Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Lduard Lngels ,volks-Goethe"

Leben und dem Schaffen eines großen Dichters klarzulegen, wie jeder Gewissenhafte
auch in Kleinigkeiten mit Äußerung von bloßen Vermutungen eher zurückhält,
sobald er den Werdegang eines großen Mannes den weitesten Kreisen des
Volkes vermitteln will. Da aber kommt Eduard Engel; er hat gewisse, völlig
unbewiesene Meinungen über Goethes Lebensgang und benutzt eine Gelegenheit,
wo er lediglich bescheiden und vorsichtig Goethes beste Werke darbieten soll,
diese Gelegenheit benutzt er, um seine ganz privaten unbeweisbaren Meinungen
über Goethes persönlichstes Leben Tausenden, Zehntausenden als Einleitung auf¬
zudrängen ! Wenn er in dem Erlebnis mit Friederike eine Tragödie sieht, kann
er das nicht äußern, ohne dabei irgend auf jene ganz unwahrscheinlichen, jedenfalls
unbeweisbaren Punkte zu kommen? Was soll die peinliche Hervordrüngung der An¬
gelegenheit in einem Abriß von 75 Seiten? Was wird ferner der Mann aus dem
Volke, der Primaner, die Seminaristin aus einer Einleitung für Nutzen ziehen
können, die in einer geradezu aufdringlichen, überall besser wissenden Art über Goethes
sämtliche Herzensneigungen urteilt? Da wird eine ganz allgemeine autobio¬
graphische Bemerkung des alten Goethe, in der von "Lebensirrtümern" die Rede
ist, schlankweg in der Einleitung und durch Fußnote unter dem Text auf Frau
von Stein gedeutet. Und der vorher unorientierte Leser tritt nun an Goethes
Werke heran, mit dem Engelschen Urteil ausgerüstet, daß "die Stein" "klein¬
lich, ja niedrig gesinnt und jedes tieferen Verständnisses nicht nur für Goethes
Dichtungen, sondern überhaupt für ein Leben in Poesie und Künsten völlig bar"
gewesen ist, und daß der arme Goethe in seiner Liebe zu ihr in der "furcht¬
barsten Täuschung oder Selbsttäuschung" seines Daseins befangen war.

Vielleicht werden spätere Geschlechter Engel für diese kühnen und klaren
Formulierungen Dank wissen und wir heutigen sind noch zu befangen in kon¬
ventionellen Vorurteilen, um diese Vorbereitung auf Goethes Schriften so recht
zu würdigen. Ich zweifle freilich nicht, heute werden doch noch recht viele mit
mir sagen: dieses "Leben Goethes" gehörte in keinen "Volks-Goethe" hinein,
und Engel kann die Wirkungen, die sein voreilig hingeworfener biographischer
Aufsatz in weiten Kreisen zweifellos üben wird, nimmermehr verantworten.




Lduard Lngels ,volks-Goethe"

