Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Beiträge zu einer Psychologie der Arbeiter

Das letzte Kapitel, "welche Bücher haben Sie gelesen?" hat. wie Leven-
stein in der Einleitung dazu berichtet, eine Privatkorrespondenz von 1874 Briefen
erfordert; aus dieser berichtet er einiges über die Philosophen, die die Arbeiter
gelesen haben; die "interessanten Ergebnisse" über "die pantheistischen Mystiker,
wie Kant, Goethe, Lessing (!) usw." teilt er nicht mit und wenn man seine
Statistiker zusammenstellt, so hatten

wissenschaftliche und sonstige wertvolle Literatur . . . 17,3 Prozent
sozialistische und gewerkschaftliche Literatur.....36,S "
Schundliteratur..............19 "
keine Bücher...............13,7

gelesen,

diese Frage nicht beantwortet.........13,1 "

Inwiefern diese Zahlen den tatsächlichen Verhältnissen entsprechen, ist
zweifelhaft, wenn matt Angaben findet wie "Ergreifende" (ein Forster Weber)
"die Wiesendschaftlichen" (Bergmann aus dem Nuhrgebiet) "nur wahrheits¬
liebende" (Textilarbeiter Berlin) "meist Schundliteratur" (!) (ein Berliner
Weber); wohin Bücher wie der Corvinsche "Pfaffenspiegel" und die "gekrönten
Häupter" gerechnet werden, wird auch nicht gesagt; die hohe Prozentzahl der
sozialistischen und gewerkschastlichen Literatur mag sich aus den Beständen der
den Arbeiter zur Verfügung stehenden Bibliotheken ergeben, und gerade bei so
ungenauen Angaben wie "ich bin ein Freund von Leßen und leße alles"
(Bergarbeiter aus dem Ruhrrevier) "die Bibel und auch politiser Schriften"
(Forster Spinner) wäre eine mündliche Befragung am Platz gewesen. Josef
Kilche betont in einem auf Zusammenstellungen der Benutzungsziffern der
Arbeiterbibliotheken beruhenden Aufsatz*), daß auch bei der politischen und
sozialistischen Literatur hauptsächlich Bücher in Betracht kommen, von denen
etwas Sensationelles erwartet wird, und an ein Erfassen etwa des oft angegebenen
Marxschen Kapitals ohne Vorbildung nicht zu denken sei, obwohl Levenstein meint,
daß Marx gar nicht belehre, sondern den namenlosen persönlichen Erfahrungen des
Arbeiters nur den Namen, seinen eigenen Erlebnissen nur den logischen Begriff gebe.

Wie in diesem letzten Kapitel, so ist auch im ganzen Buch das Material
nicht bloß nicht bis ins kleinste gesichert, sondern auch nicht einmal vollständig
veröffentlicht. Es zeigt sich eben, daß zu einer so umfassenden Erhebung nicht
die Erfahrung und der Eifer eines einzelnen Menschen genügt, sondern die
wissenschaftliche Schulung und gegenseitige Kontrolle einer ganzen Reihe von
Mitarbeitern nötig ist. Trotzdem muß jeder, der sich irgend mit den sozialen
Problemen beschäftigt, Levenstein dankbar sein, daß er ungeachtet aller Hindernisse
und aller Anfeindungen als erster diesen schwierigen Weg betreten hat, auf
demi seine Nachfolger nun weniger leicht straucheln werden und daß er uns,
ehe die Ergebnisse dieser großen Untersuchungen abgeschlossen vorliegen, wert-
volle und umfassende Beiträge zur Kenntnis der Arbeiterpsyche zugänglich macht.





