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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Russische Polenpolitik

die Anfülle der Moskaner Panslawisten*). Die Polen vertrauten Albedinski
wegen seiner Haltung als Generalgouvemeur von Wilna (1874--1880). Damals
ist er erfolgreich für die Rechte der römisch-katholischen Kirche im Westgebiet
eingetreten und forderte die Abkehr von der durch Tolstoj befolgten Politik.
Im Königreich ist er entsprechend verfahren. Mit Genehmigung des Zaren
untersagte Albediuski jede Form der Verfolgung der Umladen und gestattete sogar
dem Klerus die Verletzung der russischen Gesetze, um die "Religiosität bei den
Massen" zu heben. Während Kotzebues und Albedinskis Amtszeit wurde trotz
der nationalistischen und fozialischen Umtriebe und Arbeiterunruhen kein Todes¬
urteil vollstreckt.




Die Gründe für eine Versöhnungspolitik gegen die Polen schienen sich nach
dem Berliner Kongreß zu vermehren. Einer der stärksten mag die Furcht vor
Deutschland und dem Deutschtum gewesen sein. Die russischen Patrioten fühlten
sich auf diesem Kongreß durch Bismarcks Geschick um die Früchte eines Sieges
gebracht, den Rußland tatsächlich nicht errungen hatte.

Fassen wir das Gesagte zusammen, so glauben wir als die wichtigsten
Motive für Alexander des Zweiten Polenpolitik, besonders nach 1878, vor allen
Dingen die Gesichtspunkte bezeichnen zu dürfen, die ihn am Anfang seiner
Regierungszeit zu den großen Reformen und in der Polenfrage zu dem Experiment
mit Marquis Wielopolski geleitet hatten. Alexander der Zweite hat den Gedanken
an eine gegen 1866 allerdings beschränkte autonome Verwaltung Polens sicher
bis an sein Lebensende festgehalten, weil er einmal dafür Gewinn für die
innere Politik erhoffte durch Erziehung von Beamten und dann auch, weil er
die Stimmung der Polen außerhalb Rußlands für alle Fälle für Rußland
gewinnen wollte. Die Einführung des russischen Gerichtsstatuts spricht nicht gegen
meine Auffassung. Wohl aber spricht das Festhalten an den Napoleonischen
Wirtschaftsgesetzen dafür und der Kampf der Moskowiter um die Abtrennung
des Cholmer Landes. Aber während 1861 der einflußreichste Teil der russischen
Gesellschaft hinter ihm stand, konnte sich der Zar gegen Ende seiner Negierung
nur auf ein Häuflein überdies alternder Männer stützen. Die Jugend, verblendet
durch die sozialistische oder nationalistische Propaganda, vermochte ihn ebensowenig
zu verstehen, wie die herangewachsene Intelligenz, die sich um alle ihre staatlichen
Ideale betrogen sah. Die amtlichen Träger der Staatsgewalt standen bis auf
wenige allen Reformversuchen innerlich feindlich gegenüber.





*) Albedinski wird von Juri Ssamarin als ein "Jünger der Politischen Schule des
General-Adjutanten Nihilismus" gekennzeichnet im Anschluß an die Veröffentlichung von dessen
Jmmcdiat-Bericht über die Lage der Ostseeprovinzen im Jahre 1868. Zitiert in "Okrainy
Rossiji", V. Ausgabe. B. Behrs Buchhandlung lE. Bock), Berlin 1874. S. 117.
Russische Polenpolitik

die Anfülle der Moskaner Panslawisten*). Die Polen vertrauten Albedinski
wegen seiner Haltung als Generalgouvemeur von Wilna (1874—1880). Damals
ist er erfolgreich für die Rechte der römisch-katholischen Kirche im Westgebiet
eingetreten und forderte die Abkehr von der durch Tolstoj befolgten Politik.
Im Königreich ist er entsprechend verfahren. Mit Genehmigung des Zaren
untersagte Albediuski jede Form der Verfolgung der Umladen und gestattete sogar
dem Klerus die Verletzung der russischen Gesetze, um die „Religiosität bei den
Massen" zu heben. Während Kotzebues und Albedinskis Amtszeit wurde trotz
der nationalistischen und fozialischen Umtriebe und Arbeiterunruhen kein Todes¬
urteil vollstreckt.




Die Gründe für eine Versöhnungspolitik gegen die Polen schienen sich nach
dem Berliner Kongreß zu vermehren. Einer der stärksten mag die Furcht vor
Deutschland und dem Deutschtum gewesen sein. Die russischen Patrioten fühlten
sich auf diesem Kongreß durch Bismarcks Geschick um die Früchte eines Sieges
gebracht, den Rußland tatsächlich nicht errungen hatte.

