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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Denis Diderot

das er sich nicht mit Erfolg vertieft hätte. Er war offenbar enzyklopädisch
veranlagt.

Nachdem sein Vater sich von ihm zurückgezogen hatte, erteilte er in Paris
Privatunterricht, namentlich in der Mathematik; er wurde dann Hauslehrer
gab aber seine Stellung bald wieder auf und nahm Beschäftigung an, wie sie
sich gerade darbot. Er schrieb sogar sechs Predigten für die portugiesischen
Kolonien. Eine Zeitlang wollte er Schauspieler werden. Wenn er diesen
Gedanken auch nicht ausführte, so hat er doch sein Leben lang große Freude
an der Schauspielkunst gehabt und sich angelegentlich mit ihr beschäftigt. Es
lag etwas vom Schauspieler in ihm; man wird daran erinnert durch seinen oft
dramatisch bewegten, häufig dialogisch gestalteten Stil, seine Neigung zum dekla¬
matorischen Pathos und zu effektvoller Bildern. Er hat auch manchmal im
Leben Proben seines schauspielerischen Talentes gegeben. Seine Tochter, Frau
von Vandeul, weiß davon in ihren Denkwürdigkeiten allerlei, nicht immer
Rühmliches, zu erzählen.

Unter manchen romantischen Umständen heiratete er gegen den Willen
seines Vaters ein hübsches und tugendhaftes, aber armes Mädchen. Die Pflicht,
für seine Familie zu sorgen, machte ihn zum Schriftsteller. Er begann mit
Übersetzungen aus dem Englischen. England übte damals durch seine Wissen¬
schaft, Literatur und Politik einen bedeutenden Einfluß auf die gebildeten
Kreise Frankreichs aus. In der Philosophie fing man an, statt Descartes, eng¬
lischen Lehrmeistern. Bacon, Locke, Hobbes usw. zu folgen. Diderot bearbeitete
die Schrift des Grafen Shaftesbury über "Das Verdienst und die Tugend".
Shaftesbury ist Theist, er glaubt an ein höchstes Wesen, an die Tugend als
Bedingung des Glückes; dabei billigt er den Egoismus, der sich dem all¬
gemeinen Wohle unterordnet. Mit dieser Arbeit betrat Diderot die Laufbahn
des philosophischen Schriftstellers.

Man hat das achtzehnte Jahrhundert in Frankreich das philosophische
genannt. Selbst in die Salons drang die Philosophie ein und bildete den Gegen¬
stand der Unterhaltung; freilich war es weniger eine Philosophie, die sich die
Aufgabe stellt, die Schöpfung und ihre Rätsel in tiefsinnige Systeme zu fassen,
als eine scharfe Kritik der herrschenden religiösen und moralischen Lehrmeinungen
und der Einrichtungen in Staat und Kirche. Diderot selbst erwarb sich durch
die Vorliebe und die Sicherheit, mit denen er philosophische Fragen behandelte,
unter seinen Freunden den Namen "der Philosoph" und pflegte sich selbst so
zu nennen. Schon seine erste selbständige Schrift, die ?ensöe8 ptulo80pnique3
(1746), machte großes Aufsehen. Sie wendet sich gegen den Wunder- und
Aberglauben und gegen den religiösen Fanatismus. In seinen folgenden
Schriften (promenaäe an 8ceptique u. a.) bricht er vollständig mit dem Offen¬
barungsglauben und bekennt sich zur natürlichen Religion.

Seine freien Äußerungen erregten Anstoß bei den herrschenden Kreisen.
Er wurde ohne Verhör verhaftet und über drei Monate in Vincennes gefangen


Denis Diderot

das er sich nicht mit Erfolg vertieft hätte. Er war offenbar enzyklopädisch
veranlagt.

Nachdem sein Vater sich von ihm zurückgezogen hatte, erteilte er in Paris
Privatunterricht, namentlich in der Mathematik; er wurde dann Hauslehrer
gab aber seine Stellung bald wieder auf und nahm Beschäftigung an, wie sie
sich gerade darbot. Er schrieb sogar sechs Predigten für die portugiesischen
Kolonien. Eine Zeitlang wollte er Schauspieler werden. Wenn er diesen
Gedanken auch nicht ausführte, so hat er doch sein Leben lang große Freude
an der Schauspielkunst gehabt und sich angelegentlich mit ihr beschäftigt. Es
lag etwas vom Schauspieler in ihm; man wird daran erinnert durch seinen oft
dramatisch bewegten, häufig dialogisch gestalteten Stil, seine Neigung zum dekla¬
matorischen Pathos und zu effektvoller Bildern. Er hat auch manchmal im
Leben Proben seines schauspielerischen Talentes gegeben. Seine Tochter, Frau
von Vandeul, weiß davon in ihren Denkwürdigkeiten allerlei, nicht immer
Rühmliches, zu erzählen.

Unter manchen romantischen Umständen heiratete er gegen den Willen
seines Vaters ein hübsches und tugendhaftes, aber armes Mädchen. Die Pflicht,
für seine Familie zu sorgen, machte ihn zum Schriftsteller. Er begann mit
Übersetzungen aus dem Englischen. England übte damals durch seine Wissen¬
schaft, Literatur und Politik einen bedeutenden Einfluß auf die gebildeten
Kreise Frankreichs aus. In der Philosophie fing man an, statt Descartes, eng¬
lischen Lehrmeistern. Bacon, Locke, Hobbes usw. zu folgen. Diderot bearbeitete
die Schrift des Grafen Shaftesbury über „Das Verdienst und die Tugend".
Shaftesbury ist Theist, er glaubt an ein höchstes Wesen, an die Tugend als
Bedingung des Glückes; dabei billigt er den Egoismus, der sich dem all¬
gemeinen Wohle unterordnet. Mit dieser Arbeit betrat Diderot die Laufbahn
des philosophischen Schriftstellers.

Man hat das achtzehnte Jahrhundert in Frankreich das philosophische
genannt. Selbst in die Salons drang die Philosophie ein und bildete den Gegen¬
stand der Unterhaltung; freilich war es weniger eine Philosophie, die sich die
Aufgabe stellt, die Schöpfung und ihre Rätsel in tiefsinnige Systeme zu fassen,
als eine scharfe Kritik der herrschenden religiösen und moralischen Lehrmeinungen
und der Einrichtungen in Staat und Kirche. Diderot selbst erwarb sich durch
die Vorliebe und die Sicherheit, mit denen er philosophische Fragen behandelte,
unter seinen Freunden den Namen „der Philosoph" und pflegte sich selbst so
zu nennen. Schon seine erste selbständige Schrift, die ?ensöe8 ptulo80pnique3
(1746), machte großes Aufsehen. Sie wendet sich gegen den Wunder- und
Aberglauben und gegen den religiösen Fanatismus. In seinen folgenden
Schriften (promenaäe an 8ceptique u. a.) bricht er vollständig mit dem Offen¬
barungsglauben und bekennt sich zur natürlichen Religion.

Seine freien Äußerungen erregten Anstoß bei den herrschenden Kreisen.
Er wurde ohne Verhör verhaftet und über drei Monate in Vincennes gefangen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/51>, abgerufen am 12.05.2024.