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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

schärferen Fassung ihres Publikationspro¬
gramms mit besonderem Interesse entgegen¬
sehen.

Prof. Dr. !v. M. Becker
Theologie

Schleiernmchrr, Reden über die Religion,
herausgegeben von Dr. O. Braun (Felix
MeinerinLeiPzig). Schleiermacher, Predigten
über den christlichen Hausstand, herausge¬
geben von Prof. v. Joh. Bauer (F. Meiner).

Die beiden Schleiermacher - Bände sind
Einzelausgaben aus einer größeren, von
Dr. O. Braun herausgegebenen Auswahl der
Werke Schleiermachers aus dem Verlage von
Felix Meiner in Leipzig. Sie sollen offenbar
dem sehr berechtigten Zweck dienen, die dem
Verständnis des gebildeten Menschen unserer
Tage am meisten entgegenkommenden Schriften
Schleiermachers einen: größeren Kreise zu¬
gänglich zu machen. Aus dieser Absicht her¬
aus hat auch der Herausgeber der Predigten,
Prof. v. Joh. Bauer, jede Predigt eingehend
eingeleitet und im Interesse einer besseren
Übersichtlichkeit durch fortlaufende Anmer¬
kungen unter dem Text disponiert und da¬
durch dem weniger geübten Leser wertvolle
Stützen an die Hand gegeben. Der Heraus¬
geber der Reden dagegen bietet nur den
Text der ersten Ausgabe von 1799.

Es ist überaus reizvoll, diese beiden
Schriften des großen Theologen einmal
hintereinander durchzulesen. Der Leser hat
dabei etwa das Gefühl, als ob er aus einem
Walde hochstämmiger, rauschender Buchen in
eine ernste, einfach gehaltene Kirche träte.
In den Reden überall -- abgesehen von dem
vielfach gekünstelter Stil -- naturkmftiges
und urwüchsiges Leben, starke Gefühle, ener¬
gische Behauptungen; in den Predigten durch-
gehends maßvolles Wesen und weise Zurück¬
haltung in Angriff und Abwehr. In den
Reden lodert ungestüm das Feuer der jugend¬
lichen Begeisterung, in den Predigten glüht
gleichmäßig die stille Flamme des gereiften
Alters. Die beiden Schriften Verhalten sich
ähnlich zueinander wie Goethes Götz und
Tasso oder Schillers Räuber und Wallen¬
stein. Also wahrlich, die Unterschiede sind
groß! Und doch, trotz aller Verschiedenheit,
ist der Kern in beiden derselbe, und was sich

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geändert hat, ist mehr oder weniger Hülle
und Schale: Schleiermachers eigenartige Re¬
ligiosität ist in beiden Schriften in gleicher
Weise vorhanden und kommt in beiden gleich
deutlich zum Ausdruck.