") Josef Kilche, Arbeiterlektüre. Sozialistische Monatshefte Ur. 5. 1911.
Beiträge zu einer Psychologie der Arbeiter

Das letzte Kapitel, „welche Bücher haben Sie gelesen?" hat. wie Leven-
stein in der Einleitung dazu berichtet, eine Privatkorrespondenz von 1874 Briefen
erfordert; aus dieser berichtet er einiges über die Philosophen, die die Arbeiter
gelesen haben; die „interessanten Ergebnisse" über „die pantheistischen Mystiker,
wie Kant, Goethe, Lessing (!) usw." teilt er nicht mit und wenn man seine
Statistiker zusammenstellt, so hatten

wissenschaftliche und sonstige wertvolle Literatur . . . 17,3 Prozent
sozialistische und gewerkschaftliche Literatur.....36,S „
Schundliteratur..............19 „
keine Bücher...............13,7

gelesen,

diese Frage nicht beantwortet.........13,1 „

Inwiefern diese Zahlen den tatsächlichen Verhältnissen entsprechen, ist
zweifelhaft, wenn matt Angaben findet wie „Ergreifende" (ein Forster Weber)
„die Wiesendschaftlichen" (Bergmann aus dem Nuhrgebiet) „nur wahrheits¬
liebende" (Textilarbeiter Berlin) „meist Schundliteratur" (!) (ein Berliner
Weber); wohin Bücher wie der Corvinsche „Pfaffenspiegel" und die „gekrönten
Häupter" gerechnet werden, wird auch nicht gesagt; die hohe Prozentzahl der
sozialistischen und gewerkschastlichen Literatur mag sich aus den Beständen der
den Arbeiter zur Verfügung stehenden Bibliotheken ergeben, und gerade bei so
ungenauen Angaben wie „ich bin ein Freund von Leßen und leße alles"
(Bergarbeiter aus dem Ruhrrevier) „die Bibel und auch politiser Schriften"
(Forster Spinner) wäre eine mündliche Befragung am Platz gewesen. Josef
Kilche betont in einem auf Zusammenstellungen der Benutzungsziffern der
Arbeiterbibliotheken beruhenden Aufsatz*), daß auch bei der politischen und
sozialistischen Literatur hauptsächlich Bücher in Betracht kommen, von denen
etwas Sensationelles erwartet wird, und an ein Erfassen etwa des oft angegebenen
Marxschen Kapitals ohne Vorbildung nicht zu denken sei, obwohl Levenstein meint,
daß Marx gar nicht belehre, sondern den namenlosen persönlichen Erfahrungen des
Arbeiters nur den Namen, seinen eigenen Erlebnissen nur den logischen Begriff gebe.

Wie in diesem letzten Kapitel, so ist auch im ganzen Buch das Material
nicht bloß nicht bis ins kleinste gesichert, sondern auch nicht einmal vollständig
veröffentlicht. Es zeigt sich eben, daß zu einer so umfassenden Erhebung nicht
die Erfahrung und der Eifer eines einzelnen Menschen genügt, sondern die
wissenschaftliche Schulung und gegenseitige Kontrolle einer ganzen Reihe von
Mitarbeitern nötig ist. Trotzdem muß jeder, der sich irgend mit den sozialen
Problemen beschäftigt, Levenstein dankbar sein, daß er ungeachtet aller Hindernisse
und aller Anfeindungen als erster diesen schwierigen Weg betreten hat, auf
demi seine Nachfolger nun weniger leicht straucheln werden und daß er uns,
ehe die Ergebnisse dieser großen Untersuchungen abgeschlossen vorliegen, wert-
volle und umfassende Beiträge zur Kenntnis der Arbeiterpsyche zugänglich macht.





