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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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läßt, gibt. So hat sich Wagner wieder Schiller genähert. Auch bei ihm ist es die Kunst,
die im Leben schon uns den Zustand der Ruhe genießen läßt, die uns eine
Gewähr dafür ist. daß in uns ein Göttliches wohnt, das sich durchzusetzen
vermag, das uns schließlich nach all dem Ringen und Kämpfen, wie den
Meiden, emporführt zu den heiteren Regionen, wo ewige Harmonie alles Leid
auflöst und verklärt. Diese historische, kulturgeschichtliche Aufgabe der Kunst
hat Wagner Schopenhauer gegenüber wieder zur Geltung gebracht. Die Ent¬
wicklung der Menschheit, die Geschichte, ist ihm kein Wahn, sondern eine not¬
wendige, bedeutungsvolle Stufenleiter, an derem Ende ein idealer, seliger Zustand
zu erreichen ist. Unter dem Einfluß der Philosophie des deutschen Idealismus
deutet also Wagner die Schopenhauersche Philosophie dahin um, oder bildet
sie dahin weiter, daß der zeitlose, logisch-metaphysische Grundgedanke eine im
wesentlichen bloß moralische Bedeutung erhält; die Umkehr des Willens ist ihm
nicht so sehr metaphysische Tatsache als sittliche Forderung, als Pflicht zum
Zwecke der Erlösung der Menschheit, zur Erhebung der Menschheit auf eine
höhere Kulturstufe. Eine eigenartige, originelle Kombination von Schopenhauer
und Fichte und ein Fortschritt über beide hinaus! In diesem "wiedergeborenen
Leben" wird dann auch die Kunst in ihrer wahren Bedeutung erkannt. Der
dichtende Priester, "der vermittelnde Freund der Menschheit," wird uns auch
in jenes Leben hinüberbegleiten (X. 247), die Werke der großen Dichter werden
dann verstanden. "Zu uns werden alle diese dichterischen Weisen geredet haben,
und zu uns werden sie von neuem sprechen" (ebenda 248). In diesem besseren
Zustand der Menschheit "werden Religion und Kunst nicht nur erhalten, sondern
sollen sogar erst zur einzig richtigen Geltung gelangen". So hat die Kunst
überhaupt, so hat insbesondere des Meisters eigene Kunst eine hohe Aufgabe.
AIs Künstler fühlt sich Wagner, ganz wie Schiller, als Hohepriester im Dienst
der Menschheit und ihrer Bestimmung auf dieser Erde. Gleich Fichte ist er
ein Prediger, der die verirrten Menschen zurückführen will zu dem göttlichen
Gebote, das sie auf dieser Erde leiten soll, der ihnen ihr Wesen und damit
ihre Aufgabe und ihren Zweck zum Bewußtsein bringen will. Und er ver¬
einigt Schiller und Fichte in einer Person. Als schaffender Künstler erscheint
er uns unserem Schiller verwandt, und als Schriftsteller erneuert er in seiner
Weise Fichtes "Reden an die deutsche Nation". Als einzige: Richard Wagner
schuf er Bayreuth. den Tempel, in dem sein hehres Wort am deutlichsten und
reinsten erklingen sollte, der ihm ein Beweis sein sollte für die einzigartigen
Anlagen (X. 127) und damit auch für die welthistorische Aufgabe des deutschen
Volkes und seiner Kunst.

Möge in diesem Jahre, dem Jahre, in dem der Geist von 1813 uns neu
erwacht, in dem wir auch Wagners hundertjährigen Geburtstag feiern, dies
kühne stolze Streben rein erkannt, in größerem Maße als bisher verwirklicht
werden! So feierten wir am schönsten den Genius.




Richard lvagncr und die Philosophie des deutschen Idealismus

läßt, gibt. So hat sich Wagner wieder Schiller genähert. Auch bei ihm ist es die Kunst,
die im Leben schon uns den Zustand der Ruhe genießen läßt, die uns eine
Gewähr dafür ist. daß in uns ein Göttliches wohnt, das sich durchzusetzen
vermag, das uns schließlich nach all dem Ringen und Kämpfen, wie den
Meiden, emporführt zu den heiteren Regionen, wo ewige Harmonie alles Leid
auflöst und verklärt. Diese historische, kulturgeschichtliche Aufgabe der Kunst
hat Wagner Schopenhauer gegenüber wieder zur Geltung gebracht. Die Ent¬
wicklung der Menschheit, die Geschichte, ist ihm kein Wahn, sondern eine not¬
wendige, bedeutungsvolle Stufenleiter, an derem Ende ein idealer, seliger Zustand
zu erreichen ist. Unter dem Einfluß der Philosophie des deutschen Idealismus
deutet also Wagner die Schopenhauersche Philosophie dahin um, oder bildet
sie dahin weiter, daß der zeitlose, logisch-metaphysische Grundgedanke eine im
wesentlichen bloß moralische Bedeutung erhält; die Umkehr des Willens ist ihm
nicht so sehr metaphysische Tatsache als sittliche Forderung, als Pflicht zum
Zwecke der Erlösung der Menschheit, zur Erhebung der Menschheit auf eine
höhere Kulturstufe. Eine eigenartige, originelle Kombination von Schopenhauer
und Fichte und ein Fortschritt über beide hinaus! In diesem „wiedergeborenen
Leben" wird dann auch die Kunst in ihrer wahren Bedeutung erkannt. Der
dichtende Priester, „der vermittelnde Freund der Menschheit," wird uns auch
in jenes Leben hinüberbegleiten (X. 247), die Werke der großen Dichter werden
dann verstanden. „Zu uns werden alle diese dichterischen Weisen geredet haben,
und zu uns werden sie von neuem sprechen" (ebenda 248). In diesem besseren
Zustand der Menschheit „werden Religion und Kunst nicht nur erhalten, sondern
sollen sogar erst zur einzig richtigen Geltung gelangen". So hat die Kunst
überhaupt, so hat insbesondere des Meisters eigene Kunst eine hohe Aufgabe.
AIs Künstler fühlt sich Wagner, ganz wie Schiller, als Hohepriester im Dienst
der Menschheit und ihrer Bestimmung auf dieser Erde. Gleich Fichte ist er
ein Prediger, der die verirrten Menschen zurückführen will zu dem göttlichen
Gebote, das sie auf dieser Erde leiten soll, der ihnen ihr Wesen und damit
ihre Aufgabe und ihren Zweck zum Bewußtsein bringen will. Und er ver¬
einigt Schiller und Fichte in einer Person. Als schaffender Künstler erscheint
er uns unserem Schiller verwandt, und als Schriftsteller erneuert er in seiner
Weise Fichtes „Reden an die deutsche Nation". Als einzige: Richard Wagner
schuf er Bayreuth. den Tempel, in dem sein hehres Wort am deutlichsten und
reinsten erklingen sollte, der ihm ein Beweis sein sollte für die einzigartigen
Anlagen (X. 127) und damit auch für die welthistorische Aufgabe des deutschen
Volkes und seiner Kunst.

