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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Der Zeichenunterricht und die Zukunft unserer höheren Schulen

Wie aber kommen diejenigen Berufe auf ihre Rechnung, für die das Zeichnen
das eigentliche Lebenselement ist? In welcher Schule sollen künftige Maler,
Bildhauer, Kunsthandwerker, Eisenbahningenieure, Maschinenbauer, Offiziere,
Schiffsbauer usw. soviel künstlerisches Zeichnen und darstellende Geometrie
lernen, daß sie nicht unvorbereitet in ihren künftigen Beruf eintreten? Wo steht
das Zeichnen wirklich im Mittelpunkt des Unterrichts, derart, daß es dem Schüler
durch jahrelangen Betrieb so in Fleisch und Blut übergeht, daß er es wie seine
Muttersprache beherrscht, daß er jede einfachere Darstellung und Konstruktion
gewissermaßen im Schlafe ausführen kann? Ein solcher Schultypus muß erst
noch geschaffen werden. Ja, wenn die Realschulen nur künftige Lehrer der
Mathematik und Naturwissenschaften, nur Chemiker und Landwirte vorzubereiten
hätten, dann könnte man mit dem bisherigen Schulbetriebe zufrieden sein. So wie
die Dinge jetzt liegen, muß in anderer Weise vorgesorgt werden.

Wie diese Reform nun durchzuführen wäre, mögen die Schultechniker ent¬
scheiden. Man könnte an die Gründung einer neuen Schulgattung denken, die
gleichberechtigt neben das Gymnasium und die Realschule zu treten hätte und an
Welcher der Zeichen- und Handarbeitsunterricht im Mittelpunkt stehen müßte. Das
wäre natürlich besonders für die kleineren Landstädte mit manchen Unbequemlich¬
keiten verbunden und würde die sreie Berufswahl der Jugend wesentlich ein¬
schränken. Man könnte aber auch eine Gabelung der Realschule in den oberen
Klassen ins Auge fassen, mit einer Sekunda oder Prima naturwissenschaftlichen
und einer anderen technisch-künstlerischen Charakters. Man könnte sich
endlich die ganze Reform in Zusammenhang mit der Entwicklung der Einheits¬
schule denken. Darüber will ich nur kein Urteil erlauben. Nur vor einem
möchte ich warnen, nämlich vor dem Popanz der "allgemeinen Bildung", der
ja längst nur noch ein künstliches Leben fristet. Man lasse ihn endlich fallen
und führe das Fachprinzip schon in den oberen Klassen, etwa vom fünfzehnten
Jahre an aufwärts, zwar nicht völlig durch, aber gewähre ihm neben der all¬
gemeinen Bildung einen Platz. Das ist die Zeit, in der die besondere Begabung
"mes Knaben, wenigstens in bezug auf die Dreiteilung: Geisteswissenschaft. Natur-
Wissenschaft und Technik, deutlich zu erkennen ist. Die allgemeine Bildung wird
unter dieser Differenzierung nicht leiden, sondern im Gegenteil nur gewinnen.
Denn was man im Hinblick auf seinen späteren Beruf lernt, haftet fester, als
was gewissermaßen in der Luft schwebt. Das aber sollte man immer im Auge
behalten: die Schulen sind nicht um ihrer selbst willen da, sondem um der Be-
rufe willen, auf die sie vorbereiten sollen. Andern sich die Kulturoerhältnisse
und mit ihnen die Berufsmöglichkeiten der oberen Zehntausend, so müssen sich
auch die Schultypen ändern, ^on scliolae 8ca vitse äigeimus.




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Der Zeichenunterricht und die Zukunft unserer höheren Schulen

Wie aber kommen diejenigen Berufe auf ihre Rechnung, für die das Zeichnen
das eigentliche Lebenselement ist? In welcher Schule sollen künftige Maler,
Bildhauer, Kunsthandwerker, Eisenbahningenieure, Maschinenbauer, Offiziere,
Schiffsbauer usw. soviel künstlerisches Zeichnen und darstellende Geometrie
lernen, daß sie nicht unvorbereitet in ihren künftigen Beruf eintreten? Wo steht
das Zeichnen wirklich im Mittelpunkt des Unterrichts, derart, daß es dem Schüler
durch jahrelangen Betrieb so in Fleisch und Blut übergeht, daß er es wie seine
Muttersprache beherrscht, daß er jede einfachere Darstellung und Konstruktion
gewissermaßen im Schlafe ausführen kann? Ein solcher Schultypus muß erst
noch geschaffen werden. Ja, wenn die Realschulen nur künftige Lehrer der
Mathematik und Naturwissenschaften, nur Chemiker und Landwirte vorzubereiten
hätten, dann könnte man mit dem bisherigen Schulbetriebe zufrieden sein. So wie
die Dinge jetzt liegen, muß in anderer Weise vorgesorgt werden.

