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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Reichsspiegel

vilen sind, die Gelegenheit haben, sich über die Behandlung in Frankreich zu
beklagen, sondern weil ganz allgemein jedem Besucher Frankreichs, der nicht über
einen großen Geldbeutel verfügt, mag er im übrigen Deutscher, Engländer,
Amerikaner, ja selbst Orientale und Chinese sein, die Empfindung hat, als trete
man ihm nicht mit der Achtung entgegen, die jeder Gast zu beanspruchen hat
und die man gerade in einem Lande am meisten erwartet, wo das Manifest
von den Menschenrechten entstanden ist.

Es ist das eingetreten, was sehr intime Freunde der französischen Kultur
bereits vor vierzig und fünfzig Jahren herankommen sahen. Die Franzosen sind
von der Herrschaft des reinen Materialismus seit der großen Revolution all¬
mählich derart beeinflußt worden, daß Frankreich nicht mehr als "der" Hort
der Kultur, als nachahmenswertes Vorbild für andere Staaten angesprochen
werden kann.

Fürst Peter Andrejewitsch Wjasemski, ein gefeierter russischer Dichter der
klassischen Epoche, wies schon Ende der 1860er Jahre auf die verheerenden
Wirkungen hin. die in kultureller Beziehung sowohl vom ersten wie vom dritten
Napoleon in der französischen Nation angerichtet worden waren, und als die
Kommunekämpfe im Herbst 1870 ausbrachen, da schrieb er mit Bedauern an
seinen Freund Obolenski, wie groß das Unglück für die Menschheit wäre, wenn
Frankreich als Kulturfaktor ausscheiden müßte, wozu es auf dem besten Wege sei.

Es ist bekannt, wie seit den 1860er Jahren bei den Russen die Sympathien
sür Frankreich gewachsen sind und, wie ich gleich betonen möchte: gewachsen sind
aus den negativen Gesichtspunkten, die die Kämpfe um die deutsche Einheit bei
den Slaven hervorgerufen haben. Wir wissen heute, daß schon während der
Friedensverhandlungen im Jahre 1871 russische Stimmen laut wurden, die sür
ein Bündnis mit Frankreich gegen Deutschland eintraten, und es ist allgemein
bekannt, wie nahe wir schon in den 70er Jahren, trotz des Dreikaiserbündnisses,
an eine intimere russisch-französische Verständigung herangekommen waren. Wir
kennen aber auch die Gründe, aus denen Alexander der Zweite so fest an dem
Einverständnis mit Deutschland festgehalten hat, Gründe, die auch nach Ab¬
schluß des russisch-französischen Bildnisses stark genug geblieben sind, um Ru߬
lands Diplomaten vor einem Bruch mit Deutschland zurückschrecken zu lassen.
Sie waren bis nach der letzten russischen Revolution fast ausschließlich nur den
wenigen regierenden Persönlichkeiten gegenwärtig; die große Masse des Nussen-
volkes und vor allen Dingen die Gebildeten in ihm wurde durch den Kontrast,
der zwischen der Knebelung ihrer Freiheit in Rußland und der scheinbaren
Freiheit in Frankreich bestand, zu den Franzosen getrieben, während sie in
Deutschland nur den Hort der Reaktion und der Feindschaft gegen persönliche
Freiheit sahen. In diesen Ausfassungen beginnt sich nun ein bedeutsamer Wechsel
vorzubereiten.

Seit die russische gebildete Gesellschaft sich größerer Freiheiten erfreut,
beginnt man indessen auch in Rußland den Wert staatlicher Ordnung als Kulturgut


Reichsspiegel

vilen sind, die Gelegenheit haben, sich über die Behandlung in Frankreich zu
beklagen, sondern weil ganz allgemein jedem Besucher Frankreichs, der nicht über
einen großen Geldbeutel verfügt, mag er im übrigen Deutscher, Engländer,
Amerikaner, ja selbst Orientale und Chinese sein, die Empfindung hat, als trete
man ihm nicht mit der Achtung entgegen, die jeder Gast zu beanspruchen hat
und die man gerade in einem Lande am meisten erwartet, wo das Manifest
von den Menschenrechten entstanden ist.

Es ist das eingetreten, was sehr intime Freunde der französischen Kultur
bereits vor vierzig und fünfzig Jahren herankommen sahen. Die Franzosen sind
von der Herrschaft des reinen Materialismus seit der großen Revolution all¬
mählich derart beeinflußt worden, daß Frankreich nicht mehr als „der" Hort
der Kultur, als nachahmenswertes Vorbild für andere Staaten angesprochen
werden kann.

Fürst Peter Andrejewitsch Wjasemski, ein gefeierter russischer Dichter der
klassischen Epoche, wies schon Ende der 1860er Jahre auf die verheerenden
Wirkungen hin. die in kultureller Beziehung sowohl vom ersten wie vom dritten
Napoleon in der französischen Nation angerichtet worden waren, und als die
Kommunekämpfe im Herbst 1870 ausbrachen, da schrieb er mit Bedauern an
seinen Freund Obolenski, wie groß das Unglück für die Menschheit wäre, wenn
Frankreich als Kulturfaktor ausscheiden müßte, wozu es auf dem besten Wege sei.