Leben und dem Schaffen eines großen Dichters klarzulegen, wie jeder Gewissenhafte
auch in Kleinigkeiten mit Äußerung von bloßen Vermutungen eher zurückhält,
sobald er den Werdegang eines großen Mannes den weitesten Kreisen des
Volkes vermitteln will. Da aber kommt Eduard Engel; er hat gewisse, völlig
unbewiesene Meinungen über Goethes Lebensgang und benutzt eine Gelegenheit,
wo er lediglich bescheiden und vorsichtig Goethes beste Werke darbieten soll,
diese Gelegenheit benutzt er, um seine ganz privaten unbeweisbaren Meinungen
über Goethes persönlichstes Leben Tausenden, Zehntausenden als Einleitung auf¬
zudrängen ! Wenn er in dem Erlebnis mit Friederike eine Tragödie sieht, kann
er das nicht äußern, ohne dabei irgend auf jene ganz unwahrscheinlichen, jedenfalls
unbeweisbaren Punkte zu kommen? Was soll die peinliche Hervordrüngung der An¬
gelegenheit in einem Abriß von 75 Seiten? Was wird ferner der Mann aus dem
Volke, der Primaner, die Seminaristin aus einer Einleitung für Nutzen ziehen
können, die in einer geradezu aufdringlichen, überall besser wissenden Art über Goethes
sämtliche Herzensneigungen urteilt? Da wird eine ganz allgemeine autobio¬
graphische Bemerkung des alten Goethe, in der von „Lebensirrtümern" die Rede
ist, schlankweg in der Einleitung und durch Fußnote unter dem Text auf Frau
von Stein gedeutet. Und der vorher unorientierte Leser tritt nun an Goethes
Werke heran, mit dem Engelschen Urteil ausgerüstet, daß „die Stein" „klein¬
lich, ja niedrig gesinnt und jedes tieferen Verständnisses nicht nur für Goethes
Dichtungen, sondern überhaupt für ein Leben in Poesie und Künsten völlig bar"
gewesen ist, und daß der arme Goethe in seiner Liebe zu ihr in der „furcht¬
barsten Täuschung oder Selbsttäuschung" seines Daseins befangen war.

Vielleicht werden spätere Geschlechter Engel für diese kühnen und klaren
Formulierungen Dank wissen und wir heutigen sind noch zu befangen in kon¬
ventionellen Vorurteilen, um diese Vorbereitung auf Goethes Schriften so recht
zu würdigen. Ich zweifle freilich nicht, heute werden doch noch recht viele mit
mir sagen: dieses „Leben Goethes" gehörte in keinen „Volks-Goethe" hinein,
und Engel kann die Wirkungen, die sein voreilig hingeworfener biographischer
Aufsatz in weiten Kreisen zweifellos üben wird, nimmermehr verantworten.




