Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Ritualmord und Blutaberglaube

habe; und wenn man zu dem Ergebnisse kommt, daß es tatsächlich einen
jüdischen Ritualmord nicht gibt und nicht gegeben hat. weiter danach zu fragen^
wie sich die hartnäckige Erhaltung dieses Aberglaubens erklärt.

Wer einen Einblick in die schon eine kleine Bibliothek füllende Literatur
über diese Frage gewonnen hat, der weiß, daß wohl nur bei wenigen Pro¬
blemen hüben und drüben fast durchweg mit einer solchen Leidenschaftlichkeit
gekämpft morden ist, wie bei dem Ritualmordproblem, und daß es infolgedessen
fast unmöglich erscheint, sich ein auf Tatsachen gegründetes Urteil über das
Ritualmordproblem zu bilden.

Und doch ist es heute möglich, eine Theorie über die Ritualmordfrage
aufzustellen, die mehr als eine bloße Hypothese ist, die jedenfalls nach dem
heutigen Stande unseres Wissens darauf Anspruch machen kann, die Frage zu
entscheiden, ob es wirklich jüdische Ritualmorde gibt oder jemals gegeben hat,
oder nicht.

Aber nur dann wird man die Ritualmordfrage in ihrer geschichtlichen
Entwicklung wirklich verstehen und das, was an der Beschuldigung möglicher¬
weise wahr ist, ausscheiden können, wenn man psychologisch geschult und be¬
sonders auch mit den Forschungen der letzten Jahrzehnte über die Aussage¬
psychologie von Grund auf vertraut ist, und wenn man überdies noch die
volkskundliche und völkerkundliche Literatur über den Aberglauben, namentlich
den auch im zwanzigsten Jahrhundert noch überaus lebenskräftigen kriminellen
Aberglauben vollkommen beherrscht.

Da immer noch in den weitesten Volksschichten, und nicht nur im Osten
Europas, sondern auch in Österreich sowie bei uns, über den Ritualmord An¬
schauungen herrschen, deren Ursprung auf das Mittelalter zurückgeführt werden
kann, dürfte es angebracht sein, einmal den Versuch zu machen, von obigen
Gesichtspunkten aus zur Klärung der Frage beizutragen. Dies erscheint um so
wünschenswerter, als der Kiewer Nitualmordprozeß durch die Gutachten eines
russischen Geistlichen und eines russischen Psychiaters, sowie durch die in den
Zeugenaussagen zum Ausdruck kommenden Volksanschauungen und Volks¬
phantastereien sicherlich sein Teil dazu beitragen wird, daß der Ritualmord¬
gedanke wieder mit größerer Lebendigkeit auftaucht. Erfahrungen, die man im
Anschluß an den Polnaer Ritualmordprozeß gemacht hat, lassen es als nicht
unwahrscheinlich erscheinen, daß in den nächsten Jahren der Ritualmordgedanke
mehr noch als bisher die Masse beherrschen und zu unerfreulichen Erscheinungen
führen wird. Da dürfte es denn die Pflicht eines jeden Kundigen sein, der
sich seiner Verantwortlichkeit bewußt ist. zur Aufklärung weiterer Kreise über
diese Frage beizutragen.

Befriedigendes über das Ritualmordproblem zu sagen, ist eigentlich erst
in den letzten Jahren möglich geworden, seitdem eingehende Untersuchungen
anerkannter Kenner des jüdischen Schrifttums den Nachweis erbracht haben,
daß in den jüdischen Religionsschristen Anschauungen, die den Glauben an


Ritualmord und Blutaberglaube

habe; und wenn man zu dem Ergebnisse kommt, daß es tatsächlich einen
jüdischen Ritualmord nicht gibt und nicht gegeben hat. weiter danach zu fragen^
wie sich die hartnäckige Erhaltung dieses Aberglaubens erklärt.

Wer einen Einblick in die schon eine kleine Bibliothek füllende Literatur
über diese Frage gewonnen hat, der weiß, daß wohl nur bei wenigen Pro¬
blemen hüben und drüben fast durchweg mit einer solchen Leidenschaftlichkeit
gekämpft morden ist, wie bei dem Ritualmordproblem, und daß es infolgedessen
fast unmöglich erscheint, sich ein auf Tatsachen gegründetes Urteil über das
Ritualmordproblem zu bilden.

Und doch ist es heute möglich, eine Theorie über die Ritualmordfrage
aufzustellen, die mehr als eine bloße Hypothese ist, die jedenfalls nach dem
heutigen Stande unseres Wissens darauf Anspruch machen kann, die Frage zu
entscheiden, ob es wirklich jüdische Ritualmorde gibt oder jemals gegeben hat,
oder nicht.

