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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

dualismus und Staat nicht in zwei ver¬
schiedenen Parteien dargelegt, sondern in der
einen Person des Helden selbst. Er selbst
fällt denn auch den Urteilsspruch, Die Mit-
und Gegenspieler alle sind nicht bloß Indivi¬
dualisten, sondern geradezu Egoisten, die denn
auch den Staat aufs schlimmste ruinieren.

Wir können hier auch noch die "Maria
Magdalena" anreihen, wo dem Individuum
nicht der Staat, sondern die Sitte gegenüber¬
steht. Die Sitte freilich in der von Hebbel
als sehr eng und drückend gezeichneten Atmo¬
sphäre des geistig unfreien Kleinbürgertums.
Selbst hier scheitern die Individuen an der
umfassenderen Ordnung. Daß diese so klein¬
lich und ungerecht erscheint, das gibt gerade
diesem Drama das Unerquickliche, die Stick¬
luft, während in den beiden anderen zwar
ein scharfer, aber doch frischer Wind weht.
Hier zeigt sich deutlich die Überspannung
Hegelscher Dialektik in Hebbels Poesie.

Daß für Hebbel diese hohe Schätzung des
Staates noch keine Unterschätzung des Menschen
als Einzelwesen bedeutete, ist bei einem Dichter
an sich schon klar. Wie sollte den Menschen
unterschätzen, wer solche Riesen schafft wie er!
Und der Staat, den er voraussetzt, ist auch
ein vollkommener, der ideale Rechtsstaat, in
dem menschliche Schwächen ausgeschaltet sein
sollten. Ein Staat, wie ihn der Dichter
schaut, wie ihn die Wirklichkeit nicht bietet.
Aber es ist der Idealstaat, wie er in der
.Richtung des Konservativismus liegt, der ja
auch in Hegel seinen Beschützer und Ver¬
teidiger hatte.

Hermann Werner
Kunst

Bücher über schweizer Kunst. Fritz
Burgers: "Cözanne und Hodler" (Delphin-
Verlag, München; Textband 235 Seiten,
Abbildungsband 171 Abbildungen. 20 M.)
ist ein weit ausholendes Werk. Die Einheit
der vielverschlungenen Pfade moderner Malerei
will der Verfasser begrifflich wenigstens her¬
stellen. Die "Moderne" ist für ihn bereits
etwas. Faßliches, sie hat Grenzen und Sinn
und ihre beiden äußersten Pole sind Hodler
und Cözcmne. Die Leistung Burgers hat
etwas Tragisches. Es wurde hier gewaltige
Arbeit mit ungewöhnlichemKönnen undWissen,

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mit uneigennützigen Wollen bewältigt, die
vielen, dem Schreiber dieser Zeilen voran,
manches Nützliche bringt. Und dennoch: un¬
möglich kann dies Werk in der Reihe lebens¬
fähiger, auf lange Zeit hinaus stets wirksamer
Bildungsfaktoren einen Platz fordern. Bor
allem: zu einer einheitlichen Erfassung der
Burgerschen Gedanken läßt sich meines Er-
achtens überhaupt kein Standpunkt finden,
mir ist, als schlösse nach jedem Satz ein Ka¬
pitel, dabei sind fast gar keine Kapitel, gar
keine gliedernde Abschnitte im Werke. Burger,
der mitten in der gärenden Jugend lebt --
Schwabing ist Jugend --, gehört Wohl nicht
zu denen, die der Zeitströmungen irren Lauf
mit gewaltigem Arm richten und lenken, aber
Wohl zu denen, die empfindlich jedes Drängen
mitfühlen und nicht zu erdenschwer, sich auch
tragen lassen. So trägt ihn jetzt das Wort:
"Weg vom Spezialistentum", "Allkultur",
"Allumfasser" -- Herder. Und nicht, wie so
vielen anderen, ist ihm dies Streben ein
hohles Schlagwort, ein Mantel zur Bekleidung
der überall klaffenden Blößen, sondern ein
vielseitiges, hart erworbenes Wissen sehnt sich
in ihm nach Zusammenschluß, nach gegen¬
seitiger Durchdringung. Ein neues Ideal
"allgemeiner Bildung" ringt in ihm, Tat zu
werden, das Stoffliche der "Bildung" zu
vergeistigen. Wem könnte dieses Wollen an
sich gleichgültig sein, ganz abgesehen davon,
wie fern oder nah die Möglichkeit eines Ge¬
lingens dem einzelnen erscheinen mag?

