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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Imperialismus und Sozialismus

setzenden wirtschaftlichen Kampf an der Oberfläche zu bleiben. So wurde die
große Menge wirtschaftlich "befreiter", aber wirtschaftlich unbewaffneter Menschen
in einen rücksichtslosen Kampf ums Dasein gezogen, aus dem nur der Stärkste
als Sieger hervorgehen konnte. Jetzt brach die Not über sie herein. Hatten
frühere Jahrhunderte einem jeden sein mäßiges Auskommen gewährleistet und
ihm sein Maß an Arbeit zugewiesen, ohne ihm allerdings die Möglichkeit zu
geben, über dieses Maß wesentlich Hinauszugelangen, so war er jetzt den
modernen Begriffen Konkurrenz, Kapital, Arbeitsmarkt, schutzlos preisgegeben.
Die materielle Not bedrohte ihn: er konnte seine Arbeitskraft überhaupt nicht
verwerten, wenn eine billigere auf dem Markt sich anbot; so mußte er das
Äußerste leisten, mußte auf alle Rücksichten hygienischer und sozialer Art ver¬
zichten um nur Arbeit zu finden. Denn auch der Unternehmer konnte gegen
die unbeschränkte Konkurrenz auf dem internationalen Markt nur dann bestehen,
wenn er das billigste Erzeugnis herstellte. Und auch der Staat half nicht, um
nicht hindernd in das freie Spiel der Kräfte einzugreifen.

Aus dieser materiellen Not, die der schrankenlose Individualismus für die
große Menge der Arbeitnehmer herbeigeführt hatte, zeigte der Sozialismus an¬
scheinend den Ausweg. Er versprach seinen Anhängern das, was ihnen am
meisten fehlte: Hilfe in ihrer materiellen Not. Er erklärte die Ursachen alles
Übels aus der bestehenden kapitalistischen Wirtschaftsordnung, stellte den baldigen,
aus innerer Notwendigkeit heraus folgenden Zusammenbruch dieses Systems in
sichere Aussicht und verhieß, auf den Trümmern der untergegangenen eine neue,
vollkommene Wirschaftsordnung zu errichten. Da sollte ein jeder seinen Anteil
an den allgemeinen Gütern haben, jeder den entsprechenden Ertrag aus seiner
Arbeit herauswirtschafteu und sorglos leben können; da sollten alle sozialen und
Vermögensuntei schiebe von profitsüchügem Unternehmer und ausgebeuteten
Arbeiter vernichtet werden. Es ist klar, daß ein solches Programm die großen
Mengen wirklich notleidender und im politischen Denken ungeschulter Arbeiter zur
begeisterten Gefolgschaft verleiten mußte. Solchen Verheißungen gegenüber
traten alle Bedenken zurück. Ob die Probe auf das Exempel stimmen würde,
das überließ man der Zukunft. Daß die sozialistische Lehre nichts enthielt,
was den höheren Ansprüchen des Geistes hätte genügen können, daß sie nichts
weiter war als eine Summe materieller Versprechungen, die ihres wissen¬
schaftlichen Aufputzes durch ein rücksichtsloses Agitatorium noch entkleidet wurde
-- das alles übersah man. Übersah man um so leichter in einem Zeitalter,
in dem auch die gebildeten Kreise über eine materialistische Weltanschauung nicht
hinausgelangt waren. Und so ist es der Sozialdemokratie bis heute gelungen,
große Teile der einzelnen Nationen sich als Anhänger zu erhalten, trotzdem ihr
Ideal seiner Verwirklichung um keinen Schritt näher gerückt ist; trotzdem ihre
Lehre nicht über den plattesten Materialismus hinausgelangt ist.

Aber auf die Dauer wird sich dieser völlige Mangel an allem Geistigen
an der Sozialdemokratie rächen. Der Entwicklungsgang der Menschheit wird


Imperialismus und Sozialismus

setzenden wirtschaftlichen Kampf an der Oberfläche zu bleiben. So wurde die
große Menge wirtschaftlich „befreiter", aber wirtschaftlich unbewaffneter Menschen
in einen rücksichtslosen Kampf ums Dasein gezogen, aus dem nur der Stärkste
als Sieger hervorgehen konnte. Jetzt brach die Not über sie herein. Hatten
frühere Jahrhunderte einem jeden sein mäßiges Auskommen gewährleistet und
ihm sein Maß an Arbeit zugewiesen, ohne ihm allerdings die Möglichkeit zu
geben, über dieses Maß wesentlich Hinauszugelangen, so war er jetzt den
modernen Begriffen Konkurrenz, Kapital, Arbeitsmarkt, schutzlos preisgegeben.
Die materielle Not bedrohte ihn: er konnte seine Arbeitskraft überhaupt nicht
verwerten, wenn eine billigere auf dem Markt sich anbot; so mußte er das
Äußerste leisten, mußte auf alle Rücksichten hygienischer und sozialer Art ver¬
zichten um nur Arbeit zu finden. Denn auch der Unternehmer konnte gegen
die unbeschränkte Konkurrenz auf dem internationalen Markt nur dann bestehen,
wenn er das billigste Erzeugnis herstellte. Und auch der Staat half nicht, um
nicht hindernd in das freie Spiel der Kräfte einzugreifen.

