Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Rcisebriefe

immer suchen, können am Ende zu der Stadt, in der wir leben, nicht mehr
Verhältniß fassen, wie zu einem großen Hotel. Entweder man besitzt das
Land, das man Heimat nennt, hegt es, erobert es jeden Tag aufs neue. Oder
man wird, wenn man ein Stadtmensch ist, der im besten Falle die hei߬
ersehnte Villa mit einem Lilliputgarten sein eigen nennt, doch im Grunde zum
fahrenden Mann, zum Kosmopoliten, der nichts mehr mit dem Wirtschaftsleben
seines Staates gemein haben will. Dessen Vaterlandliebe erst erwacht, wenn
nationale Saiten angeschlagen werden.

Und der wohl auch mit Bitterkeit dem eigenen Lande den Rücken kehren
mag, wenn es ihm nahm, was ihm wert war...

Was mich hinaustreibt, was geht es mich an? Genug, es treibt mich
hinaus; ohne vorwärts- und rückwärtsschauen. Ohne Backfischillusion von der
"Märchenpracht der Tropen". Aber auch ohne sentimentales Heimweh.

Genug der Reflexionen. Ich grüße dich, meine Geliebte, silberne,
schimmernde See. Noch ungeküßt vom hellen Tag behuft du dich nun immer
weiter um mein Glücksschiff, umschließest mich immer inniger, als wolltest du
mich nie loslassen. Sanft aufquellend, ruhig atmend, mit lieblich gelöstem
Leibe liegst du da wie eine brünstige Frau. Und bist mir mehr als Geliebte.
Warst immer Trösterin. Freundin, Mutter. Hast nie versagt, wo alles ver¬
sagte. Hast schon über Nacht Leid an mir gestillt, das ich unstillbar
wähnte.

Meinst es wohl auch heute gut mit mir, wo mich ein leise lockendes Lied
an deine Küste zurückruft. Meinst es gut, wie eine Mutter, die lächelnd ihr
trotzendes Kind in die Arme nimmt. Ich gebe dir alles, was ich besitze, und
worum ich trauere, was hinter mir liegt, und was ich mir zu bauen gedenke.
Tausendfach tragen die Ströme, die sich in dich ergießen, dir zu, was dieses
Leben an Schlacken fortwirft. Und du nimmst es willig auf, wandelst es hundert¬
fältig in organisches Leben um, bleibst in ungetrübter Schönheit klar und heiter,
wie ein Madonnenbild. Ach, auch wir tragen dir Leid und Jammer entgegen,
und du kost und streichelst, Geliebte halb und halb Mutter, in brünstigem Erbarmen
alles fort von unserer Stirn. Dir bringe ich auch heute entgegen, was
mich eine allzu schwere Last dünkte, und weiß, daß du es auch heute gut
meinen wirst.

Dich so zu grüßen, bin ich diese drei Stunden, die wir den, gelben, trägen
Strom hinabglitten, an Deck auf- und abgegangen. Dort hinten versinkt die
Küste, die mich halten wollte, der ich entfliehe.

Zu gutem oder schlechten Ende, was siehts mich an? Die Zweifel und
Skrupel sind ertötet, der Wille ist da, wieder den Becher zu leeren, zu jubeln
und zu weinen, zu genießen und zu freuen sich, wie dieses bittersüße Rätsel-
spiel es schickt.

Und reuelos gleitet mein Abenteurerschiff hinaus in die eben erwachende,
tosende See.


Grenzboten IV 1913 3
Rcisebriefe

immer suchen, können am Ende zu der Stadt, in der wir leben, nicht mehr
Verhältniß fassen, wie zu einem großen Hotel. Entweder man besitzt das
Land, das man Heimat nennt, hegt es, erobert es jeden Tag aufs neue. Oder
man wird, wenn man ein Stadtmensch ist, der im besten Falle die hei߬
ersehnte Villa mit einem Lilliputgarten sein eigen nennt, doch im Grunde zum
fahrenden Mann, zum Kosmopoliten, der nichts mehr mit dem Wirtschaftsleben
seines Staates gemein haben will. Dessen Vaterlandliebe erst erwacht, wenn
nationale Saiten angeschlagen werden.

Und der wohl auch mit Bitterkeit dem eigenen Lande den Rücken kehren
mag, wenn es ihm nahm, was ihm wert war...

Was mich hinaustreibt, was geht es mich an? Genug, es treibt mich
hinaus; ohne vorwärts- und rückwärtsschauen. Ohne Backfischillusion von der
„Märchenpracht der Tropen". Aber auch ohne sentimentales Heimweh.

