Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Unzurechnungsfähigkeit und Strafrecht

Teile" eine Umwertung im umgekehrten Sinne erfahren, daß nämlich der Staat
im wesentlichen nur Trüger der Interessen seiner Bürger sei, das Recht des
einzelnen demgemäß gegenüber dem Recht der Gesamtheit die weitestgehende
Berücksichtigung zu finden habe. Entsprechend dieser Umwertung hat auch die
Anschauung, die in der Strafe lediglich eine Vergeltung und ein Abschreckungs¬
mittel sah, anderen Auffassungen Platz gemacht, die sie zu einem Institut aus¬
schließlich zur Verhütung von Verbrechen machen möchten, indem sie entweder
dazu dienen soll, durch Inhaftierung des Verbrechers die Gesamtheit vor ihm
sowie ihn selbst vor Begehung neuer Verbrechen zu bewahren, oder durch Besse¬
rung ihn zu einem nützlichen Gliede der Gesellschaft zu machen.

Aus praktischen Gründen ist zwar das jetzt geltende Strafrecht dabei ge>
blieben, die Tat zum Maßstab der Strafe zu machen; und auch der Deutsche
Vorentwurf zu einem neuen Strafgesetzbuch hält daran fest. Daneben aber spielt
die Persönlichkeit des Täters eine bedeutsame Rolle nicht nur insofern, als ihm
fast in jedem Falle mildernde Umstände zugebilligt werden können; sondern
unter gewissen, in der Persönlichkeit des Täters gegebenen Bedingungen ist von
vornherein eine ganz andere Handhabung der Strafjustiz vorgesehen, so bei den
Jugendlichen. Und bei denjenigen Rechtsbrechern, für die der bekannte § 51
des Se. G.B. zutrifft, stellt das geltende Recht überhaupt das Vorhandensein
einer strafbaren Handlung in Abrede. Der Paragraph spricht von den Zuständen
der Bewußtlosigkeit und der krankhaften Störung der Geistestätigkeit, durch die
zur Zeit der Begehung der Handlung die freie Willensbestimmung aus¬
geschlossen war.

Mag es auch immer wieder betont werden, daß es dem freien richterlichen
Ermessen in diesem wie in jedem Falle anheimgestellt ist, nach Anhörung der
Sachverständigen selbständig das Recht zu finden, so wird es doch in praxi
kaum vorkommen, daß, namentlich wo Laienrichter in Frage kommen, ein von
ärztlicher Seite für unzurechnungsfähig erklärter Rechtsbrecher trotzdem verurteilt
wird. In Wahrheit ruht also ein wesentlicher Teil der Rechtsprechung in den
Händen des ärztlichen Sachverständigen, wie es z. B. Erich Wulffen in seiner
"Psychologie des Verbrechers", freilich ablehnend, anerkennt, wenn er sagt: "Es
wird für die Länge der Zeit nicht erträglich sein, daß fünf Juristen über einen
Verbrecher zu Gericht sitzen, und ein einziger Mediziner, keineswegs' eine
Autorität, den Beweis der Unzurechnungsfähigkeit zu führen unternimmt, ohne
daß die Richter in der Lage wären, diese Beweisführung, die doch einen ganz
wesentlichen Teil ihrer Rechtsfindung bilden müßte, nachzuprüfen." Es entspricht
diese Auffassung auch der des großen Publikums, welches bei ihm verfehlt er¬
scheinenden Freisprechungen nicht dem Gericht, sondern dem gutachtenden
Psychiater die Schuld beizumessen pflegt.

