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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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John Galsworthy, der Lpiker und Dramatiker

brochene Männer beide. Aber sie grüßen sich, wie zwei Fechter auf dem Felde
der Ehre die Klingen gegen einander senken.

Man hat gerade diesen Schluß bei der Berliner Aufführung als ver¬
stimmende Äußerlichkeit empfunden; nicht ganz mit Recht, deucht mir. denn
eine solche Kritik läßt außer acht, daß die englische Psyche große Gefühls-
erregungen nicht so spontan äußert als es bei uns geschieht. Sie mögen sich
recht wohl wie hier unter einer stummen Gebärde bergen, ohne an erschütternder
Eindringlichkeit einzubüßen.

Hier wie drüben hat die Kritik wiederholt Galsworthy als Schüler und
Nachfolger Gerhart Hauptmanns -- gemeint ist der Hauptmann der früheren
Jahre -- bezeichnet. Man hat zur Parallele mit diesem Streikdrama "Die
Weber" und als Seitenstück zu der Diebeskomödie "Der Biberpelz" den als
Lustspiel bezeichneten Dreiakter "l'dis silver Vox" herangezogen. Der Unter¬
schied zwischen beiden Dichtern dürfte darin liegen, daß Galsworthy, wiewohl
mit dem Herzen sich zu dem Enterbten hinneigend, doch stets den Besitzenden
gerecht zu werden sucht, denen er nach Abkunft und Erziehung zugehört. Außer¬
dem kommt es Hauptmann sehr oft darauf an, im Individuum den Typus
der Masse aufzuzeigen, während den? britischen Dichter die Persönlichkeit unter
allen Umständen das wesentliche ist. und er nur leise, wie unabsichtlich auf die
Faktoren hinweist, die an ihrem Werden gearbeitet haben. Wir haben also
den umgekehrten Entwicklungsprozeß. Verwandt sind sich Hauptmann und
Galsworthy in ihrem Hineinleuchten in dunkle Probleme, die sich in Scham
und Schuld vor den Augen des Beobachters verstecken wollen. Wenn aber
Hauptmann am Schluß nur die grelle Dissonanz zerrissener Saiten aufzuweisen
hat, so tönt uns oft aus den letzten Worten von Galsworthys Dichtung die
leise Frage entgegen: So geht es nicht. Wie anders? Wißt Jhrs? Ich
weiß es nicht. Einmal auch ein Hinweis auf den Weg. der in Jahrhunderten
unermüdlichen Liebesmühens gangbar wäre. Die "Phantasie" "l^dio pi^con"
gibt das Porträt eines weichherzigen Künstlers, der im Vagabunden immer
den leidenden, liebebedürftigen Menschen sieht und der Schar verwahrloster Gäste,
die sich in seinem Atelier einfindet, auf jede Weise zu helfen sucht. Natürlich
wird seine Güte mißbraucht. Aber darauf kommt es nicht an. Ihm, dem
Verständnisvollen, schüttet der Tunichtgut Ferrand sein Herz aus -- eine
Philosophie des Vagabundentums, wie sie mit poesievoller Romantik umkleidet,
schon von manch anderem Briten verkündet worden ist. Das Gleichnis der
wilden und der zahmen Vögel huscht vorüber. Jene lassen sich nicht zähmen
und wollen auch nicht in den gepflegten Wohltätigkeitsanstalten das Brot des
Mitleids essen. Nur verstehende Güte, die diese Andersgearteten hinnimmt wie
sie sind, kann ihnen ihr dunkles Leben ein wenig leichter machen.

Nirgends redet Galsworthy so deutlich durch den Mund seiner Gestalten
als an dieser Stelle. Und wir sehen hier auch klar, daß es ein Dichter ist.
der zu uns spricht -- ein Mann, den das Leben in seinem vollen Reichtum


John Galsworthy, der Lpiker und Dramatiker

brochene Männer beide. Aber sie grüßen sich, wie zwei Fechter auf dem Felde
der Ehre die Klingen gegen einander senken.

Man hat gerade diesen Schluß bei der Berliner Aufführung als ver¬
stimmende Äußerlichkeit empfunden; nicht ganz mit Recht, deucht mir. denn
eine solche Kritik läßt außer acht, daß die englische Psyche große Gefühls-
erregungen nicht so spontan äußert als es bei uns geschieht. Sie mögen sich
recht wohl wie hier unter einer stummen Gebärde bergen, ohne an erschütternder
Eindringlichkeit einzubüßen.