Genug der Reflexionen. Ich grüße dich, meine Geliebte, silberne,
schimmernde See. Noch ungeküßt vom hellen Tag behuft du dich nun immer
weiter um mein Glücksschiff, umschließest mich immer inniger, als wolltest du
mich nie loslassen. Sanft aufquellend, ruhig atmend, mit lieblich gelöstem
Leibe liegst du da wie eine brünstige Frau. Und bist mir mehr als Geliebte.
Warst immer Trösterin. Freundin, Mutter. Hast nie versagt, wo alles ver¬
sagte. Hast schon über Nacht Leid an mir gestillt, das ich unstillbar
wähnte.

Meinst es wohl auch heute gut mit mir, wo mich ein leise lockendes Lied
an deine Küste zurückruft. Meinst es gut, wie eine Mutter, die lächelnd ihr
trotzendes Kind in die Arme nimmt. Ich gebe dir alles, was ich besitze, und
worum ich trauere, was hinter mir liegt, und was ich mir zu bauen gedenke.
Tausendfach tragen die Ströme, die sich in dich ergießen, dir zu, was dieses
Leben an Schlacken fortwirft. Und du nimmst es willig auf, wandelst es hundert¬
fältig in organisches Leben um, bleibst in ungetrübter Schönheit klar und heiter,
wie ein Madonnenbild. Ach, auch wir tragen dir Leid und Jammer entgegen,
und du kost und streichelst, Geliebte halb und halb Mutter, in brünstigem Erbarmen
alles fort von unserer Stirn. Dir bringe ich auch heute entgegen, was
mich eine allzu schwere Last dünkte, und weiß, daß du es auch heute gut
meinen wirst.

Dich so zu grüßen, bin ich diese drei Stunden, die wir den, gelben, trägen
Strom hinabglitten, an Deck auf- und abgegangen. Dort hinten versinkt die
Küste, die mich halten wollte, der ich entfliehe.

Zu gutem oder schlechten Ende, was siehts mich an? Die Zweifel und
Skrupel sind ertötet, der Wille ist da, wieder den Becher zu leeren, zu jubeln
und zu weinen, zu genießen und zu freuen sich, wie dieses bittersüße Rätsel-
spiel es schickt.

Und reuelos gleitet mein Abenteurerschiff hinaus in die eben erwachende,
tosende See.