Wenn wir uns mit dieser Gutachtertätigkeit etwas näher befassen wollen,
so muß eines festgehalten werden: die Formulierung der psychiatrischen Gutachten
im Sinne des § 51 ist keine freiwillig übernommene Leistung, sondern wird vom


Unzurechnungsfähigkeit und Strafrecht

Teile" eine Umwertung im umgekehrten Sinne erfahren, daß nämlich der Staat
im wesentlichen nur Trüger der Interessen seiner Bürger sei, das Recht des
einzelnen demgemäß gegenüber dem Recht der Gesamtheit die weitestgehende
Berücksichtigung zu finden habe. Entsprechend dieser Umwertung hat auch die
Anschauung, die in der Strafe lediglich eine Vergeltung und ein Abschreckungs¬
mittel sah, anderen Auffassungen Platz gemacht, die sie zu einem Institut aus¬
schließlich zur Verhütung von Verbrechen machen möchten, indem sie entweder
dazu dienen soll, durch Inhaftierung des Verbrechers die Gesamtheit vor ihm
sowie ihn selbst vor Begehung neuer Verbrechen zu bewahren, oder durch Besse¬
rung ihn zu einem nützlichen Gliede der Gesellschaft zu machen.

Aus praktischen Gründen ist zwar das jetzt geltende Strafrecht dabei ge>
blieben, die Tat zum Maßstab der Strafe zu machen; und auch der Deutsche
Vorentwurf zu einem neuen Strafgesetzbuch hält daran fest. Daneben aber spielt
die Persönlichkeit des Täters eine bedeutsame Rolle nicht nur insofern, als ihm
fast in jedem Falle mildernde Umstände zugebilligt werden können; sondern
unter gewissen, in der Persönlichkeit des Täters gegebenen Bedingungen ist von
vornherein eine ganz andere Handhabung der Strafjustiz vorgesehen, so bei den
Jugendlichen. Und bei denjenigen Rechtsbrechern, für die der bekannte § 51
des Se. G.B. zutrifft, stellt das geltende Recht überhaupt das Vorhandensein
einer strafbaren Handlung in Abrede. Der Paragraph spricht von den Zuständen
der Bewußtlosigkeit und der krankhaften Störung der Geistestätigkeit, durch die
zur Zeit der Begehung der Handlung die freie Willensbestimmung aus¬
geschlossen war.

Mag es auch immer wieder betont werden, daß es dem freien richterlichen
Ermessen in diesem wie in jedem Falle anheimgestellt ist, nach Anhörung der
Sachverständigen selbständig das Recht zu finden, so wird es doch in praxi
kaum vorkommen, daß, namentlich wo Laienrichter in Frage kommen, ein von
ärztlicher Seite für unzurechnungsfähig erklärter Rechtsbrecher trotzdem verurteilt
wird. In Wahrheit ruht also ein wesentlicher Teil der Rechtsprechung in den
Händen des ärztlichen Sachverständigen, wie es z. B. Erich Wulffen in seiner
„Psychologie des Verbrechers", freilich ablehnend, anerkennt, wenn er sagt: „Es
wird für die Länge der Zeit nicht erträglich sein, daß fünf Juristen über einen
Verbrecher zu Gericht sitzen, und ein einziger Mediziner, keineswegs' eine
Autorität, den Beweis der Unzurechnungsfähigkeit zu führen unternimmt, ohne
daß die Richter in der Lage wären, diese Beweisführung, die doch einen ganz
wesentlichen Teil ihrer Rechtsfindung bilden müßte, nachzuprüfen." Es entspricht
diese Auffassung auch der des großen Publikums, welches bei ihm verfehlt er¬
scheinenden Freisprechungen nicht dem Gericht, sondern dem gutachtenden
Psychiater die Schuld beizumessen pflegt.

