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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Unzurechnungsfähigkeit und Strafrecht

wie eine willenlose Masse, nicht einmal von Handlungen gesprochen werden kann,
geschweige denn von strafbaren. Diesen Zustand kann also der Gesetzgeber gar
nicht gemeint haben. Es wäre daher zweckmäßiger, wie es der österreichische
Vorentwurf tut, von Bewußtseinsstörung zu reden, einer Kategorie, unter die
jeder die im deutschen Vorentwurf als Beispiel angeführte hypnotische Suggestion
und sinnlose Trunkenheit vorbehaltlos einreihen kann, was bei dem Aus¬
druck Bewußtlosigkeit schwer sällt. Handelt es sich doch z. B. bei der sinnlosen
Trunkenheit nicht um den sogenannten "Collo-Zusto.no", sondern um die voran¬
gehenden Stadien Manie-artiger Erregtheit und eventuell noch des "heulenden
Elends", die sich, wenn als krankhaft aufzufassen, durch das Fehlen jeglicher
Erinnerung auszeichnen.

Noch größer wird die Schwierigkeit, wenn man, wie gebräuchlich, auch den
epileptischen Dämmerzustand zur Bewußtlosigkeit rechnet, einen Zustand, in dem
der Betroffene unter Umständen große Reisen und komplizierte Handlungen aus¬
führen kann, ohne seinen Mitmenschen als gestört auszufallen. Man kaun
freilich diese Zustände auch zu den "krankhaften Störungen der Geistestätigkeit"
rechnen und sie mit diesen in den großen Topf tun, in dem der Sachverständige
nicht viel anderes als Schwierigkeiten zu finden erwartet.

Wie von der Bewußtlosigkeit, so verlangt der § 51 auch von der krank¬
haften Störung der Geistestätigkeit, daß sie einen Grad erreicht habe, der
die freie Willensbestimmung ausschließt. Sie kann gemäß der vorhin vor¬
genommenen Zweiteilung dieses Begriffs entweder die Fähigkeit des Vorstellungen¬
habens oder die des danach Handelns oder beide in nachteiliger Weise be¬
einflussen.

Was das Vorhandensein von Vorstellungen anlangt, so deuten die im ge¬
wöhnlichen Sprachgebrauch mit dem Worte Geisteskrankheit synonym angewandten
Ausdrücke: Wahnsinn, Irrsinn, auf ein Symptom hin, welches für die meisten
Geisteskrankheiten charakteristisch ist; das ist das Bestehen von Wahnideen und
Sinnestäuschungen, von denen erstere vielfach auf letztere zurückzuführen sind.

Bezüglich dieser, auch Halluzinationen genannten Erscheinungen müssen wir
uns kurz vergegenwärtigen, daß eine jede sinnliche Wahrnehmung, um unser
geistiger Besitz zu werden, drei Stufen durchlaufen muß. Z. B.: unser Ohr
vernimmt eine Reihenfolge von Tönen und Geräuschen; die zweite Stufe, die
sogenannte primäre Identifikation, erkennt darin ein bestimmtes Wort; und auf
der dritten Stufe wird durch sekundäre Identifikation mit dem Worte ein be¬
stimmter Begriff verbunden. Wie uns die Hirnforschung gelehrt hat, ist dieser
Weg in den Nervenbahnen anatomisch vorgezeichnet, die vom Ohrlabyrinth durch
den achten Gehirnnerven zur ersten Schläfenwindung führen, dem Sitze des
Wortgedächtnisses und von da weiter zu der Masse der Assoziationsfasern, in
denen wir das kurz sogenannte Begriffszentrum suchen. Um ein Bild zu ge-
brauchen: der Vorgang gleicht der Ankunft eines chiffrierten Telegrammes; das
Ohr ist der klappernde Empfangsapparat, die Hörsinnessphäre ist der Beamte,


Unzurechnungsfähigkeit und Strafrecht

wie eine willenlose Masse, nicht einmal von Handlungen gesprochen werden kann,
geschweige denn von strafbaren. Diesen Zustand kann also der Gesetzgeber gar
nicht gemeint haben. Es wäre daher zweckmäßiger, wie es der österreichische
Vorentwurf tut, von Bewußtseinsstörung zu reden, einer Kategorie, unter die
jeder die im deutschen Vorentwurf als Beispiel angeführte hypnotische Suggestion
und sinnlose Trunkenheit vorbehaltlos einreihen kann, was bei dem Aus¬
druck Bewußtlosigkeit schwer sällt. Handelt es sich doch z. B. bei der sinnlosen
Trunkenheit nicht um den sogenannten „Collo-Zusto.no", sondern um die voran¬
gehenden Stadien Manie-artiger Erregtheit und eventuell noch des „heulenden
Elends", die sich, wenn als krankhaft aufzufassen, durch das Fehlen jeglicher
Erinnerung auszeichnen.

Noch größer wird die Schwierigkeit, wenn man, wie gebräuchlich, auch den
epileptischen Dämmerzustand zur Bewußtlosigkeit rechnet, einen Zustand, in dem
der Betroffene unter Umständen große Reisen und komplizierte Handlungen aus¬
führen kann, ohne seinen Mitmenschen als gestört auszufallen. Man kaun
freilich diese Zustände auch zu den „krankhaften Störungen der Geistestätigkeit"
rechnen und sie mit diesen in den großen Topf tun, in dem der Sachverständige
nicht viel anderes als Schwierigkeiten zu finden erwartet.

Wie von der Bewußtlosigkeit, so verlangt der § 51 auch von der krank¬
haften Störung der Geistestätigkeit, daß sie einen Grad erreicht habe, der
die freie Willensbestimmung ausschließt. Sie kann gemäß der vorhin vor¬
genommenen Zweiteilung dieses Begriffs entweder die Fähigkeit des Vorstellungen¬
habens oder die des danach Handelns oder beide in nachteiliger Weise be¬
einflussen.

Was das Vorhandensein von Vorstellungen anlangt, so deuten die im ge¬
wöhnlichen Sprachgebrauch mit dem Worte Geisteskrankheit synonym angewandten
Ausdrücke: Wahnsinn, Irrsinn, auf ein Symptom hin, welches für die meisten
Geisteskrankheiten charakteristisch ist; das ist das Bestehen von Wahnideen und
Sinnestäuschungen, von denen erstere vielfach auf letztere zurückzuführen sind.

Bezüglich dieser, auch Halluzinationen genannten Erscheinungen müssen wir
uns kurz vergegenwärtigen, daß eine jede sinnliche Wahrnehmung, um unser
geistiger Besitz zu werden, drei Stufen durchlaufen muß. Z. B.: unser Ohr
vernimmt eine Reihenfolge von Tönen und Geräuschen; die zweite Stufe, die
sogenannte primäre Identifikation, erkennt darin ein bestimmtes Wort; und auf
der dritten Stufe wird durch sekundäre Identifikation mit dem Worte ein be¬
stimmter Begriff verbunden. Wie uns die Hirnforschung gelehrt hat, ist dieser
Weg in den Nervenbahnen anatomisch vorgezeichnet, die vom Ohrlabyrinth durch
den achten Gehirnnerven zur ersten Schläfenwindung führen, dem Sitze des
Wortgedächtnisses und von da weiter zu der Masse der Assoziationsfasern, in
denen wir das kurz sogenannte Begriffszentrum suchen. Um ein Bild zu ge-
brauchen: der Vorgang gleicht der Ankunft eines chiffrierten Telegrammes; das
Ohr ist der klappernde Empfangsapparat, die Hörsinnessphäre ist der Beamte,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/133>, abgerufen am 15.06.2024.