Grenzboten IV 1913 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0045" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/326857"/>
            <fw type="header" place="top"> Rcisebriefe</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_132" prev="#ID_131"> immer suchen, können am Ende zu der Stadt, in der wir leben, nicht mehr<lb/>
Verhältniß fassen, wie zu einem großen Hotel. Entweder man besitzt das<lb/>
Land, das man Heimat nennt, hegt es, erobert es jeden Tag aufs neue. Oder<lb/>
man wird, wenn man ein Stadtmensch ist, der im besten Falle die hei߬<lb/>
ersehnte Villa mit einem Lilliputgarten sein eigen nennt, doch im Grunde zum<lb/>
fahrenden Mann, zum Kosmopoliten, der nichts mehr mit dem Wirtschaftsleben<lb/>
seines Staates gemein haben will. Dessen Vaterlandliebe erst erwacht, wenn<lb/>
nationale Saiten angeschlagen werden.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_133"> Und der wohl auch mit Bitterkeit dem eigenen Lande den Rücken kehren<lb/>
mag, wenn es ihm nahm, was ihm wert war...</p><lb/>
            <p xml:id="ID_134"> Was mich hinaustreibt, was geht es mich an? Genug, es treibt mich<lb/>
hinaus; ohne vorwärts- und rückwärtsschauen. Ohne Backfischillusion von der<lb/>
&#x201E;Märchenpracht der Tropen". Aber auch ohne sentimentales Heimweh.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_135"> Genug der Reflexionen. Ich grüße dich, meine Geliebte, silberne,<lb/>
schimmernde See. Noch ungeküßt vom hellen Tag behuft du dich nun immer<lb/>
weiter um mein Glücksschiff, umschließest mich immer inniger, als wolltest du<lb/>
mich nie loslassen. Sanft aufquellend, ruhig atmend, mit lieblich gelöstem<lb/>
Leibe liegst du da wie eine brünstige Frau. Und bist mir mehr als Geliebte.<lb/>
Warst immer Trösterin. Freundin, Mutter. Hast nie versagt, wo alles ver¬<lb/>
sagte. Hast schon über Nacht Leid an mir gestillt, das ich unstillbar<lb/>
wähnte.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_136"> Meinst es wohl auch heute gut mit mir, wo mich ein leise lockendes Lied<lb/>
an deine Küste zurückruft. Meinst es gut, wie eine Mutter, die lächelnd ihr<lb/>
trotzendes Kind in die Arme nimmt. Ich gebe dir alles, was ich besitze, und<lb/>
worum ich trauere, was hinter mir liegt, und was ich mir zu bauen gedenke.<lb/>
Tausendfach tragen die Ströme, die sich in dich ergießen, dir zu, was dieses<lb/>
Leben an Schlacken fortwirft. Und du nimmst es willig auf, wandelst es hundert¬<lb/>
fältig in organisches Leben um, bleibst in ungetrübter Schönheit klar und heiter,<lb/>
wie ein Madonnenbild. Ach, auch wir tragen dir Leid und Jammer entgegen,<lb/>
und du kost und streichelst, Geliebte halb und halb Mutter, in brünstigem Erbarmen<lb/>
alles fort von unserer Stirn. Dir bringe ich auch heute entgegen, was<lb/>
mich eine allzu schwere Last dünkte, und weiß, daß du es auch heute gut<lb/>
meinen wirst.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_137"> Dich so zu grüßen, bin ich diese drei Stunden, die wir den, gelben, trägen<lb/>
Strom hinabglitten, an Deck auf- und abgegangen. Dort hinten versinkt die<lb/>
Küste, die mich halten wollte, der ich entfliehe.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_138"> Zu gutem oder schlechten Ende, was siehts mich an? Die Zweifel und<lb/>
Skrupel sind ertötet, der Wille ist da, wieder den Becher zu leeren, zu jubeln<lb/>
und zu weinen, zu genießen und zu freuen sich, wie dieses bittersüße Rätsel-<lb/>
spiel es schickt.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_139"> Und reuelos gleitet mein Abenteurerschiff hinaus in die eben erwachende,<lb/>
tosende See.</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV 1913 3</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0045] Rcisebriefe immer suchen, können am Ende zu der Stadt, in der wir leben, nicht mehr Verhältniß fassen, wie zu einem großen Hotel. Entweder man besitzt das Land, das man Heimat nennt, hegt es, erobert es jeden Tag aufs neue. Oder man wird, wenn man ein Stadtmensch ist, der im besten Falle die hei߬ ersehnte Villa mit einem Lilliputgarten sein eigen nennt, doch im Grunde zum fahrenden Mann, zum Kosmopoliten, der nichts mehr mit dem Wirtschaftsleben seines Staates gemein haben will. Dessen Vaterlandliebe erst erwacht, wenn nationale Saiten angeschlagen werden. Und der wohl auch mit Bitterkeit dem eigenen Lande den Rücken kehren mag, wenn es ihm nahm, was ihm wert war... Was mich hinaustreibt, was geht es mich an? Genug, es treibt mich hinaus; ohne vorwärts- und rückwärtsschauen. Ohne Backfischillusion von der „Märchenpracht der Tropen". Aber auch ohne sentimentales Heimweh. Genug der Reflexionen. Ich grüße dich, meine Geliebte, silberne, schimmernde See. Noch ungeküßt vom hellen Tag behuft du dich nun immer weiter um mein Glücksschiff, umschließest mich immer inniger, als wolltest du mich nie loslassen. Sanft aufquellend, ruhig atmend, mit lieblich gelöstem Leibe liegst du da wie eine brünstige Frau. Und bist mir mehr als Geliebte. Warst immer Trösterin. Freundin, Mutter. Hast nie versagt, wo alles ver¬ sagte. Hast schon über Nacht Leid an mir gestillt, das ich unstillbar wähnte. Meinst es wohl auch heute gut mit mir, wo mich ein leise lockendes Lied an deine Küste zurückruft. Meinst es gut, wie eine Mutter, die lächelnd ihr trotzendes Kind in die Arme nimmt. Ich gebe dir alles, was ich besitze, und worum ich trauere, was hinter mir liegt, und was ich mir zu bauen gedenke. Tausendfach tragen die Ströme, die sich in dich ergießen, dir zu, was dieses Leben an Schlacken fortwirft. Und du nimmst es willig auf, wandelst es hundert¬ fältig in organisches Leben um, bleibst in ungetrübter Schönheit klar und heiter, wie ein Madonnenbild. Ach, auch wir tragen dir Leid und Jammer entgegen, und du kost und streichelst, Geliebte halb und halb Mutter, in brünstigem Erbarmen alles fort von unserer Stirn. Dir bringe ich auch heute entgegen, was mich eine allzu schwere Last dünkte, und weiß, daß du es auch heute gut meinen wirst. Dich so zu grüßen, bin ich diese drei Stunden, die wir den, gelben, trägen Strom hinabglitten, an Deck auf- und abgegangen. Dort hinten versinkt die Küste, die mich halten wollte, der ich entfliehe. Zu gutem oder schlechten Ende, was siehts mich an? Die Zweifel und Skrupel sind ertötet, der Wille ist da, wieder den Becher zu leeren, zu jubeln und zu weinen, zu genießen und zu freuen sich, wie dieses bittersüße Rätsel- spiel es schickt. Und reuelos gleitet mein Abenteurerschiff hinaus in die eben erwachende, tosende See. Grenzboten IV 1913 3

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/45
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/45>, abgerufen am 14.05.2024.