"Was nennt man groß? Was hebt die Seele
schaudernd
Dem immer wiederholenden Erzähler,
Als was mit unwahrscheinlichen Erfolg
Der Mutigste begann?"

"Einführung in die Probleme der Malerei
der Gegenwart" -- so lautet mit Recht der
Untertitel des Buches. Es sind ungefähr die
ersten zwanzig Seiten, die eine lichtvolle, tief
durchdachte und durchfühlte Darstellung der
malerischen Idee, der Malerei als Flächen¬
kunst geben, die Einheit von Zeichnung und
Farbe, den Sinn des Farbfleckes und - die
zwei- oder dreidimensionale Problematik der
Darstellung im besten Sinne des Wortes,
enthüllen. Was man begrifflichen Bestim¬
mungen so selten nachsagen kann, daß sie vom
Begreifen unmittelbar zum Genießen leiten,

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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dualismus und Staat nicht in zwei ver¬
schiedenen Parteien dargelegt, sondern in der
einen Person des Helden selbst. Er selbst
fällt denn auch den Urteilsspruch, Die Mit-
und Gegenspieler alle sind nicht bloß Indivi¬
dualisten, sondern geradezu Egoisten, die denn
auch den Staat aufs schlimmste ruinieren.

Wir können hier auch noch die „Maria
Magdalena" anreihen, wo dem Individuum
nicht der Staat, sondern die Sitte gegenüber¬
steht. Die Sitte freilich in der von Hebbel
als sehr eng und drückend gezeichneten Atmo¬
sphäre des geistig unfreien Kleinbürgertums.
Selbst hier scheitern die Individuen an der
umfassenderen Ordnung. Daß diese so klein¬
lich und ungerecht erscheint, das gibt gerade
diesem Drama das Unerquickliche, die Stick¬
luft, während in den beiden anderen zwar
ein scharfer, aber doch frischer Wind weht.
Hier zeigt sich deutlich die Überspannung
Hegelscher Dialektik in Hebbels Poesie.

Daß für Hebbel diese hohe Schätzung des
Staates noch keine Unterschätzung des Menschen
als Einzelwesen bedeutete, ist bei einem Dichter
an sich schon klar. Wie sollte den Menschen
unterschätzen, wer solche Riesen schafft wie er!
Und der Staat, den er voraussetzt, ist auch
ein vollkommener, der ideale Rechtsstaat, in
dem menschliche Schwächen ausgeschaltet sein
sollten. Ein Staat, wie ihn der Dichter
schaut, wie ihn die Wirklichkeit nicht bietet.
Aber es ist der Idealstaat, wie er in der
.Richtung des Konservativismus liegt, der ja
auch in Hegel seinen Beschützer und Ver¬
teidiger hatte.

Hermann Werner
Kunst

Bücher über schweizer Kunst. Fritz
Burgers: „Cözanne und Hodler" (Delphin-
Verlag, München; Textband 235 Seiten,
Abbildungsband 171 Abbildungen. 20 M.)
ist ein weit ausholendes Werk. Die Einheit
der vielverschlungenen Pfade moderner Malerei
will der Verfasser begrifflich wenigstens her¬
stellen. Die „Moderne" ist für ihn bereits
etwas. Faßliches, sie hat Grenzen und Sinn
und ihre beiden äußersten Pole sind Hodler
und Cözcmne. Die Leistung Burgers hat
etwas Tragisches. Es wurde hier gewaltige
Arbeit mit ungewöhnlichemKönnen undWissen,

