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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Das Phänomen Caruso

vorgebunden hat, saust, mitten in den schlechten Taktteil des begleitenden
Orchesters (lieber Gott, was sagen unsere artigen Opernregisseure dazu?) der
Klöppel. Ein zweiter Schlag trifft den Schädel eines vorlauten Dorfbengels,
der sich zu nahe an den Zug herangemacht hat. -- Bajazzo! Der einzige von
denen dort oben, der nicht aus Papiermache ist. Und der Kleine, der sich
geflissentlich im Hintergrund hielt, ist wider Willen sast zur Hauptfigur geworden.
Wider Willen. Obwohl er ein weltberühmter Tenor ist. . . .

Cavaradossi und Scarpia (welch ungefüges, rohes Gebilde, diese Oper
Puccinis!). Die Häscher zerren den Maler heran. Denselben häßlichen Zwerg,
der gestern als Bajazzo ein wütendes Tier war. "Ein Gewaltakt!" Ein Statist
bekommt einen Stoß, daß er taumelt. Welch ein Protest in diesem Zerren und
Reißen, in diesem Ton, der einsam wie eine Rakete am Nachthimmel steigt und
verweht. Und wieder überragt er die anderen um Haupteslänge. Lcee artiiex!
Noch nie sah ich ein Spiel, das sich so selbstverständlich gibt. Bescheiden, das
Wort trifft es wohl noch besser. Caruso erwartet, erzwingt nie die Inspiration,
er steigert sich nie (man vergleiche sein Spiel einmal in dieser Hinsicht mit dem
Paul Wegners) in eine Ekstase hinein. Ekstatisch ist sein Spiel wohl überhaupt
nie. Auch dann nicht, wenn Bajazzo rast und in diesen: häßlichen Antlitz mit
dem überkleinen Gesichtswinkel animalische Züge auftauchen. Er ist von Anfang
an das, was er sein will. Nein, was er sein soll. Denn ungezwungen, absolut
unerklügelt gibt sich seine Kunst.

Hatten wir auf seinem Gebiet nie seinesgleichen? Sicherlich. Ich glaube
nicht, daß uns Blut und Temperament hindern, dieselbe Höhe selbstverständlicher
Menschendarstellung zu erreichen. Heute freilich haben wir keinen, den wir ihm
entgegenstellen könnten. Der Grund? Weil wir einmal in der musikalischen
Produktion dieses Feld vernachlässigt haben, weil wir ferner die Schauspiel¬
kunst der Opernbühnen allzu einseitig nach dem Gefüge des Wagnerschen Dramas
eingestellt haben. Das Gebärden-Rhnthmusspiel ist gut, ich habe selbst an dieser
Stelle seinen weiteren Ausbau für Wagner und die ihm Verwandten verlangt
(was in Hellerau Dalcroze anrichtet, ist noch nicht spruchreif). Aber für die
Italiener nicht nur sondern auch für unsere eigene Oper im engeren Sinne
brauchen wir wieder eine Schauspielkunst, der die Glieder gelöst sind, die sich
vom Motiv frei macht und vom sorgfältig erklügelten Reflex.

Der Italiener hier gibt zu denken.




Das Phänomen Caruso

vorgebunden hat, saust, mitten in den schlechten Taktteil des begleitenden
Orchesters (lieber Gott, was sagen unsere artigen Opernregisseure dazu?) der
Klöppel. Ein zweiter Schlag trifft den Schädel eines vorlauten Dorfbengels,
der sich zu nahe an den Zug herangemacht hat. — Bajazzo! Der einzige von
denen dort oben, der nicht aus Papiermache ist. Und der Kleine, der sich
geflissentlich im Hintergrund hielt, ist wider Willen sast zur Hauptfigur geworden.
Wider Willen. Obwohl er ein weltberühmter Tenor ist. . . .

Cavaradossi und Scarpia (welch ungefüges, rohes Gebilde, diese Oper
Puccinis!). Die Häscher zerren den Maler heran. Denselben häßlichen Zwerg,
der gestern als Bajazzo ein wütendes Tier war. „Ein Gewaltakt!" Ein Statist
bekommt einen Stoß, daß er taumelt. Welch ein Protest in diesem Zerren und
Reißen, in diesem Ton, der einsam wie eine Rakete am Nachthimmel steigt und
verweht. Und wieder überragt er die anderen um Haupteslänge. Lcee artiiex!
Noch nie sah ich ein Spiel, das sich so selbstverständlich gibt. Bescheiden, das
Wort trifft es wohl noch besser. Caruso erwartet, erzwingt nie die Inspiration,
er steigert sich nie (man vergleiche sein Spiel einmal in dieser Hinsicht mit dem
Paul Wegners) in eine Ekstase hinein. Ekstatisch ist sein Spiel wohl überhaupt
nie. Auch dann nicht, wenn Bajazzo rast und in diesen: häßlichen Antlitz mit
dem überkleinen Gesichtswinkel animalische Züge auftauchen. Er ist von Anfang
an das, was er sein will. Nein, was er sein soll. Denn ungezwungen, absolut
unerklügelt gibt sich seine Kunst.