<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0100" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/327566"/>
          <fw type="header" place="top"> Lduard Lngels ,volks-Goethe"</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_356" prev="#ID_355"> Leben und dem Schaffen eines großen Dichters klarzulegen, wie jeder Gewissenhafte<lb/>
auch in Kleinigkeiten mit Äußerung von bloßen Vermutungen eher zurückhält,<lb/>
sobald er den Werdegang eines großen Mannes den weitesten Kreisen des<lb/>
Volkes vermitteln will. Da aber kommt Eduard Engel; er hat gewisse, völlig<lb/>
unbewiesene Meinungen über Goethes Lebensgang und benutzt eine Gelegenheit,<lb/>
wo er lediglich bescheiden und vorsichtig Goethes beste Werke darbieten soll,<lb/>
diese Gelegenheit benutzt er, um seine ganz privaten unbeweisbaren Meinungen<lb/>
über Goethes persönlichstes Leben Tausenden, Zehntausenden als Einleitung auf¬<lb/>
zudrängen ! Wenn er in dem Erlebnis mit Friederike eine Tragödie sieht, kann<lb/>
er das nicht äußern, ohne dabei irgend auf jene ganz unwahrscheinlichen, jedenfalls<lb/>
unbeweisbaren Punkte zu kommen? Was soll die peinliche Hervordrüngung der An¬<lb/>
gelegenheit in einem Abriß von 75 Seiten? Was wird ferner der Mann aus dem<lb/>
Volke, der Primaner, die Seminaristin aus einer Einleitung für Nutzen ziehen<lb/>
können, die in einer geradezu aufdringlichen, überall besser wissenden Art über Goethes<lb/>
sämtliche Herzensneigungen urteilt? Da wird eine ganz allgemeine autobio¬<lb/>
graphische Bemerkung des alten Goethe, in der von &#x201E;Lebensirrtümern" die Rede<lb/>
ist, schlankweg in der Einleitung und durch Fußnote unter dem Text auf Frau<lb/>
von Stein gedeutet. Und der vorher unorientierte Leser tritt nun an Goethes<lb/>
Werke heran, mit dem Engelschen Urteil ausgerüstet, daß &#x201E;die Stein" &#x201E;klein¬<lb/>
lich, ja niedrig gesinnt und jedes tieferen Verständnisses nicht nur für Goethes<lb/>
Dichtungen, sondern überhaupt für ein Leben in Poesie und Künsten völlig bar"<lb/>
gewesen ist, und daß der arme Goethe in seiner Liebe zu ihr in der &#x201E;furcht¬<lb/>
barsten Täuschung oder Selbsttäuschung" seines Daseins befangen war.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_357"> Vielleicht werden spätere Geschlechter Engel für diese kühnen und klaren<lb/>
Formulierungen Dank wissen und wir heutigen sind noch zu befangen in kon¬<lb/>
ventionellen Vorurteilen, um diese Vorbereitung auf Goethes Schriften so recht<lb/>
zu würdigen. Ich zweifle freilich nicht, heute werden doch noch recht viele mit<lb/>
mir sagen: dieses &#x201E;Leben Goethes" gehörte in keinen &#x201E;Volks-Goethe" hinein,<lb/>
und Engel kann die Wirkungen, die sein voreilig hingeworfener biographischer<lb/>
Aufsatz in weiten Kreisen zweifellos üben wird, nimmermehr verantworten.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0100] Lduard Lngels ,volks-Goethe" Leben und dem Schaffen eines großen Dichters klarzulegen, wie jeder Gewissenhafte auch in Kleinigkeiten mit Äußerung von bloßen Vermutungen eher zurückhält, sobald er den Werdegang eines großen Mannes den weitesten Kreisen des Volkes vermitteln will. Da aber kommt Eduard Engel; er hat gewisse, völlig unbewiesene Meinungen über Goethes Lebensgang und benutzt eine Gelegenheit, wo er lediglich bescheiden und vorsichtig Goethes beste Werke darbieten soll, diese Gelegenheit benutzt er, um seine ganz privaten unbeweisbaren Meinungen über Goethes persönlichstes Leben Tausenden, Zehntausenden als Einleitung auf¬ zudrängen ! Wenn er in dem Erlebnis mit Friederike eine Tragödie sieht, kann er das nicht äußern, ohne dabei irgend auf jene ganz unwahrscheinlichen, jedenfalls unbeweisbaren Punkte zu kommen? Was soll die peinliche Hervordrüngung der An¬ gelegenheit in einem Abriß von 75 Seiten? Was wird ferner der Mann aus dem Volke, der Primaner, die Seminaristin aus einer Einleitung für Nutzen ziehen können, die in einer geradezu aufdringlichen, überall besser wissenden Art über Goethes sämtliche Herzensneigungen urteilt? Da wird eine ganz allgemeine autobio¬ graphische Bemerkung des alten Goethe, in der von „Lebensirrtümern" die Rede ist, schlankweg in der Einleitung und durch Fußnote unter dem Text auf Frau von Stein gedeutet. Und der vorher unorientierte Leser tritt nun an Goethes Werke heran, mit dem Engelschen Urteil ausgerüstet, daß „die Stein" „klein¬ lich, ja niedrig gesinnt und jedes tieferen Verständnisses nicht nur für Goethes Dichtungen, sondern überhaupt für ein Leben in Poesie und Künsten völlig bar" gewesen ist, und daß der arme Goethe in seiner Liebe zu ihr in der „furcht¬ barsten Täuschung oder Selbsttäuschung" seines Daseins befangen war. Vielleicht werden spätere Geschlechter Engel für diese kühnen und klaren Formulierungen Dank wissen und wir heutigen sind noch zu befangen in kon¬ ventionellen Vorurteilen, um diese Vorbereitung auf Goethes Schriften so recht zu würdigen. Ich zweifle freilich nicht, heute werden doch noch recht viele mit mir sagen: dieses „Leben Goethes" gehörte in keinen „Volks-Goethe" hinein, und Engel kann die Wirkungen, die sein voreilig hingeworfener biographischer Aufsatz in weiten Kreisen zweifellos üben wird, nimmermehr verantworten.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/100
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/100>, abgerufen am 30.05.2024.