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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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glichen werden mit der jener evangelischen Geistlichen im russischen Anteil Polens,
die sich um den Pastor Bursze zu Warschau scharen. Sie stehen vor der Alter¬
native, entweder jeden Einfluß auf die Gemeinde zu verlieren und (in Polen)
die einzelnen Gemeindemitglieder der katholischen Propaganda auszuliefern oder
aber den Kampf um die deutsche Sprache und Kultur zugunsten der dänischen
und polnischen aufzugeben. Für den Pastor und Seelenhirten, dessen Lehren in
das Jenseit weisen, muß logischerweise die Frage der Nationalität gegenüber
der Kirche zurücktreten. Der Pastor und die Kirche muß mit der Mehrheit
gehen, muß die örtlichen Verhältnisse, wie sie sich auch gestalten mögen, als
gegeben hinnehmen und somit auch auf den Kampf um die Nationalität ver¬
zichten, wo sie nicht mit der herrschenden Nationalität geht. Die Lage der
evangelischen Geistlichkeit ist da nicht anders als die der katholischen: erst die
Kirche, der Friede in der Gemeinde, dann die Parteinahme für eine Nationalität!
Ich glaube nicht, daß Zwangsmaßregeln die Stellung der Geistlichkeit, nament¬
lich wenn sie sich aus der ortsangesesssnen Bevölkerung ergänzt, praktisch etwas
bessern könnten.

Es fragt sich, was daran schuld ist, wenn ein guter Teil der nordschles-
wigschen Geistlichkeit glaubt, im Interesse der Kirche für die Dünen Partei
ergreifen zu müssen. Nach den Darstellungen von Landeskundigen ist es die
wirtschaftliche Macht des dänischen Elements, von der auch die Kirchengemeinde
abhängig ist. Erinnert man sich der Entwicklung des Genossenschaftswesens, so
läßt sich auch in diesem Punkte eine Analogie mit den Verhältnissen in unserer
Ostmark feststellen, aber das erklärt noch lange nicht, wie es möglich geworden
ist, daß die Dänen Nordschleswigs wirtschaftlich nach Dänemark gezogen werden,
nicht aber zu den großen deutschen Handels- und Verkehrszentreu südlich. Die
polnische Finanz ist doch, so sehr sie sich dagegen gesträubt hat, auf Berlin an¬
gewiesen und von Berlin und damit von Preußen abhängig geworden! Wie
konnte Nordschleswig in solche wirtschaftliche Abhängigkeit von Dänemark geraten?
Das ist die Frage, die gelöst werden muß. ehe man von Hochverrat und
nationaler Würdelostgkeit spricht. Gute und billige Verbindung zu den deutschen
Absatzmärkten für nordmärkische Erzeugnisse, die, wie Herzog Ernst Günther
ausführte, dem Hamburger und Lübischen Kaufmann es vorteilhaft machen,
noch Norden vorzudringen und den Nordmärker an den großen deutschen Markt
zu ketten, würden vieles bessern. Wir könnten in dieser Hinsicht sehr wohl
von den Russen lernen. Man betrachte einmal die Eisenbahnkarte an unserer
Ostgrenze, so wird man finden, daß trotz großer Bevölkerungsdichte diesseits
und jenseits auf der langen Strecke von Memel bis zur Dreikaiser-Ecke in
Oberschlesien nur sieben Eisenbahnübergänge von Rußland nach Deutschland
vorhanden sind, während das deutsche Bahnuetz an doppelt soviel Punkten die
russische Grenze berührt; verschiedene russische Eisenbahnlinien reichen gleichfalls
bis auf wenige Kilometer an die deutsche Grenze heran. Aber die Verbindung
mit dem Auslande wird nicht hergestellt, weil Rußland, abgesehen von Er-


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glichen werden mit der jener evangelischen Geistlichen im russischen Anteil Polens,
die sich um den Pastor Bursze zu Warschau scharen. Sie stehen vor der Alter¬
native, entweder jeden Einfluß auf die Gemeinde zu verlieren und (in Polen)
die einzelnen Gemeindemitglieder der katholischen Propaganda auszuliefern oder
aber den Kampf um die deutsche Sprache und Kultur zugunsten der dänischen
und polnischen aufzugeben. Für den Pastor und Seelenhirten, dessen Lehren in
das Jenseit weisen, muß logischerweise die Frage der Nationalität gegenüber
der Kirche zurücktreten. Der Pastor und die Kirche muß mit der Mehrheit
gehen, muß die örtlichen Verhältnisse, wie sie sich auch gestalten mögen, als
gegeben hinnehmen und somit auch auf den Kampf um die Nationalität ver¬
zichten, wo sie nicht mit der herrschenden Nationalität geht. Die Lage der
evangelischen Geistlichkeit ist da nicht anders als die der katholischen: erst die
Kirche, der Friede in der Gemeinde, dann die Parteinahme für eine Nationalität!
Ich glaube nicht, daß Zwangsmaßregeln die Stellung der Geistlichkeit, nament¬
lich wenn sie sich aus der ortsangesesssnen Bevölkerung ergänzt, praktisch etwas
bessern könnten.

Es fragt sich, was daran schuld ist, wenn ein guter Teil der nordschles-
wigschen Geistlichkeit glaubt, im Interesse der Kirche für die Dünen Partei
ergreifen zu müssen. Nach den Darstellungen von Landeskundigen ist es die
wirtschaftliche Macht des dänischen Elements, von der auch die Kirchengemeinde
abhängig ist. Erinnert man sich der Entwicklung des Genossenschaftswesens, so
läßt sich auch in diesem Punkte eine Analogie mit den Verhältnissen in unserer
Ostmark feststellen, aber das erklärt noch lange nicht, wie es möglich geworden
ist, daß die Dänen Nordschleswigs wirtschaftlich nach Dänemark gezogen werden,
nicht aber zu den großen deutschen Handels- und Verkehrszentreu südlich. Die
polnische Finanz ist doch, so sehr sie sich dagegen gesträubt hat, auf Berlin an¬
gewiesen und von Berlin und damit von Preußen abhängig geworden! Wie
konnte Nordschleswig in solche wirtschaftliche Abhängigkeit von Dänemark geraten?
Das ist die Frage, die gelöst werden muß. ehe man von Hochverrat und
nationaler Würdelostgkeit spricht. Gute und billige Verbindung zu den deutschen
Absatzmärkten für nordmärkische Erzeugnisse, die, wie Herzog Ernst Günther
ausführte, dem Hamburger und Lübischen Kaufmann es vorteilhaft machen,
noch Norden vorzudringen und den Nordmärker an den großen deutschen Markt
zu ketten, würden vieles bessern. Wir könnten in dieser Hinsicht sehr wohl
von den Russen lernen. Man betrachte einmal die Eisenbahnkarte an unserer
Ostgrenze, so wird man finden, daß trotz großer Bevölkerungsdichte diesseits
und jenseits auf der langen Strecke von Memel bis zur Dreikaiser-Ecke in
Oberschlesien nur sieben Eisenbahnübergänge von Rußland nach Deutschland
vorhanden sind, während das deutsche Bahnuetz an doppelt soviel Punkten die
russische Grenze berührt; verschiedene russische Eisenbahnlinien reichen gleichfalls
bis auf wenige Kilometer an die deutsche Grenze heran. Aber die Verbindung
mit dem Auslande wird nicht hergestellt, weil Rußland, abgesehen von Er-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/440>, abgerufen am 21.05.2024.