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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Humanisten und Germanisten

Ist NUN jenes gemeinsame Ziel etwa so selbstverständlich, daß es mit
unfehlbarer Sicherheit von jeder Schulgattung ohne weiteres erreicht wird?
Oder bedarf es der Feststellung eines gemeinsamen Treffpunktes überhaupt nicht,
und darf jede damit zufrieden sein, sich ihr Sonderziel zu stecken und braucht
sich um die beiden anderen nicht zu kümmern?

Seit der Erteilung der Gleichberechtigung sehen wir die Freunde des
humanistischen Gymnasiums mit regsten Eifer an der Arbeit, den Stoff und
das Verfahren bei der Einführung in die Welt des Altertums von neuem zu
beleuchten, zu sichten, zu sondern, auszuscheiden und neu zu gestalten, kurz, zu¬
gleich zu vertiefen und zu modernisieren. Nötig war das in hohem Grade
geworden, weil seit der Gründung des heutigen Gymnasiums, vor gerade
hundert Jahren, unsere Stellung zum Altertum sich ganz bedeutend geändert hatte.

Als sich zur Zeit der Aufklärung, bei mangelnder kraftvoller religiöser wie
nationaler Einheit für die Gebildeten das Hellenentum als eine Art neuer Re¬
ligion dargeboten hatte, als eine menschlichere, in der das Göttliche selbst
gesteigertes Menschentum war -- Friedrich Paulsen hat das in seiner Dar¬
stellung des deutschen Bildungswesens in geschichtlicher Entwicklung treffend
nachgewiesen --, da war es wohl zu begreifen gewesen, daß das Studium des
Altertums zu einer Art Kultus wurde, daß für die Beschäftigung mit der
Antike geradezu das Dogma vom klassischen Altertum maßgebend werden konnte,
daß das klassische Bildungsideal normative Geltung erhalten mußte. Wie sehr
jene dogmatische Geltung aus der Sehnsucht, aus der damaligen unbefriedigender
deutschen Gegenwart herauszukommen, zu verstehen ist, dafür mag aus der
Fülle der Zeugnisse die Apotheose des Philosophen Hegel angeführt werden:
"Ach! aus den fernen Tagen der Vergangenheit strahlt der Seele, die Gefühl
für menschliche Schönheit und Größe hat, ein Bild entgegen, das Bild eines
Genius der Völker, eines Sohnes des Glücks, der Freiheit, und Zöglings der
schönen Phantasie; auch ihn fesselt das eherne Band des Bedürfnisses an die
Muttererde, aber er hat es durch seine Schöpfung, durch seine Phantasie so
bearbeitet, verfeinert, verschönert, mit Hilfe der Grazien mit Rosen umwunden,
daß er sich in diesen Fesseln als in seinem Werke, als in einem Teil seiner
selbst gefällt, daß es ganz fein Werk zu sein schien. Seine Diener waren die
Freude, die Fröhlichkeit, die Anmut, seine Seele war erfüllt von dem Bewußtsein
ihrer Kraft und ihrer Freiheit." Vor der historischen Forschung hat dies nor¬
mative Ideal nicht standhalten können, und so ist an die Stelle jener dogma¬
tischen Geltung, die das bewußte Bildungsziel des alten Gymnasiums war, das
Bestreben getreten, der Jugend einen Einblick zu gewähren in die Aufgabe,
die dem Hellenentum im Entwicklungsgange der Kultur des Abendlandes zu¬
gefallen war.

Zur Wahrung der nachhaltigen Pflege der Altertumsstudien war, als im
Jahre 1890 das humanistische Gymnasium mehr erschüttert schien, als es
wirklich der Fall war, der "Gymnasialverein" gegründet worden, und sein


Humanisten und Germanisten

Ist NUN jenes gemeinsame Ziel etwa so selbstverständlich, daß es mit
unfehlbarer Sicherheit von jeder Schulgattung ohne weiteres erreicht wird?
Oder bedarf es der Feststellung eines gemeinsamen Treffpunktes überhaupt nicht,
und darf jede damit zufrieden sein, sich ihr Sonderziel zu stecken und braucht
sich um die beiden anderen nicht zu kümmern?

Seit der Erteilung der Gleichberechtigung sehen wir die Freunde des
humanistischen Gymnasiums mit regsten Eifer an der Arbeit, den Stoff und
das Verfahren bei der Einführung in die Welt des Altertums von neuem zu
beleuchten, zu sichten, zu sondern, auszuscheiden und neu zu gestalten, kurz, zu¬
gleich zu vertiefen und zu modernisieren. Nötig war das in hohem Grade
geworden, weil seit der Gründung des heutigen Gymnasiums, vor gerade
hundert Jahren, unsere Stellung zum Altertum sich ganz bedeutend geändert hatte.

Als sich zur Zeit der Aufklärung, bei mangelnder kraftvoller religiöser wie
nationaler Einheit für die Gebildeten das Hellenentum als eine Art neuer Re¬
ligion dargeboten hatte, als eine menschlichere, in der das Göttliche selbst
gesteigertes Menschentum war — Friedrich Paulsen hat das in seiner Dar¬
stellung des deutschen Bildungswesens in geschichtlicher Entwicklung treffend
nachgewiesen —, da war es wohl zu begreifen gewesen, daß das Studium des
Altertums zu einer Art Kultus wurde, daß für die Beschäftigung mit der
Antike geradezu das Dogma vom klassischen Altertum maßgebend werden konnte,
daß das klassische Bildungsideal normative Geltung erhalten mußte. Wie sehr
jene dogmatische Geltung aus der Sehnsucht, aus der damaligen unbefriedigender
deutschen Gegenwart herauszukommen, zu verstehen ist, dafür mag aus der
Fülle der Zeugnisse die Apotheose des Philosophen Hegel angeführt werden:
„Ach! aus den fernen Tagen der Vergangenheit strahlt der Seele, die Gefühl
für menschliche Schönheit und Größe hat, ein Bild entgegen, das Bild eines
Genius der Völker, eines Sohnes des Glücks, der Freiheit, und Zöglings der
schönen Phantasie; auch ihn fesselt das eherne Band des Bedürfnisses an die
Muttererde, aber er hat es durch seine Schöpfung, durch seine Phantasie so
bearbeitet, verfeinert, verschönert, mit Hilfe der Grazien mit Rosen umwunden,
daß er sich in diesen Fesseln als in seinem Werke, als in einem Teil seiner
selbst gefällt, daß es ganz fein Werk zu sein schien. Seine Diener waren die
Freude, die Fröhlichkeit, die Anmut, seine Seele war erfüllt von dem Bewußtsein
ihrer Kraft und ihrer Freiheit." Vor der historischen Forschung hat dies nor¬
mative Ideal nicht standhalten können, und so ist an die Stelle jener dogma¬
tischen Geltung, die das bewußte Bildungsziel des alten Gymnasiums war, das
Bestreben getreten, der Jugend einen Einblick zu gewähren in die Aufgabe,
die dem Hellenentum im Entwicklungsgange der Kultur des Abendlandes zu¬
gefallen war.

Zur Wahrung der nachhaltigen Pflege der Altertumsstudien war, als im
Jahre 1890 das humanistische Gymnasium mehr erschüttert schien, als es
wirklich der Fall war, der „Gymnasialverein" gegründet worden, und sein


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/602>, abgerufen am 09.05.2024.