Wie diese Reform nun durchzuführen wäre, mögen die Schultechniker ent¬
scheiden. Man könnte an die Gründung einer neuen Schulgattung denken, die
gleichberechtigt neben das Gymnasium und die Realschule zu treten hätte und an
Welcher der Zeichen- und Handarbeitsunterricht im Mittelpunkt stehen müßte. Das
wäre natürlich besonders für die kleineren Landstädte mit manchen Unbequemlich¬
keiten verbunden und würde die sreie Berufswahl der Jugend wesentlich ein¬
schränken. Man könnte aber auch eine Gabelung der Realschule in den oberen
Klassen ins Auge fassen, mit einer Sekunda oder Prima naturwissenschaftlichen
und einer anderen technisch-künstlerischen Charakters. Man könnte sich
endlich die ganze Reform in Zusammenhang mit der Entwicklung der Einheits¬
schule denken. Darüber will ich nur kein Urteil erlauben. Nur vor einem
möchte ich warnen, nämlich vor dem Popanz der „allgemeinen Bildung", der
ja längst nur noch ein künstliches Leben fristet. Man lasse ihn endlich fallen
und führe das Fachprinzip schon in den oberen Klassen, etwa vom fünfzehnten
Jahre an aufwärts, zwar nicht völlig durch, aber gewähre ihm neben der all¬
gemeinen Bildung einen Platz. Das ist die Zeit, in der die besondere Begabung
«mes Knaben, wenigstens in bezug auf die Dreiteilung: Geisteswissenschaft. Natur-
Wissenschaft und Technik, deutlich zu erkennen ist. Die allgemeine Bildung wird
unter dieser Differenzierung nicht leiden, sondern im Gegenteil nur gewinnen.
Denn was man im Hinblick auf seinen späteren Beruf lernt, haftet fester, als
was gewissermaßen in der Luft schwebt. Das aber sollte man immer im Auge
behalten: die Schulen sind nicht um ihrer selbst willen da, sondem um der Be-
rufe willen, auf die sie vorbereiten sollen. Andern sich die Kulturoerhältnisse
und mit ihnen die Berufsmöglichkeiten der oberen Zehntausend, so müssen sich
auch die Schultypen ändern, ^on scliolae 8ca vitse äigeimus.




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[0223] Der Zeichenunterricht und die Zukunft unserer höheren Schulen Wie aber kommen diejenigen Berufe auf ihre Rechnung, für die das Zeichnen das eigentliche Lebenselement ist? In welcher Schule sollen künftige Maler, Bildhauer, Kunsthandwerker, Eisenbahningenieure, Maschinenbauer, Offiziere, Schiffsbauer usw. soviel künstlerisches Zeichnen und darstellende Geometrie lernen, daß sie nicht unvorbereitet in ihren künftigen Beruf eintreten? Wo steht das Zeichnen wirklich im Mittelpunkt des Unterrichts, derart, daß es dem Schüler durch jahrelangen Betrieb so in Fleisch und Blut übergeht, daß er es wie seine Muttersprache beherrscht, daß er jede einfachere Darstellung und Konstruktion gewissermaßen im Schlafe ausführen kann? Ein solcher Schultypus muß erst noch geschaffen werden. Ja, wenn die Realschulen nur künftige Lehrer der Mathematik und Naturwissenschaften, nur Chemiker und Landwirte vorzubereiten hätten, dann könnte man mit dem bisherigen Schulbetriebe zufrieden sein. So wie die Dinge jetzt liegen, muß in anderer Weise vorgesorgt werden. Wie diese Reform nun durchzuführen wäre, mögen die Schultechniker ent¬ scheiden. Man könnte an die Gründung einer neuen Schulgattung denken, die gleichberechtigt neben das Gymnasium und die Realschule zu treten hätte und an Welcher der Zeichen- und Handarbeitsunterricht im Mittelpunkt stehen müßte. Das wäre natürlich besonders für die kleineren Landstädte mit manchen Unbequemlich¬ keiten verbunden und würde die sreie Berufswahl der Jugend wesentlich ein¬ schränken. Man könnte aber auch eine Gabelung der Realschule in den oberen Klassen ins Auge fassen, mit einer Sekunda oder Prima naturwissenschaftlichen und einer anderen technisch-künstlerischen Charakters. Man könnte sich endlich die ganze Reform in Zusammenhang mit der Entwicklung der Einheits¬ schule denken. Darüber will ich nur kein Urteil erlauben. Nur vor einem möchte ich warnen, nämlich vor dem Popanz der „allgemeinen Bildung", der ja längst nur noch ein künstliches Leben fristet. Man lasse ihn endlich fallen und führe das Fachprinzip schon in den oberen Klassen, etwa vom fünfzehnten Jahre an aufwärts, zwar nicht völlig durch, aber gewähre ihm neben der all¬ gemeinen Bildung einen Platz. Das ist die Zeit, in der die besondere Begabung «mes Knaben, wenigstens in bezug auf die Dreiteilung: Geisteswissenschaft. Natur- Wissenschaft und Technik, deutlich zu erkennen ist. Die allgemeine Bildung wird unter dieser Differenzierung nicht leiden, sondern im Gegenteil nur gewinnen. Denn was man im Hinblick auf seinen späteren Beruf lernt, haftet fester, als was gewissermaßen in der Luft schwebt. Das aber sollte man immer im Auge behalten: die Schulen sind nicht um ihrer selbst willen da, sondem um der Be- rufe willen, auf die sie vorbereiten sollen. Andern sich die Kulturoerhältnisse und mit ihnen die Berufsmöglichkeiten der oberen Zehntausend, so müssen sich auch die Schultypen ändern, ^on scliolae 8ca vitse äigeimus. 14*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/223>, abgerufen am 13.05.2024.