Aber nur dann wird man die Ritualmordfrage in ihrer geschichtlichen
Entwicklung wirklich verstehen und das, was an der Beschuldigung möglicher¬
weise wahr ist, ausscheiden können, wenn man psychologisch geschult und be¬
sonders auch mit den Forschungen der letzten Jahrzehnte über die Aussage¬
psychologie von Grund auf vertraut ist, und wenn man überdies noch die
volkskundliche und völkerkundliche Literatur über den Aberglauben, namentlich
den auch im zwanzigsten Jahrhundert noch überaus lebenskräftigen kriminellen
Aberglauben vollkommen beherrscht.

Da immer noch in den weitesten Volksschichten, und nicht nur im Osten
Europas, sondern auch in Österreich sowie bei uns, über den Ritualmord An¬
schauungen herrschen, deren Ursprung auf das Mittelalter zurückgeführt werden
kann, dürfte es angebracht sein, einmal den Versuch zu machen, von obigen
Gesichtspunkten aus zur Klärung der Frage beizutragen. Dies erscheint um so
wünschenswerter, als der Kiewer Nitualmordprozeß durch die Gutachten eines
russischen Geistlichen und eines russischen Psychiaters, sowie durch die in den
Zeugenaussagen zum Ausdruck kommenden Volksanschauungen und Volks¬
phantastereien sicherlich sein Teil dazu beitragen wird, daß der Ritualmord¬
gedanke wieder mit größerer Lebendigkeit auftaucht. Erfahrungen, die man im
Anschluß an den Polnaer Ritualmordprozeß gemacht hat, lassen es als nicht
unwahrscheinlich erscheinen, daß in den nächsten Jahren der Ritualmordgedanke
mehr noch als bisher die Masse beherrschen und zu unerfreulichen Erscheinungen
führen wird. Da dürfte es denn die Pflicht eines jeden Kundigen sein, der
sich seiner Verantwortlichkeit bewußt ist. zur Aufklärung weiterer Kreise über
diese Frage beizutragen.

Befriedigendes über das Ritualmordproblem zu sagen, ist eigentlich erst
in den letzten Jahren möglich geworden, seitdem eingehende Untersuchungen
anerkannter Kenner des jüdischen Schrifttums den Nachweis erbracht haben,
daß in den jüdischen Religionsschristen Anschauungen, die den Glauben an


