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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Beob'lkerungsvermehrung und Sozialhygiene

tritt, so muß dies daran liegen, daß die Methoden der öffentlichen Hygiene in
den landwirtschaftlichen Distrikten viel zu wünschen übrig lassen.

Eine größere Annäherung der am schlechtesten dastehenden Distrikte an
diejenigen mit günstigeren Ziffern ist sehr wohl möglich und die englischen
Ziffern zeigen, wieviel noch getan werden kann, ehe das Minimum der Säuglings¬
sterblichkeit erreicht ist. Greifen wir einige besondere Krankheiten heraus, so
erscheint das Mißverhältnis zwischen den englischen und den deutschen Ziffern
noch krasser. Die Todesfälle (aller Altersgruppen) durch Brechdurchfall betrugen
im Jahre 1910 in London 45,1 auf Hunderttausend Einwohner, in Berlin 114.3;
Scharlach verursachte in London eine Todesrate von 4,4 auf Hunderttausend,
in Berlin eine solche von 19; für Diphterie waren die Nelativziffern 9,0 in
London und 33,9 in Berlin. Die Todesfälle durch Masern ergaben allerdings
ein sür London ungünstigeres Bild.

Von manchen Seiten ist die Säuglingssterblichkeit als ein Ausleseprozeß
dargestellt worden, der notwendig ist, um die schwachen Volkselemente zu be¬
seitigen und größeren Raum für die Lebenskräftigen zu schaffen, die sonst viel¬
leicht von den Schwächeren Krankheitskeime übernehmen. Diese Ansicht ist durch
die oben erwähnte Untersuchung des englischen Local Governement Board wider¬
legt worden. Es hat sich dabei ergeben, daß in den höheren Jahresklassen
wohl eine Annäherung der Sterblichkeitsziffer in Grafschaften mit hoher und
niedriger Sterblichkeit stattfindet, daß aber immer noch eine erhebliche Differenz
bestehen bleibt. Die Sterblichkeitsrate betrug (die höchste Rate in Glamorgan
gleich Hundert) in

0--1 1--5 6--10 10--15 15--20
Jahr Jahre Jahre Jahre Jahre
5 Grafschaften mit höchster Sterblichkeit 95,3 95,6 102,6 88,0 97,2
5 Grafschaften mit niedriger Sterblichkeit 51,8 42,6 62,2 61,6 69,0

Aus diesen Ziffern ergibt sich, daß durch die "Auslesefaktoren" eine Art
Schwächezentrum im Volkskörper geschaffen wird, während dort, wo die
Säuglingssterblichkeit weniger selektiv wirkt, auch die schwächeren Elemente
erstarken. Wenn nun der Kampf gegen die Säuglingssterblichkeit in Deutschland
auch aufs flache Land getragen wird, so werden wir bald sehen können, daß
die Sterblichkeitsrate einen normaleren Umfang annimmt. Gelingt es uns nur,
die Sterblichkeit auf das englische Niveau von 11.5 der Lebendgeborenen
herabzudrücken, so erhalten wir auf Grund der Geburtenziffern von 1910 einen
weiteren Bevölkerungszuwachs von ungefähr 90000 jährlich.

Größere Widerstandsfähigkeit der Neugeborenen bedingt in der nächsten
Generation selbstverständlich auch größere Lebenskraft der Erwachsenen. Krank¬
heitskeime werden keinen so günstigen Boden finden, wie jetzt. Der Fortschritt
der vergangenen Jahrzehnte war so groß, daß Todesfälle von Tuberkulosis vom
Jahresdurchschnitt 1877--1881 von 357.7 pro Hunderttausend Einwohner auf
177,8 in 1910 zurückgehen konnten. Auch hier könnte ausgleichend gewirkt


Beob'lkerungsvermehrung und Sozialhygiene

tritt, so muß dies daran liegen, daß die Methoden der öffentlichen Hygiene in
den landwirtschaftlichen Distrikten viel zu wünschen übrig lassen.

Eine größere Annäherung der am schlechtesten dastehenden Distrikte an
diejenigen mit günstigeren Ziffern ist sehr wohl möglich und die englischen
Ziffern zeigen, wieviel noch getan werden kann, ehe das Minimum der Säuglings¬
sterblichkeit erreicht ist. Greifen wir einige besondere Krankheiten heraus, so
erscheint das Mißverhältnis zwischen den englischen und den deutschen Ziffern
noch krasser. Die Todesfälle (aller Altersgruppen) durch Brechdurchfall betrugen
im Jahre 1910 in London 45,1 auf Hunderttausend Einwohner, in Berlin 114.3;
Scharlach verursachte in London eine Todesrate von 4,4 auf Hunderttausend,
in Berlin eine solche von 19; für Diphterie waren die Nelativziffern 9,0 in
London und 33,9 in Berlin. Die Todesfälle durch Masern ergaben allerdings
ein sür London ungünstigeres Bild.

