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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Prolegomena zu eitler deutschen Weltpolitik

richtung dieser Politik beschäftigen. Daher denn auch die bekannte Zerfahrenheit
in der Stellungnahme zu den einzelnen Vorgängen und manche überflüssige
Nervosität, nicht nur an der Börse. Ein Volk, dessen Wille in einer bestimmten
Hauptrichtung vorwärtstreibt, wird zwar aufmerksam die einzelnen Tages¬
ereignisse verfolgen, wird sich aber nicht von jedem plötzlichen Wind bald auf
die eine, bald auf die andere Seite werfen lassen. Es hat seinen Weg vor
sich und kennt seine Aufgabe: alles, was sich ereignet, einem bestimmten Zweck
nutzbar zu machen. Wenn sich wegen irgendeines Einzelzwecks einmal die
Mächte so oder so gruppieren, wird es nicht gleich über "finstere Wolken am
politischen Himmel" erschrecken, sondern gewiß sein, daß der Zwang der nicht
allzu plötzlich sich verändernden Kräfteverhältnisse und der politischen Haupt¬
strebungen, die durch die Lebenswerte der Völker ein für allemal gegeben sind,
stetig wirkt und im entscheidenden Augenblick die Grundform in dem Kaleidoskop
wieder zur Geltung bringen muß. Das Netz der englischen Einkreisungspolitik
mußte zerreißen, denn ihr Grundgedanke war aus Tagesfurcht und Tages¬
hoffnung geboren, sie entsprach dem Wellengekräusel, nicht dem Strom.

Die bestimmenden Kräfte sowie die erstrebenswerten und möglichen Ziele
unserer auswärtigen Politik anschaulich herauszuarbeiten, das kann nicht nur
-- an Stelle einer dilettantischen Kritik der Tagesgeschichte --, sondern muß
eine Aufgabe der öffentlichen Meinung sein, denn nur dadurch entsteht ein
klarer politischer Gesamtwille, ohne den seit dein Ende des achtzehnten Jahr¬
hunderts auch der größte Staatsmann nicht mehr entscheidend Geschichte
machen kann.

Die Möglichkeiten, die unserer Politik gegeben sind, und damit auch ihre
möglichen Ziele, lassen sich nicht aus der Tagesgeschichte herauslesen, dazu bedarf
es grundsätzlicher Klärung der allgemeinen Fragen. Wir müssen wissen, sür
wen deutsche Auslandspolitik eigentlich gemacht wird; wir müssen uns vor¬
stellen, was Deutschland durch Niederwerfung anderer Mächte überhaupt ge¬
winnen könnte und was umgekehrt eine Niederwerfung Deutschlands für die
anderen Mächte bedeuten würde. Wer diese Fragen durchdacht hat, wird zu¬
gleich ein umgrenztes Bild von den Zwecken haben, die unsere Politik verfolgen
kann, er wird gegen manche Phantasiebilder, die hin und wieder die Öffentlichkeit
aufregen und gar erschrecken, kritischer werden. Sein Wille richtet sich auf be¬
stimmte mögliche Ziele, statt bald gegen diesen, bald gegen jenen Staat zornig
oder hoffnungsfroh zu schwanken.

Wenn wir nun versuchen, auf jene Fragen eine Antwort zu finden, so
tun wir das nicht mit dem Anspruch, für bestimmte politische Ziele zu werben,
vielmehr handelt es sich uns nur um die Klärung einiger grundsätzlicher Begriffe,
also um die Voraussetzungen einer bewußten Staatskunst, nicht um eine Be¬
urteilung des Inhalts unserer Politik. Mag der Staatsmann die hier er¬
örterten Begriffe gebrauchen oder verwerfen, wichtig ist, daß er das eine oder
andere mit klarer Einsicht tut.


Prolegomena zu eitler deutschen Weltpolitik

richtung dieser Politik beschäftigen. Daher denn auch die bekannte Zerfahrenheit
in der Stellungnahme zu den einzelnen Vorgängen und manche überflüssige
Nervosität, nicht nur an der Börse. Ein Volk, dessen Wille in einer bestimmten
Hauptrichtung vorwärtstreibt, wird zwar aufmerksam die einzelnen Tages¬
ereignisse verfolgen, wird sich aber nicht von jedem plötzlichen Wind bald auf
die eine, bald auf die andere Seite werfen lassen. Es hat seinen Weg vor
sich und kennt seine Aufgabe: alles, was sich ereignet, einem bestimmten Zweck
nutzbar zu machen. Wenn sich wegen irgendeines Einzelzwecks einmal die
Mächte so oder so gruppieren, wird es nicht gleich über „finstere Wolken am
politischen Himmel" erschrecken, sondern gewiß sein, daß der Zwang der nicht
allzu plötzlich sich verändernden Kräfteverhältnisse und der politischen Haupt¬
strebungen, die durch die Lebenswerte der Völker ein für allemal gegeben sind,
stetig wirkt und im entscheidenden Augenblick die Grundform in dem Kaleidoskop
wieder zur Geltung bringen muß. Das Netz der englischen Einkreisungspolitik
mußte zerreißen, denn ihr Grundgedanke war aus Tagesfurcht und Tages¬
hoffnung geboren, sie entsprach dem Wellengekräusel, nicht dem Strom.

Die bestimmenden Kräfte sowie die erstrebenswerten und möglichen Ziele
unserer auswärtigen Politik anschaulich herauszuarbeiten, das kann nicht nur
— an Stelle einer dilettantischen Kritik der Tagesgeschichte —, sondern muß
eine Aufgabe der öffentlichen Meinung sein, denn nur dadurch entsteht ein
klarer politischer Gesamtwille, ohne den seit dein Ende des achtzehnten Jahr¬
hunderts auch der größte Staatsmann nicht mehr entscheidend Geschichte
machen kann.