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0162" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/326974"/>
          <fw type="header" place="top"> Ritualmord und Blutaberglaube</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_602" prev="#ID_601"> habe; und wenn man zu dem Ergebnisse kommt, daß es tatsächlich einen<lb/>
jüdischen Ritualmord nicht gibt und nicht gegeben hat. weiter danach zu fragen^<lb/>
wie sich die hartnäckige Erhaltung dieses Aberglaubens erklärt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_603"> Wer einen Einblick in die schon eine kleine Bibliothek füllende Literatur<lb/>
über diese Frage gewonnen hat, der weiß, daß wohl nur bei wenigen Pro¬<lb/>
blemen hüben und drüben fast durchweg mit einer solchen Leidenschaftlichkeit<lb/>
gekämpft morden ist, wie bei dem Ritualmordproblem, und daß es infolgedessen<lb/>
fast unmöglich erscheint, sich ein auf Tatsachen gegründetes Urteil über das<lb/>
Ritualmordproblem zu bilden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_604"> Und doch ist es heute möglich, eine Theorie über die Ritualmordfrage<lb/>
aufzustellen, die mehr als eine bloße Hypothese ist, die jedenfalls nach dem<lb/>
heutigen Stande unseres Wissens darauf Anspruch machen kann, die Frage zu<lb/>
entscheiden, ob es wirklich jüdische Ritualmorde gibt oder jemals gegeben hat,<lb/>
oder nicht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_605"> Aber nur dann wird man die Ritualmordfrage in ihrer geschichtlichen<lb/>
Entwicklung wirklich verstehen und das, was an der Beschuldigung möglicher¬<lb/>
weise wahr ist, ausscheiden können, wenn man psychologisch geschult und be¬<lb/>
sonders auch mit den Forschungen der letzten Jahrzehnte über die Aussage¬<lb/>
psychologie von Grund auf vertraut ist, und wenn man überdies noch die<lb/>
volkskundliche und völkerkundliche Literatur über den Aberglauben, namentlich<lb/>
den auch im zwanzigsten Jahrhundert noch überaus lebenskräftigen kriminellen<lb/>
Aberglauben vollkommen beherrscht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_606"> Da immer noch in den weitesten Volksschichten, und nicht nur im Osten<lb/>
Europas, sondern auch in Österreich sowie bei uns, über den Ritualmord An¬<lb/>
schauungen herrschen, deren Ursprung auf das Mittelalter zurückgeführt werden<lb/>
kann, dürfte es angebracht sein, einmal den Versuch zu machen, von obigen<lb/>
Gesichtspunkten aus zur Klärung der Frage beizutragen. Dies erscheint um so<lb/>
wünschenswerter, als der Kiewer Nitualmordprozeß durch die Gutachten eines<lb/>
russischen Geistlichen und eines russischen Psychiaters, sowie durch die in den<lb/>
Zeugenaussagen zum Ausdruck kommenden Volksanschauungen und Volks¬<lb/>
phantastereien sicherlich sein Teil dazu beitragen wird, daß der Ritualmord¬<lb/>
gedanke wieder mit größerer Lebendigkeit auftaucht. Erfahrungen, die man im<lb/>
Anschluß an den Polnaer Ritualmordprozeß gemacht hat, lassen es als nicht<lb/>
unwahrscheinlich erscheinen, daß in den nächsten Jahren der Ritualmordgedanke<lb/>
mehr noch als bisher die Masse beherrschen und zu unerfreulichen Erscheinungen<lb/>
führen wird. Da dürfte es denn die Pflicht eines jeden Kundigen sein, der<lb/>
sich seiner Verantwortlichkeit bewußt ist. zur Aufklärung weiterer Kreise über<lb/>
diese Frage beizutragen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_607" next="#ID_608"> Befriedigendes über das Ritualmordproblem zu sagen, ist eigentlich erst<lb/>
in den letzten Jahren möglich geworden, seitdem eingehende Untersuchungen<lb/>
anerkannter Kenner des jüdischen Schrifttums den Nachweis erbracht haben,<lb/>
daß in den jüdischen Religionsschristen Anschauungen, die den Glauben an</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0162] Ritualmord und Blutaberglaube habe; und wenn man zu dem Ergebnisse kommt, daß es tatsächlich einen jüdischen Ritualmord nicht gibt und nicht gegeben hat. weiter danach zu fragen^ wie sich die hartnäckige Erhaltung dieses Aberglaubens erklärt. Wer einen Einblick in die schon eine kleine Bibliothek füllende Literatur über diese Frage gewonnen hat, der weiß, daß wohl nur bei wenigen Pro¬ blemen hüben und drüben fast durchweg mit einer solchen Leidenschaftlichkeit gekämpft morden ist, wie bei dem Ritualmordproblem, und daß es infolgedessen fast unmöglich erscheint, sich ein auf Tatsachen gegründetes Urteil über das Ritualmordproblem zu bilden. Und doch ist es heute möglich, eine Theorie über die Ritualmordfrage aufzustellen, die mehr als eine bloße Hypothese ist, die jedenfalls nach dem heutigen Stande unseres Wissens darauf Anspruch machen kann, die Frage zu entscheiden, ob es wirklich jüdische Ritualmorde gibt oder jemals gegeben hat, oder nicht. Aber nur dann wird man die Ritualmordfrage in ihrer geschichtlichen Entwicklung wirklich verstehen und das, was an der Beschuldigung möglicher¬ weise wahr ist, ausscheiden können, wenn man psychologisch geschult und be¬ sonders auch mit den Forschungen der letzten Jahrzehnte über die Aussage¬ psychologie von Grund auf vertraut ist, und wenn man überdies noch die volkskundliche und völkerkundliche Literatur über den Aberglauben, namentlich den auch im zwanzigsten Jahrhundert noch überaus lebenskräftigen kriminellen Aberglauben vollkommen beherrscht. Da immer noch in den weitesten Volksschichten, und nicht nur im Osten Europas, sondern auch in Österreich sowie bei uns, über den Ritualmord An¬ schauungen herrschen, deren Ursprung auf das Mittelalter zurückgeführt werden kann, dürfte es angebracht sein, einmal den Versuch zu machen, von obigen Gesichtspunkten aus zur Klärung der Frage beizutragen. Dies erscheint um so wünschenswerter, als der Kiewer Nitualmordprozeß durch die Gutachten eines russischen Geistlichen und eines russischen Psychiaters, sowie durch die in den Zeugenaussagen zum Ausdruck kommenden Volksanschauungen und Volks¬ phantastereien sicherlich sein Teil dazu beitragen wird, daß der Ritualmord¬ gedanke wieder mit größerer Lebendigkeit auftaucht. Erfahrungen, die man im Anschluß an den Polnaer Ritualmordprozeß gemacht hat, lassen es als nicht unwahrscheinlich erscheinen, daß in den nächsten Jahren der Ritualmordgedanke mehr noch als bisher die Masse beherrschen und zu unerfreulichen Erscheinungen führen wird. Da dürfte es denn die Pflicht eines jeden Kundigen sein, der sich seiner Verantwortlichkeit bewußt ist. zur Aufklärung weiterer Kreise über diese Frage beizutragen. Befriedigendes über das Ritualmordproblem zu sagen, ist eigentlich erst in den letzten Jahren möglich geworden, seitdem eingehende Untersuchungen anerkannter Kenner des jüdischen Schrifttums den Nachweis erbracht haben, daß in den jüdischen Religionsschristen Anschauungen, die den Glauben an

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/162
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/162>, abgerufen am 13.05.2024.