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mit uneigennützigen Wollen bewältigt, die
vielen, dem Schreiber dieser Zeilen voran,
manches Nützliche bringt. Und dennoch: un¬
möglich kann dies Werk in der Reihe lebens¬
fähiger, auf lange Zeit hinaus stets wirksamer
Bildungsfaktoren einen Platz fordern. Bor
allem: zu einer einheitlichen Erfassung der
Burgerschen Gedanken läßt sich meines Er-
achtens überhaupt kein Standpunkt finden,
mir ist, als schlösse nach jedem Satz ein Ka¬
pitel, dabei sind fast gar keine Kapitel, gar
keine gliedernde Abschnitte im Werke. Burger,
der mitten in der gärenden Jugend lebt —
Schwabing ist Jugend —, gehört Wohl nicht
zu denen, die der Zeitströmungen irren Lauf
mit gewaltigem Arm richten und lenken, aber
Wohl zu denen, die empfindlich jedes Drängen
mitfühlen und nicht zu erdenschwer, sich auch
tragen lassen. So trägt ihn jetzt das Wort:
„Weg vom Spezialistentum", „Allkultur",
„Allumfasser" — Herder. Und nicht, wie so
vielen anderen, ist ihm dies Streben ein
hohles Schlagwort, ein Mantel zur Bekleidung
der überall klaffenden Blößen, sondern ein
vielseitiges, hart erworbenes Wissen sehnt sich
in ihm nach Zusammenschluß, nach gegen¬
seitiger Durchdringung. Ein neues Ideal
„allgemeiner Bildung" ringt in ihm, Tat zu
werden, das Stoffliche der „Bildung" zu
vergeistigen. Wem könnte dieses Wollen an
sich gleichgültig sein, ganz abgesehen davon,
wie fern oder nah die Möglichkeit eines Ge¬
lingens dem einzelnen erscheinen mag?

„Was nennt man groß? Was hebt die Seele
schaudernd
Dem immer wiederholenden Erzähler,
Als was mit unwahrscheinlichen Erfolg
Der Mutigste begann?"

„Einführung in die Probleme der Malerei
der Gegenwart" — so lautet mit Recht der
Untertitel des Buches. Es sind ungefähr die
ersten zwanzig Seiten, die eine lichtvolle, tief
durchdachte und durchfühlte Darstellung der
malerischen Idee, der Malerei als Flächen¬
kunst geben, die Einheit von Zeichnung und
Farbe, den Sinn des Farbfleckes und - die
zwei- oder dreidimensionale Problematik der
Darstellung im besten Sinne des Wortes,
enthüllen. Was man begrifflichen Bestim¬
mungen so selten nachsagen kann, daß sie vom
Begreifen unmittelbar zum Genießen leiten,