") Josef Kilche, Arbeiterlektüre. Sozialistische Monatshefte Ur. 5. 1911.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0444" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/325964"/>
          <fw type="header" place="top"> Beiträge zu einer Psychologie der Arbeiter</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2039"> Das letzte Kapitel, &#x201E;welche Bücher haben Sie gelesen?" hat. wie Leven-<lb/>
stein in der Einleitung dazu berichtet, eine Privatkorrespondenz von 1874 Briefen<lb/>
erfordert; aus dieser berichtet er einiges über die Philosophen, die die Arbeiter<lb/>
gelesen haben; die &#x201E;interessanten Ergebnisse" über &#x201E;die pantheistischen Mystiker,<lb/>
wie Kant, Goethe, Lessing (!) usw." teilt er nicht mit und wenn man seine<lb/>
Statistiker zusammenstellt, so hatten</p><lb/>
          <list>
            <item> wissenschaftliche und sonstige wertvolle Literatur  . . .  17,3 Prozent</item>
            <item> sozialistische und gewerkschaftliche Literatur.....36,S &#x201E;</item>
            <item> Schundliteratur..............19 &#x201E;</item>
            <item> keine Bücher...............13,7</item>
          </list><lb/>
          <p xml:id="ID_2040"> gelesen,</p><lb/>
          <list>
            <item> diese Frage nicht beantwortet.........13,1 &#x201E;</item>
          </list><lb/>
          <p xml:id="ID_2041"> Inwiefern diese Zahlen den tatsächlichen Verhältnissen entsprechen, ist<lb/>
zweifelhaft, wenn matt Angaben findet wie &#x201E;Ergreifende" (ein Forster Weber)<lb/>
&#x201E;die Wiesendschaftlichen" (Bergmann aus dem Nuhrgebiet) &#x201E;nur wahrheits¬<lb/>
liebende" (Textilarbeiter Berlin) &#x201E;meist Schundliteratur" (!) (ein Berliner<lb/>
Weber); wohin Bücher wie der Corvinsche &#x201E;Pfaffenspiegel" und die &#x201E;gekrönten<lb/>
Häupter" gerechnet werden, wird auch nicht gesagt; die hohe Prozentzahl der<lb/>
sozialistischen und gewerkschastlichen Literatur mag sich aus den Beständen der<lb/>
den Arbeiter zur Verfügung stehenden Bibliotheken ergeben, und gerade bei so<lb/>
ungenauen Angaben wie &#x201E;ich bin ein Freund von Leßen und leße alles"<lb/>
(Bergarbeiter aus dem Ruhrrevier) &#x201E;die Bibel und auch politiser Schriften"<lb/>
(Forster Spinner) wäre eine mündliche Befragung am Platz gewesen. Josef<lb/>
Kilche betont in einem auf Zusammenstellungen der Benutzungsziffern der<lb/>
Arbeiterbibliotheken beruhenden Aufsatz*), daß auch bei der politischen und<lb/>
sozialistischen Literatur hauptsächlich Bücher in Betracht kommen, von denen<lb/>
etwas Sensationelles erwartet wird, und an ein Erfassen etwa des oft angegebenen<lb/>
Marxschen Kapitals ohne Vorbildung nicht zu denken sei, obwohl Levenstein meint,<lb/>
daß Marx gar nicht belehre, sondern den namenlosen persönlichen Erfahrungen des<lb/>
Arbeiters nur den Namen, seinen eigenen Erlebnissen nur den logischen Begriff gebe.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2042"> Wie in diesem letzten Kapitel, so ist auch im ganzen Buch das Material<lb/>
nicht bloß nicht bis ins kleinste gesichert, sondern auch nicht einmal vollständig<lb/>
veröffentlicht. Es zeigt sich eben, daß zu einer so umfassenden Erhebung nicht<lb/>
die Erfahrung und der Eifer eines einzelnen Menschen genügt, sondern die<lb/>
wissenschaftliche Schulung und gegenseitige Kontrolle einer ganzen Reihe von<lb/>
Mitarbeitern nötig ist. Trotzdem muß jeder, der sich irgend mit den sozialen<lb/>
Problemen beschäftigt, Levenstein dankbar sein, daß er ungeachtet aller Hindernisse<lb/>
und aller Anfeindungen als erster diesen schwierigen Weg betreten hat, auf<lb/>