In den Reden definiert Schleiermacher
daS Wesen der Religion einmal so: "Alles
Einzelne als einen Teil des Ganzen, alles
Beschränkte als eine Darstellung des Un¬
endlichen hinzunehmen, das ist ReligionI"
Und das Wesen der religiösen Wirksamkeit
kennzeichnet er an einer anderen Stelle so:
"DaS Rohe, das Barbarische, das Unförm¬
liche soll verschlungen und in organische Bil¬
dung umgestaltet werden. Nichts soll tote
Masse sein, ... alles soll eigenes, zusammen¬
gesetztes, vielfach verschlungenes und erhöhtes
Leben sein." Sachlich übereinstimmend, nur
in der Terminologie abweichend, betont er
in den Predigten mehrfach, daß die religiöse
Betrachtung erst da beginnt, wo alles irdische
sub specie aeternitatis, als göttliche Schöpf¬
ung, als großer Zusammenhang des gött¬
lichen Tuns angesehen werde, und religiöses
Wirken erst da vorhanden ist, wo alles Han¬
deln auf Vergeistigung, Heiligung und Er¬
füllung des göttlichen Willens abzwecke. Ja,
in einzelnen Fällen sind auch die Ausdrücke
des Predigers noch dieselben wie die des um
20 Jahre jüngeren Redners, wenn er z. B.
von "der heiligen Bewegung" spricht, "die
unser Herz in diesen Zeiten erfahren hat",
oder wenn er das irdische Leben "Gottes
heiligen Leib" nennt, "der von seiner Lebens¬
kraft durchdrungen sein soll". Wie sollte sich
auch ein Mensch so ändern können, daß ein
Zeitraum von zwanzig Jahren genügte, um
seine grundlegenden Anschauungen über Re¬
ligion aus weiß in schwarz zu verkehren?
Im Grunde ändert ein Mensch seine religiöse
Überzeugung überhaupt nicht; denn alle wirk¬
liche Religiosität eines Menschen wächst aus
seinem gesamten Welt- und Lebensgefühl
heraus, dies aber wird mit ihm geboren und
bleibt unwandelbar dasselbe. Gewiß nimmt
der Mensch an Fertigkeiten und Kenntnissen
zu, erweitert seinen Horizont und baut sich
sein System immer mehr und mehr aus,
aber der Grundriß, der dem Hause die eigen¬
tümliche Gestalt gibt, ist auf rätselhafte Weise
von vornherein da und wird nicht in saurer

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Prof. Dr. !v. M. Becker
Theologie

Schleiernmchrr, Reden über die Religion,
herausgegeben von Dr. O. Braun (Felix
MeinerinLeiPzig). Schleiermacher, Predigten
über den christlichen Hausstand, herausge¬
geben von Prof. v. Joh. Bauer (F. Meiner).

Die beiden Schleiermacher - Bände sind
Einzelausgaben aus einer größeren, von
Dr. O. Braun herausgegebenen Auswahl der
Werke Schleiermachers aus dem Verlage von
Felix Meiner in Leipzig. Sie sollen offenbar
dem sehr berechtigten Zweck dienen, die dem
Verständnis des gebildeten Menschen unserer
Tage am meisten entgegenkommenden Schriften
Schleiermachers einen: größeren Kreise zu¬
gänglich zu machen. Aus dieser Absicht her¬
aus hat auch der Herausgeber der Predigten,
Prof. v. Joh. Bauer, jede Predigt eingehend
eingeleitet und im Interesse einer besseren
Übersichtlichkeit durch fortlaufende Anmer¬
kungen unter dem Text disponiert und da¬
durch dem weniger geübten Leser wertvolle
Stützen an die Hand gegeben. Der Heraus¬
geber der Reden dagegen bietet nur den
Text der ersten Ausgabe von 1799.

Es ist überaus reizvoll, diese beiden
Schriften des großen Theologen einmal
hintereinander durchzulesen. Der Leser hat
dabei etwa das Gefühl, als ob er aus einem
Walde hochstämmiger, rauschender Buchen in
eine ernste, einfach gehaltene Kirche träte.
In den Reden überall — abgesehen von dem
vielfach gekünstelter Stil — naturkmftiges
und urwüchsiges Leben, starke Gefühle, ener¬
gische Behauptungen; in den Predigten durch-
gehends maßvolles Wesen und weise Zurück¬
haltung in Angriff und Abwehr. In den
Reden lodert ungestüm das Feuer der jugend¬
lichen Begeisterung, in den Predigten glüht
gleichmäßig die stille Flamme des gereiften
Alters. Die beiden Schriften Verhalten sich
ähnlich zueinander wie Goethes Götz und
Tasso oder Schillers Räuber und Wallen¬
stein. Also wahrlich, die Unterschiede sind
groß! Und doch, trotz aller Verschiedenheit,
ist der Kern in beiden derselbe, und was sich

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geändert hat, ist mehr oder weniger Hülle
und Schale: Schleiermachers eigenartige Re¬
ligiosität ist in beiden Schriften in gleicher
Weise vorhanden und kommt in beiden gleich
deutlich zum Ausdruck.