Möge in diesem Jahre, dem Jahre, in dem der Geist von 1813 uns neu
erwacht, in dem wir auch Wagners hundertjährigen Geburtstag feiern, dies
kühne stolze Streben rein erkannt, in größerem Maße als bisher verwirklicht
werden! So feierten wir am schönsten den Genius.




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[0273] Richard lvagncr und die Philosophie des deutschen Idealismus läßt, gibt. So hat sich Wagner wieder Schiller genähert. Auch bei ihm ist es die Kunst, die im Leben schon uns den Zustand der Ruhe genießen läßt, die uns eine Gewähr dafür ist. daß in uns ein Göttliches wohnt, das sich durchzusetzen vermag, das uns schließlich nach all dem Ringen und Kämpfen, wie den Meiden, emporführt zu den heiteren Regionen, wo ewige Harmonie alles Leid auflöst und verklärt. Diese historische, kulturgeschichtliche Aufgabe der Kunst hat Wagner Schopenhauer gegenüber wieder zur Geltung gebracht. Die Ent¬ wicklung der Menschheit, die Geschichte, ist ihm kein Wahn, sondern eine not¬ wendige, bedeutungsvolle Stufenleiter, an derem Ende ein idealer, seliger Zustand zu erreichen ist. Unter dem Einfluß der Philosophie des deutschen Idealismus deutet also Wagner die Schopenhauersche Philosophie dahin um, oder bildet sie dahin weiter, daß der zeitlose, logisch-metaphysische Grundgedanke eine im wesentlichen bloß moralische Bedeutung erhält; die Umkehr des Willens ist ihm nicht so sehr metaphysische Tatsache als sittliche Forderung, als Pflicht zum Zwecke der Erlösung der Menschheit, zur Erhebung der Menschheit auf eine höhere Kulturstufe. Eine eigenartige, originelle Kombination von Schopenhauer und Fichte und ein Fortschritt über beide hinaus! In diesem „wiedergeborenen Leben" wird dann auch die Kunst in ihrer wahren Bedeutung erkannt. Der dichtende Priester, „der vermittelnde Freund der Menschheit," wird uns auch in jenes Leben hinüberbegleiten (X. 247), die Werke der großen Dichter werden dann verstanden. „Zu uns werden alle diese dichterischen Weisen geredet haben, und zu uns werden sie von neuem sprechen" (ebenda 248). In diesem besseren Zustand der Menschheit „werden Religion und Kunst nicht nur erhalten, sondern sollen sogar erst zur einzig richtigen Geltung gelangen". So hat die Kunst überhaupt, so hat insbesondere des Meisters eigene Kunst eine hohe Aufgabe. AIs Künstler fühlt sich Wagner, ganz wie Schiller, als Hohepriester im Dienst der Menschheit und ihrer Bestimmung auf dieser Erde. Gleich Fichte ist er ein Prediger, der die verirrten Menschen zurückführen will zu dem göttlichen Gebote, das sie auf dieser Erde leiten soll, der ihnen ihr Wesen und damit ihre Aufgabe und ihren Zweck zum Bewußtsein bringen will. Und er ver¬ einigt Schiller und Fichte in einer Person. Als schaffender Künstler erscheint er uns unserem Schiller verwandt, und als Schriftsteller erneuert er in seiner Weise Fichtes „Reden an die deutsche Nation". Als einzige: Richard Wagner schuf er Bayreuth. den Tempel, in dem sein hehres Wort am deutlichsten und reinsten erklingen sollte, der ihm ein Beweis sein sollte für die einzigartigen Anlagen (X. 127) und damit auch für die welthistorische Aufgabe des deutschen Volkes und seiner Kunst. Möge in diesem Jahre, dem Jahre, in dem der Geist von 1813 uns neu erwacht, in dem wir auch Wagners hundertjährigen Geburtstag feiern, dies kühne stolze Streben rein erkannt, in größerem Maße als bisher verwirklicht werden! So feierten wir am schönsten den Genius.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/273>, abgerufen am 20.05.2024.