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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Niaßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Allerdings: ob wir als Leser, als Em¬
pfangende den Optimismus dieser Entwick¬
lung zu teilen vermögen -- das ist eine andere
Frage. Ich für mein Teil muß erklären,
daß ich an den bon Hauptmann gewallten
Genesungsprozeß im Falle Kammacher nicht
glaube. Die Linie dieses Genesungsprozesses
verläuft in so äußerlichen, so gewaltsam kon¬
struierten Bahnen, daß die ernstesten Zweifel
an seiner Glaubwürdigkeit geradezu Provo¬
ziert werden. Friedrich von Kammacher er¬
lebt auf seiner Überfahrt nach New Uork eine
Schiffbruchskatastrophe, die dem "Roland"
und fast allen seinen Insassen das Leben
kostet. Mit Jngigard und einem kleinen
Häuflein Geretteier entgeht er dem Untergang
mit knapper Not und findet sich nach Tagen
fürchterlichster Anspannung und Qual im
Hafen von New Uork wieder. Hier im neuen
Weltteil, wo alles überraschend und verwirrend
auf ihn einstürmt, hier, wo mit den Erinne¬
rungen an die "Roland"-Katastrophe zugleich
das Bewußtsein eines unausrottbaren Lebens¬
dranges wieder in ihm erstarkt -- hier findet
er unter den Händen teilnehmender Freunde
aus den Fiebern seines Traums zur Wirk¬
lichkeit, zur Gesundheit zurück. Wieder ist es
eine Frau, die als entscheidendes Erlebnis
in sein Schicksal tritt. Aber dies Erlebnis
hat nicht mehr das Verwirrende, das Kranke,
das gewaltsam Erhitzte, das Giftige, das
über seinen Beziehungen zu Jngigard lag.
Dies Erlebnis wird aus der Unbestechlichkeit
und aus der klaren Luft gesunder Mensch¬
lichkeit heraus geboren. Schönheit ist darin,
und Ruhe und die ganze Sicherheit eines
wiedergefundenen Willens.

Wie gesagt: ich kann an diese Lösung
nicht glauben. Sie wächst nicht von innen
heraus, sondern sie wird künstlich mit einer
Reihe theatralischer Plakatwirkungen erläutert
und illustriert. Gewiß fallen dabei allerlei
sympathische Schlaglichter auf das menschliche
Ich des deutschen Schriftstellers Gerhart Haupt¬
mann. Auch die rein intellektuelle Arbeit, die
in dem Buche steckt, ist zweifellos erstaunlich
und bewunderungswert. Da werden mit viel
Geist und Geschmack und mit viel Positivem
Wissen die entlegensten Zeitprobleme erörtert
und feuilletonistisch beklopft. Und ab und zu
steigt wohl auch hinter den Zeilen der blasse,

[Spaltenumbruch]

skeptisch und müde gewordene Kopf eines
Dichters empor, der in einer groß angelegten
epischen Arbeit Dinge zu beichten trachtet, die
die unpersönliche Angelegenheit seiner eigenen
Menschlichkeit sind. Aber die Stimme des
Beichtenden hat alle Kraft verloren. Aus
mühsamen Abstraktionen und aus rein gedank¬
lich erzeugten Entwicklungen gähnt uns immer
wieder eine große künstlerische Armut ent¬
gegen. Das Echo, der lebendige Eindruck
bleibt aus, weil der Redner, und vor allen
Dingen der Bildner, ein müder, kranker und
ratloser Mensch geworden ist.