Fassen wir das Gesagte zusammen, so glauben wir als die wichtigsten
Motive für Alexander des Zweiten Polenpolitik, besonders nach 1878, vor allen
Dingen die Gesichtspunkte bezeichnen zu dürfen, die ihn am Anfang seiner
Regierungszeit zu den großen Reformen und in der Polenfrage zu dem Experiment
mit Marquis Wielopolski geleitet hatten. Alexander der Zweite hat den Gedanken
an eine gegen 1866 allerdings beschränkte autonome Verwaltung Polens sicher
bis an sein Lebensende festgehalten, weil er einmal dafür Gewinn für die
innere Politik erhoffte durch Erziehung von Beamten und dann auch, weil er
die Stimmung der Polen außerhalb Rußlands für alle Fälle für Rußland
gewinnen wollte. Die Einführung des russischen Gerichtsstatuts spricht nicht gegen
meine Auffassung. Wohl aber spricht das Festhalten an den Napoleonischen
Wirtschaftsgesetzen dafür und der Kampf der Moskowiter um die Abtrennung
des Cholmer Landes. Aber während 1861 der einflußreichste Teil der russischen
Gesellschaft hinter ihm stand, konnte sich der Zar gegen Ende seiner Negierung
nur auf ein Häuflein überdies alternder Männer stützen. Die Jugend, verblendet
durch die sozialistische oder nationalistische Propaganda, vermochte ihn ebensowenig
zu verstehen, wie die herangewachsene Intelligenz, die sich um alle ihre staatlichen
Ideale betrogen sah. Die amtlichen Träger der Staatsgewalt standen bis auf
wenige allen Reformversuchen innerlich feindlich gegenüber.





*) Albedinski wird von Juri Ssamarin als ein „Jünger der Politischen Schule des
General-Adjutanten Nihilismus" gekennzeichnet im Anschluß an die Veröffentlichung von dessen
Jmmcdiat-Bericht über die Lage der Ostseeprovinzen im Jahre 1868. Zitiert in „Okrainy
Rossiji", V. Ausgabe. B. Behrs Buchhandlung lE. Bock), Berlin 1874. S. 117.
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[0562] Russische Polenpolitik die Anfülle der Moskaner Panslawisten*). Die Polen vertrauten Albedinski wegen seiner Haltung als Generalgouvemeur von Wilna (1874—1880). Damals ist er erfolgreich für die Rechte der römisch-katholischen Kirche im Westgebiet eingetreten und forderte die Abkehr von der durch Tolstoj befolgten Politik. Im Königreich ist er entsprechend verfahren. Mit Genehmigung des Zaren untersagte Albediuski jede Form der Verfolgung der Umladen und gestattete sogar dem Klerus die Verletzung der russischen Gesetze, um die „Religiosität bei den Massen" zu heben. Während Kotzebues und Albedinskis Amtszeit wurde trotz der nationalistischen und fozialischen Umtriebe und Arbeiterunruhen kein Todes¬ urteil vollstreckt. Die Gründe für eine Versöhnungspolitik gegen die Polen schienen sich nach dem Berliner Kongreß zu vermehren. Einer der stärksten mag die Furcht vor Deutschland und dem Deutschtum gewesen sein. Die russischen Patrioten fühlten sich auf diesem Kongreß durch Bismarcks Geschick um die Früchte eines Sieges gebracht, den Rußland tatsächlich nicht errungen hatte. Fassen wir das Gesagte zusammen, so glauben wir als die wichtigsten Motive für Alexander des Zweiten Polenpolitik, besonders nach 1878, vor allen Dingen die Gesichtspunkte bezeichnen zu dürfen, die ihn am Anfang seiner Regierungszeit zu den großen Reformen und in der Polenfrage zu dem Experiment mit Marquis Wielopolski geleitet hatten. Alexander der Zweite hat den Gedanken an eine gegen 1866 allerdings beschränkte autonome Verwaltung Polens sicher bis an sein Lebensende festgehalten, weil er einmal dafür Gewinn für die innere Politik erhoffte durch Erziehung von Beamten und dann auch, weil er die Stimmung der Polen außerhalb Rußlands für alle Fälle für Rußland gewinnen wollte. Die Einführung des russischen Gerichtsstatuts spricht nicht gegen meine Auffassung. Wohl aber spricht das Festhalten an den Napoleonischen Wirtschaftsgesetzen dafür und der Kampf der Moskowiter um die Abtrennung des Cholmer Landes. Aber während 1861 der einflußreichste Teil der russischen Gesellschaft hinter ihm stand, konnte sich der Zar gegen Ende seiner Negierung nur auf ein Häuflein überdies alternder Männer stützen. Die Jugend, verblendet durch die sozialistische oder nationalistische Propaganda, vermochte ihn ebensowenig zu verstehen, wie die herangewachsene Intelligenz, die sich um alle ihre staatlichen Ideale betrogen sah. Die amtlichen Träger der Staatsgewalt standen bis auf wenige allen Reformversuchen innerlich feindlich gegenüber. *) Albedinski wird von Juri Ssamarin als ein „Jünger der Politischen Schule des General-Adjutanten Nihilismus" gekennzeichnet im Anschluß an die Veröffentlichung von dessen Jmmcdiat-Bericht über die Lage der Ostseeprovinzen im Jahre 1868. Zitiert in „Okrainy Rossiji", V. Ausgabe. B. Behrs Buchhandlung lE. Bock), Berlin 1874. S. 117.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/562>, abgerufen am 09.05.2024.