gedankens. Sie sind zum großen Teil ungemein geistvoll und fördern manche wertvolle Einzelheit ans Licht. Aber vor der Kardinalfrage, dem Zaudern Hamlets stehen diese Kommentare von Ziegler, Tieck, Gervinus, von Friesen, Baumgart, Fischer ratlos da. Fast alle sehen ihn im Grunde als ethisch hochstehenden Phlegmatiker und wollen aus der Dickflüssigkeit seines Temperamentes und aus sittlichen Bedenken sein Zögern erklären. Ebenso wird geltend gemacht, daß der Ästhet in ihm sich gegen die blutige Rache empört. Ohne Frage sind das Gründe, die mitsprechen. Aber nie und nimmer kommt man mit ihnen aus. In der am Ende der Tragödie immer deutlicher werdenden Destruktion in Hamlets Gemüt scheiterten diese Erklärungsversuche vollends, und um nun wieder über diese Tatsache hinwegzukommen, wurden langatmige, unendlich qualvolle ..Ehrenrettungen" Hamlets unternommen. So wird von Gerth-Putbus sein Zögern mit religiösen Bedenken begründet, und in die engen Grenzen dieser Anschauung dann die ganzen inneren Reibungen der Tragödie eingezwängt. Vor der Tatsache der rasenden Temperament¬ ausbrüche steht man gänzlich ratlos da. Der ,,Wahnsinn" Hamlets wird von einem Autor ausgeschlossen, weil er mit ästhetischen Grundsätzen unvereinbar sei. Man debattiert äußerst geistvoll über die Tragödie, aber in das innere Getriebe seiner Seele vermag man nicht zu schauen. Und so muß man sich zum Beispiel mit der Beobachtung der Tatsache begnügen, daß in Hamlets Gemütsleben Arsis und Thesis wechseln (Fischer). Oder man verläßt überhaupt das eigentliche Problem, studiert die Entwicklung der Tragödie aus der Fabel des Laxo Qramrimticu8 und erläutert die Wortspiele. Oder man prüft das Verhältnis der Tragödie zu den dramaturgischen Regeln des Aristoteles, unter¬ sucht, ob die Erscheinung des Geistes dramatisch sich rechtfertigen läßt, und was der philologischen Amüsements mehr sind. Goethes Gedanke wird nicht weiter¬ geführt. Man beschränkt sich darauf, ihn zu variieren. Nur hin und wieder finden sich Äußerungen, die die Unzulänglichkeit der bisherigen Grundlagen ein¬ gestehen und schon auf Ergebnisse verweisen, die dann die Zukunft brachte. In der Tat war es unserer Zeit vorbehalten, jene Fragen zu beant¬ worten. Unserer Zeit, in der die Menge der psychopathologischen Literatur, die dramatische Verwendung ähnlicher Motive und nicht zuletzt unsere reflek¬ tierendere, dem Grundmotiv des Hamlet verwandtere Psyche den Boden der Erkenntnis befruchten. 28*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/439>, abgerufen am 23.05.2024.