Ein paar Worte sind noch über das Drum
und Dran, über das, was wir oben die
Staffage des Romans nannten, zu sagen.
Der Laie wird bei einer Betrachtung des
Atlantis-Buches zweifellos den Schwerpunkt
auf diese Staffage legen. Denn in ihr liegt
alles, was Hauptmann auf laute und breite
Wirkungen gestellt hat, alles Plakatmäßige
und, wenn man so sagen darf, alles sensa¬
tionelle des Buches. Wenn man auch von
dem Zufall absieht, daß die Hauptmannsche
"Atlantis" kurz vor der Titanickatastrophe
erschien -- die Schilderung des "Roland"-
Unterganges, die einen großen Teil des Ro¬
mans in Anspruch nimmt, steht natürlich schon
aus stofflichen Gründen im Bordergrunde des
Interesses. Und es durs getrost gesagt werden,
daß Hauptmann mit dieser Schilderung eine
erstaunlich echte und Virtuosenhafte Dotail-
arbeit geleistet hat. Aber die letzte Kraft der
dichterischen Vision, die grandiosen Begeben¬
heiten dieser Art erst den lebendigen Odem
einbläst, ist auch hier wieder ausgeblieben.
Hauptmann sucht die fehlende Gestaltungs¬
kraft durch unerhörten Fleiß, durch eine fabel¬
hafte Technik im Ausmalen der Einzelheit zu
ersetzen. Aber er bleibt durchweg in der
Einzelheit stecken. Die Mosaiksteinchen wollen
sich nirgends zum großen Bilde zusammen¬
finden. Die nervenaufpeitschenden Begeben¬
heiten, die er schildert, ziehen in rein sach¬
licher, nüchterner und niemals künstlerisch zu¬
sammengeballter Form vorüber. Blaß ist
alles und unwirklich und in die zitternden
Umrisse eines verwesenden Traumes gepreßt.
Was im Leser zurückbleibt, ist nichts weiter
als die -- natürlich starke -- Sensation des
Ereignisses um sich. Der künstlerische Eindruck

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Niaßgebliches und Unmaßgebliches

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Allerdings: ob wir als Leser, als Em¬
pfangende den Optimismus dieser Entwick¬
lung zu teilen vermögen — das ist eine andere
Frage. Ich für mein Teil muß erklären,
daß ich an den bon Hauptmann gewallten
Genesungsprozeß im Falle Kammacher nicht
glaube. Die Linie dieses Genesungsprozesses
verläuft in so äußerlichen, so gewaltsam kon¬
struierten Bahnen, daß die ernstesten Zweifel
an seiner Glaubwürdigkeit geradezu Provo¬
ziert werden. Friedrich von Kammacher er¬
lebt auf seiner Überfahrt nach New Uork eine
Schiffbruchskatastrophe, die dem „Roland"
und fast allen seinen Insassen das Leben
kostet. Mit Jngigard und einem kleinen
Häuflein Geretteier entgeht er dem Untergang
mit knapper Not und findet sich nach Tagen
fürchterlichster Anspannung und Qual im
Hafen von New Uork wieder. Hier im neuen
Weltteil, wo alles überraschend und verwirrend
auf ihn einstürmt, hier, wo mit den Erinne¬
rungen an die „Roland"-Katastrophe zugleich
das Bewußtsein eines unausrottbaren Lebens¬
dranges wieder in ihm erstarkt — hier findet
er unter den Händen teilnehmender Freunde
aus den Fiebern seines Traums zur Wirk¬
lichkeit, zur Gesundheit zurück. Wieder ist es
eine Frau, die als entscheidendes Erlebnis
in sein Schicksal tritt. Aber dies Erlebnis
hat nicht mehr das Verwirrende, das Kranke,
das gewaltsam Erhitzte, das Giftige, das
über seinen Beziehungen zu Jngigard lag.
Dies Erlebnis wird aus der Unbestechlichkeit
und aus der klaren Luft gesunder Mensch¬
lichkeit heraus geboren. Schönheit ist darin,
und Ruhe und die ganze Sicherheit eines
wiedergefundenen Willens.