demi seine Nachfolger nun weniger leicht straucheln werden und daß er uns,<lb/>
ehe die Ergebnisse dieser großen Untersuchungen abgeschlossen vorliegen, wert-<lb/>
volle und umfassende Beiträge zur Kenntnis der Arbeiterpsyche zugänglich macht.</p><lb/>
          <note xml:id="FID_88" place="foot"> ") Josef Kilche, Arbeiterlektüre. Sozialistische Monatshefte Ur. 5. 1911.</note><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0444] Beiträge zu einer Psychologie der Arbeiter Das letzte Kapitel, „welche Bücher haben Sie gelesen?" hat. wie Leven- stein in der Einleitung dazu berichtet, eine Privatkorrespondenz von 1874 Briefen erfordert; aus dieser berichtet er einiges über die Philosophen, die die Arbeiter gelesen haben; die „interessanten Ergebnisse" über „die pantheistischen Mystiker, wie Kant, Goethe, Lessing (!) usw." teilt er nicht mit und wenn man seine Statistiker zusammenstellt, so hatten wissenschaftliche und sonstige wertvolle Literatur . . . 17,3 Prozent sozialistische und gewerkschaftliche Literatur.....36,S „ Schundliteratur..............19 „ keine Bücher...............13,7 gelesen, diese Frage nicht beantwortet.........13,1 „ Inwiefern diese Zahlen den tatsächlichen Verhältnissen entsprechen, ist zweifelhaft, wenn matt Angaben findet wie „Ergreifende" (ein Forster Weber) „die Wiesendschaftlichen" (Bergmann aus dem Nuhrgebiet) „nur wahrheits¬ liebende" (Textilarbeiter Berlin) „meist Schundliteratur" (!) (ein Berliner Weber); wohin Bücher wie der Corvinsche „Pfaffenspiegel" und die „gekrönten Häupter" gerechnet werden, wird auch nicht gesagt; die hohe Prozentzahl der sozialistischen und gewerkschastlichen Literatur mag sich aus den Beständen der den Arbeiter zur Verfügung stehenden Bibliotheken ergeben, und gerade bei so ungenauen Angaben wie „ich bin ein Freund von Leßen und leße alles" (Bergarbeiter aus dem Ruhrrevier) „die Bibel und auch politiser Schriften" (Forster Spinner) wäre eine mündliche Befragung am Platz gewesen. Josef Kilche betont in einem auf Zusammenstellungen der Benutzungsziffern der Arbeiterbibliotheken beruhenden Aufsatz*), daß auch bei der politischen und sozialistischen Literatur hauptsächlich Bücher in Betracht kommen, von denen etwas Sensationelles erwartet wird, und an ein Erfassen etwa des oft angegebenen Marxschen Kapitals ohne Vorbildung nicht zu denken sei, obwohl Levenstein meint, daß Marx gar nicht belehre, sondern den namenlosen persönlichen Erfahrungen des Arbeiters nur den Namen, seinen eigenen Erlebnissen nur den logischen Begriff gebe. Wie in diesem letzten Kapitel, so ist auch im ganzen Buch das Material nicht bloß nicht bis ins kleinste gesichert, sondern auch nicht einmal vollständig veröffentlicht. Es zeigt sich eben, daß zu einer so umfassenden Erhebung nicht die Erfahrung und der Eifer eines einzelnen Menschen genügt, sondern die wissenschaftliche Schulung und gegenseitige Kontrolle einer ganzen Reihe von Mitarbeitern nötig ist. Trotzdem muß jeder, der sich irgend mit den sozialen Problemen beschäftigt, Levenstein dankbar sein, daß er ungeachtet aller Hindernisse und aller Anfeindungen als erster diesen schwierigen Weg betreten hat, auf demi seine Nachfolger nun weniger leicht straucheln werden und daß er uns, ehe die Ergebnisse dieser großen Untersuchungen abgeschlossen vorliegen, wert- volle und umfassende Beiträge zur Kenntnis der Arbeiterpsyche zugänglich macht. ") Josef Kilche, Arbeiterlektüre. Sozialistische Monatshefte Ur. 5. 1911.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/444
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/444>, abgerufen am 19.05.2024.