Es ist bekannt, wie seit den 1860er Jahren bei den Russen die Sympathien
sür Frankreich gewachsen sind und, wie ich gleich betonen möchte: gewachsen sind
aus den negativen Gesichtspunkten, die die Kämpfe um die deutsche Einheit bei
den Slaven hervorgerufen haben. Wir wissen heute, daß schon während der
Friedensverhandlungen im Jahre 1871 russische Stimmen laut wurden, die sür
ein Bündnis mit Frankreich gegen Deutschland eintraten, und es ist allgemein
bekannt, wie nahe wir schon in den 70er Jahren, trotz des Dreikaiserbündnisses,
an eine intimere russisch-französische Verständigung herangekommen waren. Wir
kennen aber auch die Gründe, aus denen Alexander der Zweite so fest an dem
Einverständnis mit Deutschland festgehalten hat, Gründe, die auch nach Ab¬
schluß des russisch-französischen Bildnisses stark genug geblieben sind, um Ru߬
lands Diplomaten vor einem Bruch mit Deutschland zurückschrecken zu lassen.
Sie waren bis nach der letzten russischen Revolution fast ausschließlich nur den
wenigen regierenden Persönlichkeiten gegenwärtig; die große Masse des Nussen-
volkes und vor allen Dingen die Gebildeten in ihm wurde durch den Kontrast,
der zwischen der Knebelung ihrer Freiheit in Rußland und der scheinbaren
Freiheit in Frankreich bestand, zu den Franzosen getrieben, während sie in
Deutschland nur den Hort der Reaktion und der Feindschaft gegen persönliche
Freiheit sahen. In diesen Ausfassungen beginnt sich nun ein bedeutsamer Wechsel
vorzubereiten.

Seit die russische gebildete Gesellschaft sich größerer Freiheiten erfreut,
beginnt man indessen auch in Rußland den Wert staatlicher Ordnung als Kulturgut


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[0438] Reichsspiegel vilen sind, die Gelegenheit haben, sich über die Behandlung in Frankreich zu beklagen, sondern weil ganz allgemein jedem Besucher Frankreichs, der nicht über einen großen Geldbeutel verfügt, mag er im übrigen Deutscher, Engländer, Amerikaner, ja selbst Orientale und Chinese sein, die Empfindung hat, als trete man ihm nicht mit der Achtung entgegen, die jeder Gast zu beanspruchen hat und die man gerade in einem Lande am meisten erwartet, wo das Manifest von den Menschenrechten entstanden ist. Es ist das eingetreten, was sehr intime Freunde der französischen Kultur bereits vor vierzig und fünfzig Jahren herankommen sahen. Die Franzosen sind von der Herrschaft des reinen Materialismus seit der großen Revolution all¬ mählich derart beeinflußt worden, daß Frankreich nicht mehr als „der" Hort der Kultur, als nachahmenswertes Vorbild für andere Staaten angesprochen werden kann. Fürst Peter Andrejewitsch Wjasemski, ein gefeierter russischer Dichter der klassischen Epoche, wies schon Ende der 1860er Jahre auf die verheerenden Wirkungen hin. die in kultureller Beziehung sowohl vom ersten wie vom dritten Napoleon in der französischen Nation angerichtet worden waren, und als die Kommunekämpfe im Herbst 1870 ausbrachen, da schrieb er mit Bedauern an seinen Freund Obolenski, wie groß das Unglück für die Menschheit wäre, wenn Frankreich als Kulturfaktor ausscheiden müßte, wozu es auf dem besten Wege sei. Es ist bekannt, wie seit den 1860er Jahren bei den Russen die Sympathien sür Frankreich gewachsen sind und, wie ich gleich betonen möchte: gewachsen sind aus den negativen Gesichtspunkten, die die Kämpfe um die deutsche Einheit bei den Slaven hervorgerufen haben. Wir wissen heute, daß schon während der Friedensverhandlungen im Jahre 1871 russische Stimmen laut wurden, die sür ein Bündnis mit Frankreich gegen Deutschland eintraten, und es ist allgemein bekannt, wie nahe wir schon in den 70er Jahren, trotz des Dreikaiserbündnisses, an eine intimere russisch-französische Verständigung herangekommen waren. Wir kennen aber auch die Gründe, aus denen Alexander der Zweite so fest an dem Einverständnis mit Deutschland festgehalten hat, Gründe, die auch nach Ab¬ schluß des russisch-französischen Bildnisses stark genug geblieben sind, um Ru߬ lands Diplomaten vor einem Bruch mit Deutschland zurückschrecken zu lassen. Sie waren bis nach der letzten russischen Revolution fast ausschließlich nur den wenigen regierenden Persönlichkeiten gegenwärtig; die große Masse des Nussen- volkes und vor allen Dingen die Gebildeten in ihm wurde durch den Kontrast, der zwischen der Knebelung ihrer Freiheit in Rußland und der scheinbaren Freiheit in Frankreich bestand, zu den Franzosen getrieben, während sie in Deutschland nur den Hort der Reaktion und der Feindschaft gegen persönliche Freiheit sahen. In diesen Ausfassungen beginnt sich nun ein bedeutsamer Wechsel vorzubereiten. Seit die russische gebildete Gesellschaft sich größerer Freiheiten erfreut, beginnt man indessen auch in Rußland den Wert staatlicher Ordnung als Kulturgut

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/438>, abgerufen am 14.05.2024.