Wie gesagt: ich kann an diese Lösung
nicht glauben. Sie wächst nicht von innen
heraus, sondern sie wird künstlich mit einer
Reihe theatralischer Plakatwirkungen erläutert
und illustriert. Gewiß fallen dabei allerlei
sympathische Schlaglichter auf das menschliche
Ich des deutschen Schriftstellers Gerhart Haupt¬
mann. Auch die rein intellektuelle Arbeit, die
in dem Buche steckt, ist zweifellos erstaunlich
und bewunderungswert. Da werden mit viel
Geist und Geschmack und mit viel Positivem
Wissen die entlegensten Zeitprobleme erörtert
und feuilletonistisch beklopft. Und ab und zu
steigt wohl auch hinter den Zeilen der blasse,

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skeptisch und müde gewordene Kopf eines
Dichters empor, der in einer groß angelegten
epischen Arbeit Dinge zu beichten trachtet, die
die unpersönliche Angelegenheit seiner eigenen
Menschlichkeit sind. Aber die Stimme des
Beichtenden hat alle Kraft verloren. Aus
mühsamen Abstraktionen und aus rein gedank¬
lich erzeugten Entwicklungen gähnt uns immer
wieder eine große künstlerische Armut ent¬
gegen. Das Echo, der lebendige Eindruck
bleibt aus, weil der Redner, und vor allen
Dingen der Bildner, ein müder, kranker und
ratloser Mensch geworden ist.

Ein paar Worte sind noch über das Drum
und Dran, über das, was wir oben die
Staffage des Romans nannten, zu sagen.
Der Laie wird bei einer Betrachtung des
Atlantis-Buches zweifellos den Schwerpunkt
auf diese Staffage legen. Denn in ihr liegt
alles, was Hauptmann auf laute und breite
Wirkungen gestellt hat, alles Plakatmäßige
und, wenn man so sagen darf, alles sensa¬
tionelle des Buches. Wenn man auch von
dem Zufall absieht, daß die Hauptmannsche
„Atlantis" kurz vor der Titanickatastrophe
erschien — die Schilderung des „Roland"-
Unterganges, die einen großen Teil des Ro¬
mans in Anspruch nimmt, steht natürlich schon
aus stofflichen Gründen im Bordergrunde des
Interesses. Und es durs getrost gesagt werden,
daß Hauptmann mit dieser Schilderung eine
erstaunlich echte und Virtuosenhafte Dotail-
arbeit geleistet hat. Aber die letzte Kraft der
dichterischen Vision, die grandiosen Begeben¬
heiten dieser Art erst den lebendigen Odem
einbläst, ist auch hier wieder ausgeblieben.
Hauptmann sucht die fehlende Gestaltungs¬
kraft durch unerhörten Fleiß, durch eine fabel¬
hafte Technik im Ausmalen der Einzelheit zu
ersetzen. Aber er bleibt durchweg in der
Einzelheit stecken. Die Mosaiksteinchen wollen
sich nirgends zum großen Bilde zusammen¬
finden. Die nervenaufpeitschenden Begeben¬
heiten, die er schildert, ziehen in rein sach¬
licher, nüchterner und niemals künstlerisch zu¬
sammengeballter Form vorüber. Blaß ist
alles und unwirklich und in die zitternden
Umrisse eines verwesenden Traumes gepreßt.
Was im Leser zurückbleibt, ist nichts weiter
als die — natürlich starke — Sensation des
Ereignisses um sich. Der künstlerische Eindruck