In den Reden definiert Schleiermacher
daS Wesen der Religion einmal so: „Alles
Einzelne als einen Teil des Ganzen, alles
Beschränkte als eine Darstellung des Un¬
endlichen hinzunehmen, das ist ReligionI"
Und das Wesen der religiösen Wirksamkeit
kennzeichnet er an einer anderen Stelle so:
„DaS Rohe, das Barbarische, das Unförm¬
liche soll verschlungen und in organische Bil¬
dung umgestaltet werden. Nichts soll tote
Masse sein, ... alles soll eigenes, zusammen¬
gesetztes, vielfach verschlungenes und erhöhtes
Leben sein." Sachlich übereinstimmend, nur
in der Terminologie abweichend, betont er
in den Predigten mehrfach, daß die religiöse
Betrachtung erst da beginnt, wo alles irdische
sub specie aeternitatis, als göttliche Schöpf¬
ung, als großer Zusammenhang des gött¬
lichen Tuns angesehen werde, und religiöses
Wirken erst da vorhanden ist, wo alles Han¬
deln auf Vergeistigung, Heiligung und Er¬
füllung des göttlichen Willens abzwecke. Ja,
in einzelnen Fällen sind auch die Ausdrücke
des Predigers noch dieselben wie die des um
20 Jahre jüngeren Redners, wenn er z. B.
von „der heiligen Bewegung" spricht, „die
unser Herz in diesen Zeiten erfahren hat",
oder wenn er das irdische Leben „Gottes
heiligen Leib" nennt, „der von seiner Lebens¬
kraft durchdrungen sein soll". Wie sollte sich
auch ein Mensch so ändern können, daß ein
Zeitraum von zwanzig Jahren genügte, um
seine grundlegenden Anschauungen über Re¬
ligion aus weiß in schwarz zu verkehren?
Im Grunde ändert ein Mensch seine religiöse
Überzeugung überhaupt nicht; denn alle wirk¬
liche Religiosität eines Menschen wächst aus
seinem gesamten Welt- und Lebensgefühl
heraus, dies aber wird mit ihm geboren und
bleibt unwandelbar dasselbe. Gewiß nimmt
der Mensch an Fertigkeiten und Kenntnissen
zu, erweitert seinen Horizont und baut sich
sein System immer mehr und mehr aus,
aber der Grundriß, der dem Hause die eigen¬
tümliche Gestalt gibt, ist auf rätselhafte Weise
von vornherein da und wird nicht in saurer