Hier wie drüben hat die Kritik wiederholt Galsworthy als Schüler und
Nachfolger Gerhart Hauptmanns — gemeint ist der Hauptmann der früheren
Jahre — bezeichnet. Man hat zur Parallele mit diesem Streikdrama „Die
Weber" und als Seitenstück zu der Diebeskomödie „Der Biberpelz" den als
Lustspiel bezeichneten Dreiakter „l'dis silver Vox" herangezogen. Der Unter¬
schied zwischen beiden Dichtern dürfte darin liegen, daß Galsworthy, wiewohl
mit dem Herzen sich zu dem Enterbten hinneigend, doch stets den Besitzenden
gerecht zu werden sucht, denen er nach Abkunft und Erziehung zugehört. Außer¬
dem kommt es Hauptmann sehr oft darauf an, im Individuum den Typus
der Masse aufzuzeigen, während den? britischen Dichter die Persönlichkeit unter
allen Umständen das wesentliche ist. und er nur leise, wie unabsichtlich auf die
Faktoren hinweist, die an ihrem Werden gearbeitet haben. Wir haben also
den umgekehrten Entwicklungsprozeß. Verwandt sind sich Hauptmann und
Galsworthy in ihrem Hineinleuchten in dunkle Probleme, die sich in Scham
und Schuld vor den Augen des Beobachters verstecken wollen. Wenn aber
Hauptmann am Schluß nur die grelle Dissonanz zerrissener Saiten aufzuweisen
hat, so tönt uns oft aus den letzten Worten von Galsworthys Dichtung die
leise Frage entgegen: So geht es nicht. Wie anders? Wißt Jhrs? Ich
weiß es nicht. Einmal auch ein Hinweis auf den Weg. der in Jahrhunderten
unermüdlichen Liebesmühens gangbar wäre. Die „Phantasie" „l^dio pi^con"
gibt das Porträt eines weichherzigen Künstlers, der im Vagabunden immer
den leidenden, liebebedürftigen Menschen sieht und der Schar verwahrloster Gäste,
die sich in seinem Atelier einfindet, auf jede Weise zu helfen sucht. Natürlich
wird seine Güte mißbraucht. Aber darauf kommt es nicht an. Ihm, dem
Verständnisvollen, schüttet der Tunichtgut Ferrand sein Herz aus — eine
Philosophie des Vagabundentums, wie sie mit poesievoller Romantik umkleidet,
schon von manch anderem Briten verkündet worden ist. Das Gleichnis der
wilden und der zahmen Vögel huscht vorüber. Jene lassen sich nicht zähmen
und wollen auch nicht in den gepflegten Wohltätigkeitsanstalten das Brot des
Mitleids essen. Nur verstehende Güte, die diese Andersgearteten hinnimmt wie
sie sind, kann ihnen ihr dunkles Leben ein wenig leichter machen.

Nirgends redet Galsworthy so deutlich durch den Mund seiner Gestalten
als an dieser Stelle. Und wir sehen hier auch klar, daß es ein Dichter ist.
der zu uns spricht — ein Mann, den das Leben in seinem vollen Reichtum


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[0517] John Galsworthy, der Lpiker und Dramatiker brochene Männer beide. Aber sie grüßen sich, wie zwei Fechter auf dem Felde der Ehre die Klingen gegen einander senken. Man hat gerade diesen Schluß bei der Berliner Aufführung als ver¬ stimmende Äußerlichkeit empfunden; nicht ganz mit Recht, deucht mir. denn eine solche Kritik läßt außer acht, daß die englische Psyche große Gefühls- erregungen nicht so spontan äußert als es bei uns geschieht. Sie mögen sich recht wohl wie hier unter einer stummen Gebärde bergen, ohne an erschütternder Eindringlichkeit einzubüßen. Hier wie drüben hat die Kritik wiederholt Galsworthy als Schüler und Nachfolger Gerhart Hauptmanns — gemeint ist der Hauptmann der früheren Jahre — bezeichnet. Man hat zur Parallele mit diesem Streikdrama „Die Weber" und als Seitenstück zu der Diebeskomödie „Der Biberpelz" den als Lustspiel bezeichneten Dreiakter „l'dis silver Vox" herangezogen. Der Unter¬ schied zwischen beiden Dichtern dürfte darin liegen, daß Galsworthy, wiewohl mit dem Herzen sich zu dem Enterbten hinneigend, doch stets den Besitzenden gerecht zu werden sucht, denen er nach Abkunft und Erziehung zugehört. Außer¬ dem kommt es Hauptmann sehr oft darauf an, im Individuum den Typus der Masse aufzuzeigen, während den? britischen Dichter die Persönlichkeit unter allen Umständen das wesentliche ist. und er nur leise, wie unabsichtlich auf die Faktoren hinweist, die an ihrem Werden gearbeitet haben. Wir haben also den umgekehrten Entwicklungsprozeß. Verwandt sind sich Hauptmann und Galsworthy in ihrem Hineinleuchten in dunkle Probleme, die sich in Scham und Schuld vor den Augen des Beobachters verstecken wollen. Wenn aber Hauptmann am Schluß nur die grelle Dissonanz zerrissener Saiten aufzuweisen hat, so tönt uns oft aus den letzten Worten von Galsworthys Dichtung die leise Frage entgegen: So geht es nicht. Wie anders? Wißt Jhrs? Ich weiß es nicht. Einmal auch ein Hinweis auf den Weg. der in Jahrhunderten unermüdlichen Liebesmühens gangbar wäre. Die „Phantasie" „l^dio pi^con" gibt das Porträt eines weichherzigen Künstlers, der im Vagabunden immer den leidenden, liebebedürftigen Menschen sieht und der Schar verwahrloster Gäste, die sich in seinem Atelier einfindet, auf jede Weise zu helfen sucht. Natürlich wird seine Güte mißbraucht. Aber darauf kommt es nicht an. Ihm, dem Verständnisvollen, schüttet der Tunichtgut Ferrand sein Herz aus — eine Philosophie des Vagabundentums, wie sie mit poesievoller Romantik umkleidet, schon von manch anderem Briten verkündet worden ist. Das Gleichnis der wilden und der zahmen Vögel huscht vorüber. Jene lassen sich nicht zähmen und wollen auch nicht in den gepflegten Wohltätigkeitsanstalten das Brot des Mitleids essen. Nur verstehende Güte, die diese Andersgearteten hinnimmt wie sie sind, kann ihnen ihr dunkles Leben ein wenig leichter machen. Nirgends redet Galsworthy so deutlich durch den Mund seiner Gestalten als an dieser Stelle. Und wir sehen hier auch klar, daß es ein Dichter ist. der zu uns spricht — ein Mann, den das Leben in seinem vollen Reichtum

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/517>, abgerufen am 12.05.2024.