Wenn wir uns mit dieser Gutachtertätigkeit etwas näher befassen wollen,
so muß eines festgehalten werden: die Formulierung der psychiatrischen Gutachten
im Sinne des § 51 ist keine freiwillig übernommene Leistung, sondern wird vom


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0131" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/328231"/>
          <fw type="header" place="top"> Unzurechnungsfähigkeit und Strafrecht</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_552" prev="#ID_551"> Teile" eine Umwertung im umgekehrten Sinne erfahren, daß nämlich der Staat<lb/>
im wesentlichen nur Trüger der Interessen seiner Bürger sei, das Recht des<lb/>
einzelnen demgemäß gegenüber dem Recht der Gesamtheit die weitestgehende<lb/>
Berücksichtigung zu finden habe. Entsprechend dieser Umwertung hat auch die<lb/>
Anschauung, die in der Strafe lediglich eine Vergeltung und ein Abschreckungs¬<lb/>
mittel sah, anderen Auffassungen Platz gemacht, die sie zu einem Institut aus¬<lb/>
schließlich zur Verhütung von Verbrechen machen möchten, indem sie entweder<lb/>
dazu dienen soll, durch Inhaftierung des Verbrechers die Gesamtheit vor ihm<lb/>
sowie ihn selbst vor Begehung neuer Verbrechen zu bewahren, oder durch Besse¬<lb/>
rung ihn zu einem nützlichen Gliede der Gesellschaft zu machen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_553"> Aus praktischen Gründen ist zwar das jetzt geltende Strafrecht dabei ge&gt;<lb/>
blieben, die Tat zum Maßstab der Strafe zu machen; und auch der Deutsche<lb/>
Vorentwurf zu einem neuen Strafgesetzbuch hält daran fest. Daneben aber spielt<lb/>
die Persönlichkeit des Täters eine bedeutsame Rolle nicht nur insofern, als ihm<lb/>
fast in jedem Falle mildernde Umstände zugebilligt werden können; sondern<lb/>
unter gewissen, in der Persönlichkeit des Täters gegebenen Bedingungen ist von<lb/>
vornherein eine ganz andere Handhabung der Strafjustiz vorgesehen, so bei den<lb/>
Jugendlichen. Und bei denjenigen Rechtsbrechern, für die der bekannte § 51<lb/>
des Se. G.B. zutrifft, stellt das geltende Recht überhaupt das Vorhandensein<lb/>
einer strafbaren Handlung in Abrede. Der Paragraph spricht von den Zuständen<lb/>
der Bewußtlosigkeit und der krankhaften Störung der Geistestätigkeit, durch die<lb/>
zur Zeit der Begehung der Handlung die freie Willensbestimmung aus¬<lb/>
geschlossen war.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_554"> Mag es auch immer wieder betont werden, daß es dem freien richterlichen<lb/>
Ermessen in diesem wie in jedem Falle anheimgestellt ist, nach Anhörung der<lb/>
Sachverständigen selbständig das Recht zu finden, so wird es doch in praxi<lb/>
kaum vorkommen, daß, namentlich wo Laienrichter in Frage kommen, ein von<lb/>
ärztlicher Seite für unzurechnungsfähig erklärter Rechtsbrecher trotzdem verurteilt<lb/>
wird. In Wahrheit ruht also ein wesentlicher Teil der Rechtsprechung in den<lb/>
Händen des ärztlichen Sachverständigen, wie es z. B. Erich Wulffen in seiner<lb/>
&#x201E;Psychologie des Verbrechers", freilich ablehnend, anerkennt, wenn er sagt: &#x201E;Es<lb/>
wird für die Länge der Zeit nicht erträglich sein, daß fünf Juristen über einen<lb/>
Verbrecher zu Gericht sitzen, und ein einziger Mediziner, keineswegs' eine<lb/>
Autorität, den Beweis der Unzurechnungsfähigkeit zu führen unternimmt, ohne<lb/>
daß die Richter in der Lage wären, diese Beweisführung, die doch einen ganz<lb/>
wesentlichen Teil ihrer Rechtsfindung bilden müßte, nachzuprüfen." Es entspricht<lb/>
diese Auffassung auch der des großen Publikums, welches bei ihm verfehlt er¬<lb/>
scheinenden Freisprechungen nicht dem Gericht, sondern dem gutachtenden<lb/>