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[0059] Maßgebliches und Unmaßgebliches schärferen Fassung ihres Publikationspro¬ gramms mit besonderem Interesse entgegen¬ sehen. Prof. Dr. !v. M. Becker Theologie Schleiernmchrr, Reden über die Religion, herausgegeben von Dr. O. Braun (Felix MeinerinLeiPzig). Schleiermacher, Predigten über den christlichen Hausstand, herausge¬ geben von Prof. v. Joh. Bauer (F. Meiner). Die beiden Schleiermacher - Bände sind Einzelausgaben aus einer größeren, von Dr. O. Braun herausgegebenen Auswahl der Werke Schleiermachers aus dem Verlage von Felix Meiner in Leipzig. Sie sollen offenbar dem sehr berechtigten Zweck dienen, die dem Verständnis des gebildeten Menschen unserer Tage am meisten entgegenkommenden Schriften Schleiermachers einen: größeren Kreise zu¬ gänglich zu machen. Aus dieser Absicht her¬ aus hat auch der Herausgeber der Predigten, Prof. v. Joh. Bauer, jede Predigt eingehend eingeleitet und im Interesse einer besseren Übersichtlichkeit durch fortlaufende Anmer¬ kungen unter dem Text disponiert und da¬ durch dem weniger geübten Leser wertvolle Stützen an die Hand gegeben. Der Heraus¬ geber der Reden dagegen bietet nur den Text der ersten Ausgabe von 1799. Es ist überaus reizvoll, diese beiden Schriften des großen Theologen einmal hintereinander durchzulesen. Der Leser hat dabei etwa das Gefühl, als ob er aus einem Walde hochstämmiger, rauschender Buchen in eine ernste, einfach gehaltene Kirche träte. In den Reden überall — abgesehen von dem vielfach gekünstelter Stil — naturkmftiges und urwüchsiges Leben, starke Gefühle, ener¬ gische Behauptungen; in den Predigten durch- gehends maßvolles Wesen und weise Zurück¬ haltung in Angriff und Abwehr. In den Reden lodert ungestüm das Feuer der jugend¬ lichen Begeisterung, in den Predigten glüht gleichmäßig die stille Flamme des gereiften Alters. Die beiden Schriften Verhalten sich ähnlich zueinander wie Goethes Götz und Tasso oder Schillers Räuber und Wallen¬ stein. Also wahrlich, die Unterschiede sind groß! Und doch, trotz aller Verschiedenheit, ist der Kern in beiden derselbe, und was sich geändert hat, ist mehr oder weniger Hülle und Schale: Schleiermachers eigenartige Re¬ ligiosität ist in beiden Schriften in gleicher Weise vorhanden und kommt in beiden gleich deutlich zum Ausdruck. In den Reden definiert Schleiermacher daS Wesen der Religion einmal so: „Alles Einzelne als einen Teil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Un¬ endlichen hinzunehmen, das ist ReligionI" Und das Wesen der religiösen Wirksamkeit kennzeichnet er an einer anderen Stelle so: „DaS Rohe, das Barbarische, das Unförm¬ liche soll verschlungen und in organische Bil¬ dung umgestaltet werden. Nichts soll tote Masse sein, ... alles soll eigenes, zusammen¬ gesetztes, vielfach verschlungenes und erhöhtes Leben sein." Sachlich übereinstimmend, nur in der Terminologie abweichend, betont er in den Predigten mehrfach, daß die religiöse Betrachtung erst da beginnt, wo alles irdische sub specie aeternitatis, als göttliche Schöpf¬ ung, als großer Zusammenhang des gött¬ lichen Tuns angesehen werde, und religiöses Wirken erst da vorhanden ist, wo alles Han¬ deln auf Vergeistigung, Heiligung und Er¬ füllung des göttlichen Willens abzwecke. Ja, in einzelnen Fällen sind auch die Ausdrücke des Predigers noch dieselben wie die des um 20 Jahre jüngeren Redners, wenn er z. B. von „der heiligen Bewegung" spricht, „die unser Herz in diesen Zeiten erfahren hat", oder wenn er das irdische Leben „Gottes heiligen Leib" nennt, „der von seiner Lebens¬ kraft durchdrungen sein soll". Wie sollte sich auch ein Mensch so ändern können, daß ein Zeitraum von zwanzig Jahren genügte, um seine grundlegenden Anschauungen über Re¬ ligion aus weiß in schwarz zu verkehren? Im Grunde ändert ein Mensch seine religiöse Überzeugung überhaupt nicht; denn alle wirk¬ liche Religiosität eines Menschen wächst aus seinem gesamten Welt- und Lebensgefühl heraus, dies aber wird mit ihm geboren und bleibt unwandelbar dasselbe. Gewiß nimmt der Mensch an Fertigkeiten und Kenntnissen zu, erweitert seinen Horizont und baut sich sein System immer mehr und mehr aus, aber der Grundriß, der dem Hause die eigen¬ tümliche Gestalt gibt, ist auf rätselhafte Weise von vornherein da und wird nicht in saurer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/59>, abgerufen am 11.06.2024.