Aus dieser materiellen Not, die der schrankenlose Individualismus für die
große Menge der Arbeitnehmer herbeigeführt hatte, zeigte der Sozialismus an¬
scheinend den Ausweg. Er versprach seinen Anhängern das, was ihnen am
meisten fehlte: Hilfe in ihrer materiellen Not. Er erklärte die Ursachen alles
Übels aus der bestehenden kapitalistischen Wirtschaftsordnung, stellte den baldigen,
aus innerer Notwendigkeit heraus folgenden Zusammenbruch dieses Systems in
sichere Aussicht und verhieß, auf den Trümmern der untergegangenen eine neue,
vollkommene Wirschaftsordnung zu errichten. Da sollte ein jeder seinen Anteil
an den allgemeinen Gütern haben, jeder den entsprechenden Ertrag aus seiner
Arbeit herauswirtschafteu und sorglos leben können; da sollten alle sozialen und
Vermögensuntei schiebe von profitsüchügem Unternehmer und ausgebeuteten
Arbeiter vernichtet werden. Es ist klar, daß ein solches Programm die großen
Mengen wirklich notleidender und im politischen Denken ungeschulter Arbeiter zur
begeisterten Gefolgschaft verleiten mußte. Solchen Verheißungen gegenüber
traten alle Bedenken zurück. Ob die Probe auf das Exempel stimmen würde,
das überließ man der Zukunft. Daß die sozialistische Lehre nichts enthielt,
was den höheren Ansprüchen des Geistes hätte genügen können, daß sie nichts
weiter war als eine Summe materieller Versprechungen, die ihres wissen¬
schaftlichen Aufputzes durch ein rücksichtsloses Agitatorium noch entkleidet wurde
— das alles übersah man. Übersah man um so leichter in einem Zeitalter,
in dem auch die gebildeten Kreise über eine materialistische Weltanschauung nicht
hinausgelangt waren. Und so ist es der Sozialdemokratie bis heute gelungen,
große Teile der einzelnen Nationen sich als Anhänger zu erhalten, trotzdem ihr
Ideal seiner Verwirklichung um keinen Schritt näher gerückt ist; trotzdem ihre
Lehre nicht über den plattesten Materialismus hinausgelangt ist.

Aber auf die Dauer wird sich dieser völlige Mangel an allem Geistigen
an der Sozialdemokratie rächen. Der Entwicklungsgang der Menschheit wird


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[0360] Imperialismus und Sozialismus setzenden wirtschaftlichen Kampf an der Oberfläche zu bleiben. So wurde die große Menge wirtschaftlich „befreiter", aber wirtschaftlich unbewaffneter Menschen in einen rücksichtslosen Kampf ums Dasein gezogen, aus dem nur der Stärkste als Sieger hervorgehen konnte. Jetzt brach die Not über sie herein. Hatten frühere Jahrhunderte einem jeden sein mäßiges Auskommen gewährleistet und ihm sein Maß an Arbeit zugewiesen, ohne ihm allerdings die Möglichkeit zu geben, über dieses Maß wesentlich Hinauszugelangen, so war er jetzt den modernen Begriffen Konkurrenz, Kapital, Arbeitsmarkt, schutzlos preisgegeben. Die materielle Not bedrohte ihn: er konnte seine Arbeitskraft überhaupt nicht verwerten, wenn eine billigere auf dem Markt sich anbot; so mußte er das Äußerste leisten, mußte auf alle Rücksichten hygienischer und sozialer Art ver¬ zichten um nur Arbeit zu finden. Denn auch der Unternehmer konnte gegen die unbeschränkte Konkurrenz auf dem internationalen Markt nur dann bestehen, wenn er das billigste Erzeugnis herstellte. Und auch der Staat half nicht, um nicht hindernd in das freie Spiel der Kräfte einzugreifen. Aus dieser materiellen Not, die der schrankenlose Individualismus für die große Menge der Arbeitnehmer herbeigeführt hatte, zeigte der Sozialismus an¬ scheinend den Ausweg. Er versprach seinen Anhängern das, was ihnen am meisten fehlte: Hilfe in ihrer materiellen Not. Er erklärte die Ursachen alles Übels aus der bestehenden kapitalistischen Wirtschaftsordnung, stellte den baldigen, aus innerer Notwendigkeit heraus folgenden Zusammenbruch dieses Systems in sichere Aussicht und verhieß, auf den Trümmern der untergegangenen eine neue, vollkommene Wirschaftsordnung zu errichten. Da sollte ein jeder seinen Anteil an den allgemeinen Gütern haben, jeder den entsprechenden Ertrag aus seiner Arbeit herauswirtschafteu und sorglos leben können; da sollten alle sozialen und Vermögensuntei schiebe von profitsüchügem Unternehmer und ausgebeuteten Arbeiter vernichtet werden. Es ist klar, daß ein solches Programm die großen Mengen wirklich notleidender und im politischen Denken ungeschulter Arbeiter zur begeisterten Gefolgschaft verleiten mußte. Solchen Verheißungen gegenüber traten alle Bedenken zurück. Ob die Probe auf das Exempel stimmen würde, das überließ man der Zukunft. Daß die sozialistische Lehre nichts enthielt, was den höheren Ansprüchen des Geistes hätte genügen können, daß sie nichts weiter war als eine Summe materieller Versprechungen, die ihres wissen¬ schaftlichen Aufputzes durch ein rücksichtsloses Agitatorium noch entkleidet wurde — das alles übersah man. Übersah man um so leichter in einem Zeitalter, in dem auch die gebildeten Kreise über eine materialistische Weltanschauung nicht hinausgelangt waren. Und so ist es der Sozialdemokratie bis heute gelungen, große Teile der einzelnen Nationen sich als Anhänger zu erhalten, trotzdem ihr Ideal seiner Verwirklichung um keinen Schritt näher gerückt ist; trotzdem ihre Lehre nicht über den plattesten Materialismus hinausgelangt ist. Aber auf die Dauer wird sich dieser völlige Mangel an allem Geistigen an der Sozialdemokratie rächen. Der Entwicklungsgang der Menschheit wird

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/360>, abgerufen am 28.05.2024.