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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Das Rechtsgefühl im Wandel der Zeiten

"Von dem Blute triefend
Des Vatermordes und des Kaisermords,
Wagst du zu treten in mein reines Haus?
Du wagst's, dein Antlitz einem guten Menschen
Zu zeigen und das Gastrecht zu begehren?"

Und als Parricida darauf hinweist, daß er doch Geßler erschlagen habe,
erwidert Tell:


"Unglücklicher!
Darfst Du der Ehrsucht blut'ge Schand vermengen
Mit der gerechten Rotwehr eines Vaters?
Hast du der Kinder liebes Haupt verteidigt?
Des Herdes Heiligtum beschützt, das Schrecklichste,
Das letzte von den Deinen abgewehrt?
Zum Himmel heb' ich meine reinen Hände,
Verstünde dich und deine Tat."

Tell handelt nur aus Familiengründen: in seinem Monolog sagt er
ausdrücklich:


"Am wilden Weg sitzt er mit Mordgedanken;

Das Feindes Leben ist's, worauf er lauert.

Und doch an Euch nur denkt er, liebe Kinder,

Auch jetzt -- Euch zu verteidigen, Eure holde Unschuld

Zu schützen vor der Rache des Tyrannen,

Will er zum Morde jetzt den Bogen spannen."


Börne hat sein Urteil über Tell dahin zusammengefaßt: "Ich begreife
nicht, wie man Geßlers Mord je sittlich, je schön finden konnte. Tell versteckt
sich und tötet ohne Gefahr seinen Feind, der sich ohne Gefahr glaubt."

Warum werden Tell und seine Tat bewundert? Anstatt in gerechter
Empörung Geßler niederzuschießen, als dieser ihm zumutet, den Apfel von seines
Knaben Haupt zu schießen, wagt er des Kindes Leben und nur für den Fall,
daß das Wagnis mißlingt, will er den -- doch dann auch von ihm verschuldeten
Tod des Knaben -- an Geßler rächen. Des Kindes Leben setzt er aufs Spiel;
um seine eigene Freiheit zu retten, erschießt er Geßler aus dem Hinterhalt.

Trotzdem verehren wir Tell, obwohl er Meuchelmord begeht; trotzdem
stellen wir ihm sogar den Werner Stauffacher nach, der das Interesse des
Vaterlandes über sein und seines Hauses Interesse stellt, während Tell sich von
allen Bestrebungen zur Aufrichtung seines Vaterlandes fern hält und erst tätig
wird, als er und seine Angehörigen bedroht werden. Wenn der "Tell" nicht
1804 erschienen wäre, sondern heute erschiene, vermutlich würde man den
Schillerschen Geist, die Schillersche Sprache bewundern, an dem Entwürfe des
Stoffes aber die schärfsten Ausstellungen machen.

Das Beispiel des Tell zeigt deutlich, wie unzuverlässig das Rechtsgefühl
ist, wie es abhängig ist von äußeren Verhältnissen und innerlichen Dispositionen,
die mit dein Rechtsgefühl unmittelbar nichts zu schaffen haben. In unserer Zeit


Das Rechtsgefühl im Wandel der Zeiten

„Von dem Blute triefend
Des Vatermordes und des Kaisermords,
Wagst du zu treten in mein reines Haus?
Du wagst's, dein Antlitz einem guten Menschen
Zu zeigen und das Gastrecht zu begehren?"

Und als Parricida darauf hinweist, daß er doch Geßler erschlagen habe,
erwidert Tell:


„Unglücklicher!
Darfst Du der Ehrsucht blut'ge Schand vermengen
Mit der gerechten Rotwehr eines Vaters?
Hast du der Kinder liebes Haupt verteidigt?
Des Herdes Heiligtum beschützt, das Schrecklichste,
Das letzte von den Deinen abgewehrt?
Zum Himmel heb' ich meine reinen Hände,
Verstünde dich und deine Tat."

Tell handelt nur aus Familiengründen: in seinem Monolog sagt er
ausdrücklich:


„Am wilden Weg sitzt er mit Mordgedanken;

Das Feindes Leben ist's, worauf er lauert.

Und doch an Euch nur denkt er, liebe Kinder,

Auch jetzt — Euch zu verteidigen, Eure holde Unschuld

Zu schützen vor der Rache des Tyrannen,

Will er zum Morde jetzt den Bogen spannen."


Börne hat sein Urteil über Tell dahin zusammengefaßt: „Ich begreife
nicht, wie man Geßlers Mord je sittlich, je schön finden konnte. Tell versteckt
sich und tötet ohne Gefahr seinen Feind, der sich ohne Gefahr glaubt."

Warum werden Tell und seine Tat bewundert? Anstatt in gerechter
Empörung Geßler niederzuschießen, als dieser ihm zumutet, den Apfel von seines
Knaben Haupt zu schießen, wagt er des Kindes Leben und nur für den Fall,
daß das Wagnis mißlingt, will er den — doch dann auch von ihm verschuldeten
Tod des Knaben — an Geßler rächen. Des Kindes Leben setzt er aufs Spiel;
um seine eigene Freiheit zu retten, erschießt er Geßler aus dem Hinterhalt.

Trotzdem verehren wir Tell, obwohl er Meuchelmord begeht; trotzdem
stellen wir ihm sogar den Werner Stauffacher nach, der das Interesse des
Vaterlandes über sein und seines Hauses Interesse stellt, während Tell sich von
allen Bestrebungen zur Aufrichtung seines Vaterlandes fern hält und erst tätig
wird, als er und seine Angehörigen bedroht werden. Wenn der „Tell" nicht
1804 erschienen wäre, sondern heute erschiene, vermutlich würde man den
Schillerschen Geist, die Schillersche Sprache bewundern, an dem Entwürfe des
Stoffes aber die schärfsten Ausstellungen machen.

Das Beispiel des Tell zeigt deutlich, wie unzuverlässig das Rechtsgefühl
ist, wie es abhängig ist von äußeren Verhältnissen und innerlichen Dispositionen,
die mit dein Rechtsgefühl unmittelbar nichts zu schaffen haben. In unserer Zeit


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/34>, abgerufen am 12.05.2024.