Psychiater die Schuld beizumessen pflegt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_555" next="#ID_556"> Wenn wir uns mit dieser Gutachtertätigkeit etwas näher befassen wollen,<lb/>
so muß eines festgehalten werden: die Formulierung der psychiatrischen Gutachten<lb/>
im Sinne des § 51 ist keine freiwillig übernommene Leistung, sondern wird vom</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0131] Unzurechnungsfähigkeit und Strafrecht Teile" eine Umwertung im umgekehrten Sinne erfahren, daß nämlich der Staat im wesentlichen nur Trüger der Interessen seiner Bürger sei, das Recht des einzelnen demgemäß gegenüber dem Recht der Gesamtheit die weitestgehende Berücksichtigung zu finden habe. Entsprechend dieser Umwertung hat auch die Anschauung, die in der Strafe lediglich eine Vergeltung und ein Abschreckungs¬ mittel sah, anderen Auffassungen Platz gemacht, die sie zu einem Institut aus¬ schließlich zur Verhütung von Verbrechen machen möchten, indem sie entweder dazu dienen soll, durch Inhaftierung des Verbrechers die Gesamtheit vor ihm sowie ihn selbst vor Begehung neuer Verbrechen zu bewahren, oder durch Besse¬ rung ihn zu einem nützlichen Gliede der Gesellschaft zu machen. Aus praktischen Gründen ist zwar das jetzt geltende Strafrecht dabei ge> blieben, die Tat zum Maßstab der Strafe zu machen; und auch der Deutsche Vorentwurf zu einem neuen Strafgesetzbuch hält daran fest. Daneben aber spielt die Persönlichkeit des Täters eine bedeutsame Rolle nicht nur insofern, als ihm fast in jedem Falle mildernde Umstände zugebilligt werden können; sondern unter gewissen, in der Persönlichkeit des Täters gegebenen Bedingungen ist von vornherein eine ganz andere Handhabung der Strafjustiz vorgesehen, so bei den Jugendlichen. Und bei denjenigen Rechtsbrechern, für die der bekannte § 51 des Se. G.B. zutrifft, stellt das geltende Recht überhaupt das Vorhandensein einer strafbaren Handlung in Abrede. Der Paragraph spricht von den Zuständen der Bewußtlosigkeit und der krankhaften Störung der Geistestätigkeit, durch die zur Zeit der Begehung der Handlung die freie Willensbestimmung aus¬ geschlossen war. Mag es auch immer wieder betont werden, daß es dem freien richterlichen Ermessen in diesem wie in jedem Falle anheimgestellt ist, nach Anhörung der Sachverständigen selbständig das Recht zu finden, so wird es doch in praxi kaum vorkommen, daß, namentlich wo Laienrichter in Frage kommen, ein von ärztlicher Seite für unzurechnungsfähig erklärter Rechtsbrecher trotzdem verurteilt wird. In Wahrheit ruht also ein wesentlicher Teil der Rechtsprechung in den Händen des ärztlichen Sachverständigen, wie es z. B. Erich Wulffen in seiner „Psychologie des Verbrechers", freilich ablehnend, anerkennt, wenn er sagt: „Es wird für die Länge der Zeit nicht erträglich sein, daß fünf Juristen über einen Verbrecher zu Gericht sitzen, und ein einziger Mediziner, keineswegs' eine Autorität, den Beweis der Unzurechnungsfähigkeit zu führen unternimmt, ohne daß die Richter in der Lage wären, diese Beweisführung, die doch einen ganz wesentlichen Teil ihrer Rechtsfindung bilden müßte, nachzuprüfen." Es entspricht diese Auffassung auch der des großen Publikums, welches bei ihm verfehlt er¬ scheinenden Freisprechungen nicht dem Gericht, sondern dem gutachtenden Psychiater die Schuld beizumessen pflegt. Wenn wir uns mit dieser Gutachtertätigkeit etwas näher befassen wollen, so muß eines festgehalten werden: die Formulierung der psychiatrischen Gutachten im Sinne des § 51 ist keine freiwillig übernommene Leistung, sondern wird vom

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/131
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/131>, abgerufen am 16.06.2024.