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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Russische Briefe

Ziehungen vor den beiderseitigen Parlamenten dargelegt und zwei russische
Gelehrte, Maxim Maximowitsch Kowalervski, ein gewiegter und geachteter
Politiker von Einfluß. Mitglied des Reichsrates und Herausgeber des welt¬
bekannten Europäischen Boten, sowie P. Mitrofanow, der, obwohl Urrusse und
Deutschenfresser, nichts dabei findet, sich das deutsche Adelsprädikat beizulegen
und sich Paul von Mitrofanow zu nennen, haben, jener in einem wohl¬
erwogenen Artikel der Frankfurter Zeitung, dieser in einem gefühlvollen Briefe an
den Herausgeber der Preußischen Jahrbücher, dessen Veröffentlichung Herr Delbrück
dem deutschen Volke ruhig ersparen konnte, meine Ausführungen bestätigt, daß
nämlich auch im russischen Volke "zwei Seelen, ach" miteinander um die Oberhand
ringen. So wäre also, sollte man meinen, das Thema der deutsch-russischen
Beziehungen wieder für einige Zeit erschöpft! Durchaus nicht: die meinen
Lesern im ersten "Russischen Briese" versprochene Analyse der russischen
Stimmungen ist noch nicht zu Ende geführt. Noch muß manches gesagt werden.




1896 war ich zum ersten Male an der Newa. Derselbe Kutscher, der mich
damals gefahren hatte, weil er schon seit geraumer Zeit meines Vaters Leib-
Lichatsch war, hatte mich jetzt wieder zum Bahnhof gebracht! Seit mehr als
fünfundzwanzig Jahren "steht" er vor dem von einem Deutschen trefflich ge¬
leiteten Hotel Angleterre und von diesem Platz haben ihn weder die Jndustri-
alisierungsära Wildes, noch die zahlreichen politischen Morde, noch der un¬
glückliche Krieg von 1904/6, noch Revolution und Oktobermanifest und Volks¬
vertretung verdrängt. --

1900, also vor vierzehn Jahren, lernte ich den Waggonschaffner kennen,
der mich jetzt wieder an die Grenze begleitete. Ja, das russische Leben ist
auch da noch ungeheuer konservativ, wo es in so nahe Fühlung mit dem
Westen getreten ist wie in Se. Petersburg und auf der Warschauer Bahn! Mein
Kutscher ist ein echter Russe aus dem Gouvernement Twer, der Schaffner ein
katholischer Leite. Beide sind wohl mit der Zeit älter geworden, aber der Russe trägt
keine Anschauungen vor, die er nicht schon 1896 aus einer Spazierfahrt nach den
Inseln, zur Pointe, wo die vornehme Welt sich während der weißen Nächte trifft,
geäußert hätte. Heute ist sein starker Bart und Haarschopf fast weiß und er
schläft auf dem Bock schon so fest, daß der Gast, der mit ihm fahren will, an
seinem Leibgurt aus dunkelblauem Sammet rütteln muß. Er ist über sechzig!
Doch als ich ihn nach sechsjähriger Zwischenzeit jetzt wieder anspreche, begrüßt
er mich ohne Besinnen mit dem familiären "88 pnjesävm, OeorZi NarKsI-
Io>vit8Lu!" (Zur glücklichen Einkehr George Marzells Sohn!) Und als ich bei
einem Besuch weder Hausnummer noch Straße, sondern nur den Stadtteil
anzugeben weiß und ein gelbes Einfamilienhaus, unweit des Großen Prospekt,
sagt er gelassen: "8naju" und bringt mich vor die gewollte Tür. Diese Gedächtnis-


Russische Briefe

Ziehungen vor den beiderseitigen Parlamenten dargelegt und zwei russische
Gelehrte, Maxim Maximowitsch Kowalervski, ein gewiegter und geachteter
Politiker von Einfluß. Mitglied des Reichsrates und Herausgeber des welt¬
bekannten Europäischen Boten, sowie P. Mitrofanow, der, obwohl Urrusse und
Deutschenfresser, nichts dabei findet, sich das deutsche Adelsprädikat beizulegen
und sich Paul von Mitrofanow zu nennen, haben, jener in einem wohl¬
erwogenen Artikel der Frankfurter Zeitung, dieser in einem gefühlvollen Briefe an
den Herausgeber der Preußischen Jahrbücher, dessen Veröffentlichung Herr Delbrück
dem deutschen Volke ruhig ersparen konnte, meine Ausführungen bestätigt, daß
nämlich auch im russischen Volke „zwei Seelen, ach" miteinander um die Oberhand
ringen. So wäre also, sollte man meinen, das Thema der deutsch-russischen
Beziehungen wieder für einige Zeit erschöpft! Durchaus nicht: die meinen
Lesern im ersten „Russischen Briese" versprochene Analyse der russischen
Stimmungen ist noch nicht zu Ende geführt. Noch muß manches gesagt werden.