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[0546] Maßgebliches und Unmaßgebliches dualismus und Staat nicht in zwei ver¬ schiedenen Parteien dargelegt, sondern in der einen Person des Helden selbst. Er selbst fällt denn auch den Urteilsspruch, Die Mit- und Gegenspieler alle sind nicht bloß Indivi¬ dualisten, sondern geradezu Egoisten, die denn auch den Staat aufs schlimmste ruinieren. Wir können hier auch noch die „Maria Magdalena" anreihen, wo dem Individuum nicht der Staat, sondern die Sitte gegenüber¬ steht. Die Sitte freilich in der von Hebbel als sehr eng und drückend gezeichneten Atmo¬ sphäre des geistig unfreien Kleinbürgertums. Selbst hier scheitern die Individuen an der umfassenderen Ordnung. Daß diese so klein¬ lich und ungerecht erscheint, das gibt gerade diesem Drama das Unerquickliche, die Stick¬ luft, während in den beiden anderen zwar ein scharfer, aber doch frischer Wind weht. Hier zeigt sich deutlich die Überspannung Hegelscher Dialektik in Hebbels Poesie. Daß für Hebbel diese hohe Schätzung des Staates noch keine Unterschätzung des Menschen als Einzelwesen bedeutete, ist bei einem Dichter an sich schon klar. Wie sollte den Menschen unterschätzen, wer solche Riesen schafft wie er! Und der Staat, den er voraussetzt, ist auch ein vollkommener, der ideale Rechtsstaat, in dem menschliche Schwächen ausgeschaltet sein sollten. Ein Staat, wie ihn der Dichter schaut, wie ihn die Wirklichkeit nicht bietet. Aber es ist der Idealstaat, wie er in der .Richtung des Konservativismus liegt, der ja auch in Hegel seinen Beschützer und Ver¬ teidiger hatte. Hermann Werner Kunst Bücher über schweizer Kunst. Fritz Burgers: „Cözanne und Hodler" (Delphin- Verlag, München; Textband 235 Seiten, Abbildungsband 171 Abbildungen. 20 M.) ist ein weit ausholendes Werk. Die Einheit der vielverschlungenen Pfade moderner Malerei will der Verfasser begrifflich wenigstens her¬ stellen. Die „Moderne" ist für ihn bereits etwas. Faßliches, sie hat Grenzen und Sinn und ihre beiden äußersten Pole sind Hodler und Cözcmne. Die Leistung Burgers hat etwas Tragisches. Es wurde hier gewaltige Arbeit mit ungewöhnlichemKönnen undWissen, mit uneigennützigen Wollen bewältigt, die vielen, dem Schreiber dieser Zeilen voran, manches Nützliche bringt. Und dennoch: un¬ möglich kann dies Werk in der Reihe lebens¬ fähiger, auf lange Zeit hinaus stets wirksamer Bildungsfaktoren einen Platz fordern. Bor allem: zu einer einheitlichen Erfassung der Burgerschen Gedanken läßt sich meines Er- achtens überhaupt kein Standpunkt finden, mir ist, als schlösse nach jedem Satz ein Ka¬ pitel, dabei sind fast gar keine Kapitel, gar keine gliedernde Abschnitte im Werke. Burger, der mitten in der gärenden Jugend lebt — Schwabing ist Jugend —, gehört Wohl nicht zu denen, die der Zeitströmungen irren Lauf mit gewaltigem Arm richten und lenken, aber Wohl zu denen, die empfindlich jedes Drängen mitfühlen und nicht zu erdenschwer, sich auch tragen lassen. So trägt ihn jetzt das Wort: „Weg vom Spezialistentum", „Allkultur", „Allumfasser" — Herder. Und nicht, wie so vielen anderen, ist ihm dies Streben ein hohles Schlagwort, ein Mantel zur Bekleidung der überall klaffenden Blößen, sondern ein vielseitiges, hart erworbenes Wissen sehnt sich in ihm nach Zusammenschluß, nach gegen¬ seitiger Durchdringung. Ein neues Ideal „allgemeiner Bildung" ringt in ihm, Tat zu werden, das Stoffliche der „Bildung" zu vergeistigen. Wem könnte dieses Wollen an sich gleichgültig sein, ganz abgesehen davon, wie fern oder nah die Möglichkeit eines Ge¬ lingens dem einzelnen erscheinen mag? „Was nennt man groß? Was hebt die Seele schaudernd Dem immer wiederholenden Erzähler, Als was mit unwahrscheinlichen Erfolg Der Mutigste begann?" „Einführung in die Probleme der Malerei der Gegenwart" — so lautet mit Recht der Untertitel des Buches. Es sind ungefähr die ersten zwanzig Seiten, die eine lichtvolle, tief durchdachte und durchfühlte Darstellung der malerischen Idee, der Malerei als Flächen¬ kunst geben, die Einheit von Zeichnung und Farbe, den Sinn des Farbfleckes und - die zwei- oder dreidimensionale Problematik der Darstellung im besten Sinne des Wortes, enthüllen. Was man begrifflichen Bestim¬ mungen so selten nachsagen kann, daß sie vom Begreifen unmittelbar zum Genießen leiten,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/546>, abgerufen am 15.06.2024.