Von manchen Seiten ist die Säuglingssterblichkeit als ein Ausleseprozeß
dargestellt worden, der notwendig ist, um die schwachen Volkselemente zu be¬
seitigen und größeren Raum für die Lebenskräftigen zu schaffen, die sonst viel¬
leicht von den Schwächeren Krankheitskeime übernehmen. Diese Ansicht ist durch
die oben erwähnte Untersuchung des englischen Local Governement Board wider¬
legt worden. Es hat sich dabei ergeben, daß in den höheren Jahresklassen
wohl eine Annäherung der Sterblichkeitsziffer in Grafschaften mit hoher und
niedriger Sterblichkeit stattfindet, daß aber immer noch eine erhebliche Differenz
bestehen bleibt. Die Sterblichkeitsrate betrug (die höchste Rate in Glamorgan
gleich Hundert) in

0—1 1—5 6—10 10—15 15—20
Jahr Jahre Jahre Jahre Jahre
5 Grafschaften mit höchster Sterblichkeit 95,3 95,6 102,6 88,0 97,2
5 Grafschaften mit niedriger Sterblichkeit 51,8 42,6 62,2 61,6 69,0

Aus diesen Ziffern ergibt sich, daß durch die „Auslesefaktoren" eine Art
Schwächezentrum im Volkskörper geschaffen wird, während dort, wo die
Säuglingssterblichkeit weniger selektiv wirkt, auch die schwächeren Elemente
erstarken. Wenn nun der Kampf gegen die Säuglingssterblichkeit in Deutschland
auch aufs flache Land getragen wird, so werden wir bald sehen können, daß
die Sterblichkeitsrate einen normaleren Umfang annimmt. Gelingt es uns nur,
die Sterblichkeit auf das englische Niveau von 11.5 der Lebendgeborenen
herabzudrücken, so erhalten wir auf Grund der Geburtenziffern von 1910 einen
weiteren Bevölkerungszuwachs von ungefähr 90000 jährlich.

Größere Widerstandsfähigkeit der Neugeborenen bedingt in der nächsten
Generation selbstverständlich auch größere Lebenskraft der Erwachsenen. Krank¬
heitskeime werden keinen so günstigen Boden finden, wie jetzt. Der Fortschritt
der vergangenen Jahrzehnte war so groß, daß Todesfälle von Tuberkulosis vom
Jahresdurchschnitt 1877—1881 von 357.7 pro Hunderttausend Einwohner auf
177,8 in 1910 zurückgehen konnten. Auch hier könnte ausgleichend gewirkt


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[0503] Beob'lkerungsvermehrung und Sozialhygiene tritt, so muß dies daran liegen, daß die Methoden der öffentlichen Hygiene in den landwirtschaftlichen Distrikten viel zu wünschen übrig lassen. Eine größere Annäherung der am schlechtesten dastehenden Distrikte an diejenigen mit günstigeren Ziffern ist sehr wohl möglich und die englischen Ziffern zeigen, wieviel noch getan werden kann, ehe das Minimum der Säuglings¬ sterblichkeit erreicht ist. Greifen wir einige besondere Krankheiten heraus, so erscheint das Mißverhältnis zwischen den englischen und den deutschen Ziffern noch krasser. Die Todesfälle (aller Altersgruppen) durch Brechdurchfall betrugen im Jahre 1910 in London 45,1 auf Hunderttausend Einwohner, in Berlin 114.3; Scharlach verursachte in London eine Todesrate von 4,4 auf Hunderttausend, in Berlin eine solche von 19; für Diphterie waren die Nelativziffern 9,0 in London und 33,9 in Berlin. Die Todesfälle durch Masern ergaben allerdings ein sür London ungünstigeres Bild. Von manchen Seiten ist die Säuglingssterblichkeit als ein Ausleseprozeß dargestellt worden, der notwendig ist, um die schwachen Volkselemente zu be¬ seitigen und größeren Raum für die Lebenskräftigen zu schaffen, die sonst viel¬ leicht von den Schwächeren Krankheitskeime übernehmen. Diese Ansicht ist durch die oben erwähnte Untersuchung des englischen Local Governement Board wider¬ legt worden. Es hat sich dabei ergeben, daß in den höheren Jahresklassen wohl eine Annäherung der Sterblichkeitsziffer in Grafschaften mit hoher und niedriger Sterblichkeit stattfindet, daß aber immer noch eine erhebliche Differenz bestehen bleibt. Die Sterblichkeitsrate betrug (die höchste Rate in Glamorgan gleich Hundert) in 0—1 1—5 6—10 10—15 15—20 Jahr Jahre Jahre Jahre Jahre 5 Grafschaften mit höchster Sterblichkeit 95,3 95,6 102,6 88,0 97,2 5 Grafschaften mit niedriger Sterblichkeit 51,8 42,6 62,2 61,6 69,0 Aus diesen Ziffern ergibt sich, daß durch die „Auslesefaktoren" eine Art Schwächezentrum im Volkskörper geschaffen wird, während dort, wo die Säuglingssterblichkeit weniger selektiv wirkt, auch die schwächeren Elemente erstarken. Wenn nun der Kampf gegen die Säuglingssterblichkeit in Deutschland auch aufs flache Land getragen wird, so werden wir bald sehen können, daß die Sterblichkeitsrate einen normaleren Umfang annimmt. Gelingt es uns nur, die Sterblichkeit auf das englische Niveau von 11.5 der Lebendgeborenen herabzudrücken, so erhalten wir auf Grund der Geburtenziffern von 1910 einen weiteren Bevölkerungszuwachs von ungefähr 90000 jährlich. Größere Widerstandsfähigkeit der Neugeborenen bedingt in der nächsten Generation selbstverständlich auch größere Lebenskraft der Erwachsenen. Krank¬ heitskeime werden keinen so günstigen Boden finden, wie jetzt. Der Fortschritt der vergangenen Jahrzehnte war so groß, daß Todesfälle von Tuberkulosis vom Jahresdurchschnitt 1877—1881 von 357.7 pro Hunderttausend Einwohner auf 177,8 in 1910 zurückgehen konnten. Auch hier könnte ausgleichend gewirkt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/503>, abgerufen am 14.05.2024.