Die Möglichkeiten, die unserer Politik gegeben sind, und damit auch ihre
möglichen Ziele, lassen sich nicht aus der Tagesgeschichte herauslesen, dazu bedarf
es grundsätzlicher Klärung der allgemeinen Fragen. Wir müssen wissen, sür
wen deutsche Auslandspolitik eigentlich gemacht wird; wir müssen uns vor¬
stellen, was Deutschland durch Niederwerfung anderer Mächte überhaupt ge¬
winnen könnte und was umgekehrt eine Niederwerfung Deutschlands für die
anderen Mächte bedeuten würde. Wer diese Fragen durchdacht hat, wird zu¬
gleich ein umgrenztes Bild von den Zwecken haben, die unsere Politik verfolgen
kann, er wird gegen manche Phantasiebilder, die hin und wieder die Öffentlichkeit
aufregen und gar erschrecken, kritischer werden. Sein Wille richtet sich auf be¬
stimmte mögliche Ziele, statt bald gegen diesen, bald gegen jenen Staat zornig
oder hoffnungsfroh zu schwanken.

Wenn wir nun versuchen, auf jene Fragen eine Antwort zu finden, so
tun wir das nicht mit dem Anspruch, für bestimmte politische Ziele zu werben,
vielmehr handelt es sich uns nur um die Klärung einiger grundsätzlicher Begriffe,
also um die Voraussetzungen einer bewußten Staatskunst, nicht um eine Be¬
urteilung des Inhalts unserer Politik. Mag der Staatsmann die hier er¬
örterten Begriffe gebrauchen oder verwerfen, wichtig ist, daß er das eine oder
andere mit klarer Einsicht tut.


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[0110] Prolegomena zu eitler deutschen Weltpolitik richtung dieser Politik beschäftigen. Daher denn auch die bekannte Zerfahrenheit in der Stellungnahme zu den einzelnen Vorgängen und manche überflüssige Nervosität, nicht nur an der Börse. Ein Volk, dessen Wille in einer bestimmten Hauptrichtung vorwärtstreibt, wird zwar aufmerksam die einzelnen Tages¬ ereignisse verfolgen, wird sich aber nicht von jedem plötzlichen Wind bald auf die eine, bald auf die andere Seite werfen lassen. Es hat seinen Weg vor sich und kennt seine Aufgabe: alles, was sich ereignet, einem bestimmten Zweck nutzbar zu machen. Wenn sich wegen irgendeines Einzelzwecks einmal die Mächte so oder so gruppieren, wird es nicht gleich über „finstere Wolken am politischen Himmel" erschrecken, sondern gewiß sein, daß der Zwang der nicht allzu plötzlich sich verändernden Kräfteverhältnisse und der politischen Haupt¬ strebungen, die durch die Lebenswerte der Völker ein für allemal gegeben sind, stetig wirkt und im entscheidenden Augenblick die Grundform in dem Kaleidoskop wieder zur Geltung bringen muß. Das Netz der englischen Einkreisungspolitik mußte zerreißen, denn ihr Grundgedanke war aus Tagesfurcht und Tages¬ hoffnung geboren, sie entsprach dem Wellengekräusel, nicht dem Strom. Die bestimmenden Kräfte sowie die erstrebenswerten und möglichen Ziele unserer auswärtigen Politik anschaulich herauszuarbeiten, das kann nicht nur — an Stelle einer dilettantischen Kritik der Tagesgeschichte —, sondern muß eine Aufgabe der öffentlichen Meinung sein, denn nur dadurch entsteht ein klarer politischer Gesamtwille, ohne den seit dein Ende des achtzehnten Jahr¬ hunderts auch der größte Staatsmann nicht mehr entscheidend Geschichte machen kann. Die Möglichkeiten, die unserer Politik gegeben sind, und damit auch ihre möglichen Ziele, lassen sich nicht aus der Tagesgeschichte herauslesen, dazu bedarf es grundsätzlicher Klärung der allgemeinen Fragen. Wir müssen wissen, sür wen deutsche Auslandspolitik eigentlich gemacht wird; wir müssen uns vor¬ stellen, was Deutschland durch Niederwerfung anderer Mächte überhaupt ge¬ winnen könnte und was umgekehrt eine Niederwerfung Deutschlands für die anderen Mächte bedeuten würde. Wer diese Fragen durchdacht hat, wird zu¬ gleich ein umgrenztes Bild von den Zwecken haben, die unsere Politik verfolgen kann, er wird gegen manche Phantasiebilder, die hin und wieder die Öffentlichkeit aufregen und gar erschrecken, kritischer werden. Sein Wille richtet sich auf be¬ stimmte mögliche Ziele, statt bald gegen diesen, bald gegen jenen Staat zornig oder hoffnungsfroh zu schwanken. Wenn wir nun versuchen, auf jene Fragen eine Antwort zu finden, so tun wir das nicht mit dem Anspruch, für bestimmte politische Ziele zu werben, vielmehr handelt es sich uns nur um die Klärung einiger grundsätzlicher Begriffe, also um die Voraussetzungen einer bewußten Staatskunst, nicht um eine Be¬ urteilung des Inhalts unserer Politik. Mag der Staatsmann die hier er¬ örterten Begriffe gebrauchen oder verwerfen, wichtig ist, daß er das eine oder andere mit klarer Einsicht tut.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/110>, abgerufen am 21.05.2024.