Hatten wir auf seinem Gebiet nie seinesgleichen? Sicherlich. Ich glaube
nicht, daß uns Blut und Temperament hindern, dieselbe Höhe selbstverständlicher
Menschendarstellung zu erreichen. Heute freilich haben wir keinen, den wir ihm
entgegenstellen könnten. Der Grund? Weil wir einmal in der musikalischen
Produktion dieses Feld vernachlässigt haben, weil wir ferner die Schauspiel¬
kunst der Opernbühnen allzu einseitig nach dem Gefüge des Wagnerschen Dramas
eingestellt haben. Das Gebärden-Rhnthmusspiel ist gut, ich habe selbst an dieser
Stelle seinen weiteren Ausbau für Wagner und die ihm Verwandten verlangt
(was in Hellerau Dalcroze anrichtet, ist noch nicht spruchreif). Aber für die
Italiener nicht nur sondern auch für unsere eigene Oper im engeren Sinne
brauchen wir wieder eine Schauspielkunst, der die Glieder gelöst sind, die sich
vom Motiv frei macht und vom sorgfältig erklügelten Reflex.

Der Italiener hier gibt zu denken.




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[0387] Das Phänomen Caruso vorgebunden hat, saust, mitten in den schlechten Taktteil des begleitenden Orchesters (lieber Gott, was sagen unsere artigen Opernregisseure dazu?) der Klöppel. Ein zweiter Schlag trifft den Schädel eines vorlauten Dorfbengels, der sich zu nahe an den Zug herangemacht hat. — Bajazzo! Der einzige von denen dort oben, der nicht aus Papiermache ist. Und der Kleine, der sich geflissentlich im Hintergrund hielt, ist wider Willen sast zur Hauptfigur geworden. Wider Willen. Obwohl er ein weltberühmter Tenor ist. . . . Cavaradossi und Scarpia (welch ungefüges, rohes Gebilde, diese Oper Puccinis!). Die Häscher zerren den Maler heran. Denselben häßlichen Zwerg, der gestern als Bajazzo ein wütendes Tier war. „Ein Gewaltakt!" Ein Statist bekommt einen Stoß, daß er taumelt. Welch ein Protest in diesem Zerren und Reißen, in diesem Ton, der einsam wie eine Rakete am Nachthimmel steigt und verweht. Und wieder überragt er die anderen um Haupteslänge. Lcee artiiex! Noch nie sah ich ein Spiel, das sich so selbstverständlich gibt. Bescheiden, das Wort trifft es wohl noch besser. Caruso erwartet, erzwingt nie die Inspiration, er steigert sich nie (man vergleiche sein Spiel einmal in dieser Hinsicht mit dem Paul Wegners) in eine Ekstase hinein. Ekstatisch ist sein Spiel wohl überhaupt nie. Auch dann nicht, wenn Bajazzo rast und in diesen: häßlichen Antlitz mit dem überkleinen Gesichtswinkel animalische Züge auftauchen. Er ist von Anfang an das, was er sein will. Nein, was er sein soll. Denn ungezwungen, absolut unerklügelt gibt sich seine Kunst. Hatten wir auf seinem Gebiet nie seinesgleichen? Sicherlich. Ich glaube nicht, daß uns Blut und Temperament hindern, dieselbe Höhe selbstverständlicher Menschendarstellung zu erreichen. Heute freilich haben wir keinen, den wir ihm entgegenstellen könnten. Der Grund? Weil wir einmal in der musikalischen Produktion dieses Feld vernachlässigt haben, weil wir ferner die Schauspiel¬ kunst der Opernbühnen allzu einseitig nach dem Gefüge des Wagnerschen Dramas eingestellt haben. Das Gebärden-Rhnthmusspiel ist gut, ich habe selbst an dieser Stelle seinen weiteren Ausbau für Wagner und die ihm Verwandten verlangt (was in Hellerau Dalcroze anrichtet, ist noch nicht spruchreif). Aber für die Italiener nicht nur sondern auch für unsere eigene Oper im engeren Sinne brauchen wir wieder eine Schauspielkunst, der die Glieder gelöst sind, die sich vom Motiv frei macht und vom sorgfältig erklügelten Reflex. Der Italiener hier gibt zu denken.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/387>, abgerufen am 12.05.2024.