1896 war ich zum ersten Male an der Newa. Derselbe Kutscher, der mich
damals gefahren hatte, weil er schon seit geraumer Zeit meines Vaters Leib-
Lichatsch war, hatte mich jetzt wieder zum Bahnhof gebracht! Seit mehr als
fünfundzwanzig Jahren „steht" er vor dem von einem Deutschen trefflich ge¬
leiteten Hotel Angleterre und von diesem Platz haben ihn weder die Jndustri-
alisierungsära Wildes, noch die zahlreichen politischen Morde, noch der un¬
glückliche Krieg von 1904/6, noch Revolution und Oktobermanifest und Volks¬
vertretung verdrängt. —

1900, also vor vierzehn Jahren, lernte ich den Waggonschaffner kennen,
der mich jetzt wieder an die Grenze begleitete. Ja, das russische Leben ist
auch da noch ungeheuer konservativ, wo es in so nahe Fühlung mit dem
Westen getreten ist wie in Se. Petersburg und auf der Warschauer Bahn! Mein
Kutscher ist ein echter Russe aus dem Gouvernement Twer, der Schaffner ein
katholischer Leite. Beide sind wohl mit der Zeit älter geworden, aber der Russe trägt
keine Anschauungen vor, die er nicht schon 1896 aus einer Spazierfahrt nach den
Inseln, zur Pointe, wo die vornehme Welt sich während der weißen Nächte trifft,
geäußert hätte. Heute ist sein starker Bart und Haarschopf fast weiß und er
schläft auf dem Bock schon so fest, daß der Gast, der mit ihm fahren will, an
seinem Leibgurt aus dunkelblauem Sammet rütteln muß. Er ist über sechzig!
Doch als ich ihn nach sechsjähriger Zwischenzeit jetzt wieder anspreche, begrüßt
er mich ohne Besinnen mit dem familiären „88 pnjesävm, OeorZi NarKsI-
Io>vit8Lu!" (Zur glücklichen Einkehr George Marzells Sohn!) Und als ich bei
einem Besuch weder Hausnummer noch Straße, sondern nur den Stadtteil
anzugeben weiß und ein gelbes Einfamilienhaus, unweit des Großen Prospekt,
sagt er gelassen: „8naju" und bringt mich vor die gewollte Tür. Diese Gedächtnis-


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[0482] Russische Briefe Ziehungen vor den beiderseitigen Parlamenten dargelegt und zwei russische Gelehrte, Maxim Maximowitsch Kowalervski, ein gewiegter und geachteter Politiker von Einfluß. Mitglied des Reichsrates und Herausgeber des welt¬ bekannten Europäischen Boten, sowie P. Mitrofanow, der, obwohl Urrusse und Deutschenfresser, nichts dabei findet, sich das deutsche Adelsprädikat beizulegen und sich Paul von Mitrofanow zu nennen, haben, jener in einem wohl¬ erwogenen Artikel der Frankfurter Zeitung, dieser in einem gefühlvollen Briefe an den Herausgeber der Preußischen Jahrbücher, dessen Veröffentlichung Herr Delbrück dem deutschen Volke ruhig ersparen konnte, meine Ausführungen bestätigt, daß nämlich auch im russischen Volke „zwei Seelen, ach" miteinander um die Oberhand ringen. So wäre also, sollte man meinen, das Thema der deutsch-russischen Beziehungen wieder für einige Zeit erschöpft! Durchaus nicht: die meinen Lesern im ersten „Russischen Briese" versprochene Analyse der russischen Stimmungen ist noch nicht zu Ende geführt. Noch muß manches gesagt werden. 1896 war ich zum ersten Male an der Newa. Derselbe Kutscher, der mich damals gefahren hatte, weil er schon seit geraumer Zeit meines Vaters Leib- Lichatsch war, hatte mich jetzt wieder zum Bahnhof gebracht! Seit mehr als fünfundzwanzig Jahren „steht" er vor dem von einem Deutschen trefflich ge¬ leiteten Hotel Angleterre und von diesem Platz haben ihn weder die Jndustri- alisierungsära Wildes, noch die zahlreichen politischen Morde, noch der un¬ glückliche Krieg von 1904/6, noch Revolution und Oktobermanifest und Volks¬ vertretung verdrängt. — 1900, also vor vierzehn Jahren, lernte ich den Waggonschaffner kennen, der mich jetzt wieder an die Grenze begleitete. Ja, das russische Leben ist auch da noch ungeheuer konservativ, wo es in so nahe Fühlung mit dem Westen getreten ist wie in Se. Petersburg und auf der Warschauer Bahn! Mein Kutscher ist ein echter Russe aus dem Gouvernement Twer, der Schaffner ein katholischer Leite. Beide sind wohl mit der Zeit älter geworden, aber der Russe trägt keine Anschauungen vor, die er nicht schon 1896 aus einer Spazierfahrt nach den Inseln, zur Pointe, wo die vornehme Welt sich während der weißen Nächte trifft, geäußert hätte. Heute ist sein starker Bart und Haarschopf fast weiß und er schläft auf dem Bock schon so fest, daß der Gast, der mit ihm fahren will, an seinem Leibgurt aus dunkelblauem Sammet rütteln muß. Er ist über sechzig! Doch als ich ihn nach sechsjähriger Zwischenzeit jetzt wieder anspreche, begrüßt er mich ohne Besinnen mit dem familiären „88 pnjesävm, OeorZi NarKsI- Io>vit8Lu!" (Zur glücklichen Einkehr George Marzells Sohn!) Und als ich bei einem Besuch weder Hausnummer noch Straße, sondern nur den Stadtteil anzugeben weiß und ein gelbes Einfamilienhaus, unweit des Großen Prospekt, sagt er gelassen: „8naju" und bringt mich vor die gewollte Tür. Diese Gedächtnis-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/482>, abgerufen am 15.06.2024.