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[0247] Niaßgebliches und Unmaßgebliches Allerdings: ob wir als Leser, als Em¬ pfangende den Optimismus dieser Entwick¬ lung zu teilen vermögen — das ist eine andere Frage. Ich für mein Teil muß erklären, daß ich an den bon Hauptmann gewallten Genesungsprozeß im Falle Kammacher nicht glaube. Die Linie dieses Genesungsprozesses verläuft in so äußerlichen, so gewaltsam kon¬ struierten Bahnen, daß die ernstesten Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit geradezu Provo¬ ziert werden. Friedrich von Kammacher er¬ lebt auf seiner Überfahrt nach New Uork eine Schiffbruchskatastrophe, die dem „Roland" und fast allen seinen Insassen das Leben kostet. Mit Jngigard und einem kleinen Häuflein Geretteier entgeht er dem Untergang mit knapper Not und findet sich nach Tagen fürchterlichster Anspannung und Qual im Hafen von New Uork wieder. Hier im neuen Weltteil, wo alles überraschend und verwirrend auf ihn einstürmt, hier, wo mit den Erinne¬ rungen an die „Roland"-Katastrophe zugleich das Bewußtsein eines unausrottbaren Lebens¬ dranges wieder in ihm erstarkt — hier findet er unter den Händen teilnehmender Freunde aus den Fiebern seines Traums zur Wirk¬ lichkeit, zur Gesundheit zurück. Wieder ist es eine Frau, die als entscheidendes Erlebnis in sein Schicksal tritt. Aber dies Erlebnis hat nicht mehr das Verwirrende, das Kranke, das gewaltsam Erhitzte, das Giftige, das über seinen Beziehungen zu Jngigard lag. Dies Erlebnis wird aus der Unbestechlichkeit und aus der klaren Luft gesunder Mensch¬ lichkeit heraus geboren. Schönheit ist darin, und Ruhe und die ganze Sicherheit eines wiedergefundenen Willens. Wie gesagt: ich kann an diese Lösung nicht glauben. Sie wächst nicht von innen heraus, sondern sie wird künstlich mit einer Reihe theatralischer Plakatwirkungen erläutert und illustriert. Gewiß fallen dabei allerlei sympathische Schlaglichter auf das menschliche Ich des deutschen Schriftstellers Gerhart Haupt¬ mann. Auch die rein intellektuelle Arbeit, die in dem Buche steckt, ist zweifellos erstaunlich und bewunderungswert. Da werden mit viel Geist und Geschmack und mit viel Positivem Wissen die entlegensten Zeitprobleme erörtert und feuilletonistisch beklopft. Und ab und zu steigt wohl auch hinter den Zeilen der blasse, skeptisch und müde gewordene Kopf eines Dichters empor, der in einer groß angelegten epischen Arbeit Dinge zu beichten trachtet, die die unpersönliche Angelegenheit seiner eigenen Menschlichkeit sind. Aber die Stimme des Beichtenden hat alle Kraft verloren. Aus mühsamen Abstraktionen und aus rein gedank¬ lich erzeugten Entwicklungen gähnt uns immer wieder eine große künstlerische Armut ent¬ gegen. Das Echo, der lebendige Eindruck bleibt aus, weil der Redner, und vor allen Dingen der Bildner, ein müder, kranker und ratloser Mensch geworden ist. Ein paar Worte sind noch über das Drum und Dran, über das, was wir oben die Staffage des Romans nannten, zu sagen. Der Laie wird bei einer Betrachtung des Atlantis-Buches zweifellos den Schwerpunkt auf diese Staffage legen. Denn in ihr liegt alles, was Hauptmann auf laute und breite Wirkungen gestellt hat, alles Plakatmäßige und, wenn man so sagen darf, alles sensa¬ tionelle des Buches. Wenn man auch von dem Zufall absieht, daß die Hauptmannsche „Atlantis" kurz vor der Titanickatastrophe erschien — die Schilderung des „Roland"- Unterganges, die einen großen Teil des Ro¬ mans in Anspruch nimmt, steht natürlich schon aus stofflichen Gründen im Bordergrunde des Interesses. Und es durs getrost gesagt werden, daß Hauptmann mit dieser Schilderung eine erstaunlich echte und Virtuosenhafte Dotail- arbeit geleistet hat. Aber die letzte Kraft der dichterischen Vision, die grandiosen Begeben¬ heiten dieser Art erst den lebendigen Odem einbläst, ist auch hier wieder ausgeblieben. Hauptmann sucht die fehlende Gestaltungs¬ kraft durch unerhörten Fleiß, durch eine fabel¬ hafte Technik im Ausmalen der Einzelheit zu ersetzen. Aber er bleibt durchweg in der Einzelheit stecken. Die Mosaiksteinchen wollen sich nirgends zum großen Bilde zusammen¬ finden. Die nervenaufpeitschenden Begeben¬ heiten, die er schildert, ziehen in rein sach¬ licher, nüchterner und niemals künstlerisch zu¬ sammengeballter Form vorüber. Blaß ist alles und unwirklich und in die zitternden Umrisse eines verwesenden Traumes gepreßt. Was im Leser zurückbleibt, ist nichts weiter als die — natürlich starke — Sensation des Ereignisses um sich. Der künstlerische Eindruck

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/247>, abgerufen am 14.05.2024.