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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Ehre und des Familienlebens fast vogelfrei.
Entgegen dein germanischen und deutschen
Volksrechte gilt heute in Deutschland der
volksfremde Satz des Juristenrechtes, daß die
Ehre keinen Rechtsschutz durch das bürger¬
liche Recht genießt. Nur zu oft hat das
Reichsgericht in enger Auslegung des Bürger¬
lichen Gesetzbuches entschieden, daß in der be¬
kannten Aufzählung der gegen unerlaubte
Handlungen geschützte" Rechtsgüter "Leben,
Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum oder
ein sonstiges Recht" die Ehre nicht einbegriffen
sei, daß insbesondere der Ehegatte gegen den
Ehebrecher keine Rechte habe, ja nicht einmal
den Anspruch auf Unterlassung des Einbruches
in sein Familienleben I (R. G, Entsch. v>
29. Mai 1902, 2. Januar 190S, 26. Januar
1909, 22. April 1909 u. 26. April 1909.)

Solange das gellende deutsche Recht und
die Rechtsprechung das hohe Lebensgut der
Ehre derartig ignoriert, solange es nicht grund¬
sätzlich ebenso wie Leben, Körper, Gesundheit
und die anderen rechtlich geschützten Lebens¬
interessen eines jeden auch die Ehre als ein
Rechtsgut anerkennt, und demgemäß Straf-
und Zivilrechtsschutznormen aufstellt, die in
öffentlicher und privater Hinsicht Präventiv
und repressiv der Allgemeinheit und dem Ver¬
letzten Genugtuung und dem Verletzer in fühl¬
barer Weise Strafe und Buße auflegen, so¬
lange kann die eines Rechtsstaates unwürdige
Ignorierung der Ehre als Rechtsgut zu nichts
anderem führen als zur Beseitigung des in¬
folge der Lücke im Recht unvermeidbaren
Notstandes durch Selbsthilfe. Eine An¬
erkennung dieser dnrch dialektische Rede nicht
zu beseitigenden Tatsache enthält das geltende
Recht selbst, indem es die im geordneten
Duellverfahren herbeigeführte Tötung und
Körperverletzung nicht nach den allgemeinen
Regeln beurteilt, sondern den Täter nur einer
verhältnismäßig kurzen custoclig noiiLsta
schuldig werden läßt.

Die Beseitigung dieser gesetzlichen An¬
erkennung eines Notstandes ohne vorgängige
Beseitigung des tatsächlichen Notstandes hieße
an Stelle der dnrch die rechtsgeordnete Not¬
standsselbsthilfe schlecht verdeckten Lücke des
Gesetzes der ungezügelten Selbsthilfe Tor und
Tür öffnen und damit eine offene Bresche in
die allgemeine Rechtssicherheit und Moral

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legen. Daher bedeutet auch schon die in¬
tellektuelle zwangsartige Einwirkung ans Unter¬
lassung der rechtsanerkannten, wenngleich straf¬
baren geordneten Notstandshondluug vor Be¬
seitigung des faktischen Notstandes eine
moralisch nicht unverantwortliche Mitwirkung
zur Vornahme ungeregelter tuillkürlicherSelbst-
hilfehandlnngen, zu Ausschreitungen gegen das
Gesetz, die vor dem geltenden Recht und der
Sittlichkeit viel tiefer stehen, als etwaige in¬
tellektuelle Einwirkungen auf die Vornahme
oder Unterlassung des vom Gesetz als Not-
hilfehcmdlnng anerkannten Duells durch die
bekannten Ehrenrath- und Gerichtsbestim¬
mungen. Deshalb ist auch eine öffentliche
Klage, welche in scholastischer Weise derartige
Bestimmungen als Zwang zum Ungehorsam
gegen das Gesetz doktriniert, eine in dieser
Richtung viel schlimmer wirkende Splitter-
richterei, und in Wahrheit geeignet, zur gröb¬
lichsten Mißachtung der Rechtsordnung zu
verleiten und die Grundlagen derselben, den
Unterschied zwischen Recht und Unrecht zu
untergraben.

Die einzige scheinbare Verteidigung, der
der inneren rechtlichen und sittlichen Be¬
gründung entbehrenden Forderung der Unter¬
drückung des Duells, ohne vorgängige
Herbeiführung eines genügenden Rechts¬
schutzes der Ehre, ist die Berufung darauf,
daß man in England ohne Duell auskomme.
So leicht aber diese Berufung erhoben und
nachgesagt ist, so ungerechtfertigt ist sie; denn
so richtig jene Tatsache der Berufung im all¬
gemeinen ist, unterläßt doch die Berufung
selbst die Ursache hierfür, die Primäre Tat¬
sache anzugeben, daß der faktische Notstand,
der bei uns infolge des mangelnden Ehrcn-
schutzes besteht, eben in England nicht vor¬
handen ist, weil im Straf- und noch mehr im
Zivilrecht die persönliche, die Frauen-, Gatten-
und Familienehre anerkannten und durch die
Rechtsprechung gesicherten Rechtsschutz besitzen.
Nur zu leicht aber wird in der Wirkung das
englische Recht als Vorbild gepriesen, während
man die Ursachen, die geltenden Rechts¬
normen wegen nicht beliebter charakteristischer
Äußerungen, die aber bei jedem System
einmal mit in Kauf genommen werden müssen,
als veraltet oder unpassend für unsere
Verhältnisse verwirft. Eine gewissenhafte

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Ehre und des Familienlebens fast vogelfrei.
Entgegen dein germanischen und deutschen
Volksrechte gilt heute in Deutschland der
volksfremde Satz des Juristenrechtes, daß die
Ehre keinen Rechtsschutz durch das bürger¬
liche Recht genießt. Nur zu oft hat das
Reichsgericht in enger Auslegung des Bürger¬
lichen Gesetzbuches entschieden, daß in der be¬
kannten Aufzählung der gegen unerlaubte
Handlungen geschützte» Rechtsgüter „Leben,
Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum oder
ein sonstiges Recht" die Ehre nicht einbegriffen
sei, daß insbesondere der Ehegatte gegen den
Ehebrecher keine Rechte habe, ja nicht einmal
den Anspruch auf Unterlassung des Einbruches
in sein Familienleben I (R. G, Entsch. v>
29. Mai 1902, 2. Januar 190S, 26. Januar
1909, 22. April 1909 u. 26. April 1909.)

Solange das gellende deutsche Recht und
die Rechtsprechung das hohe Lebensgut der
Ehre derartig ignoriert, solange es nicht grund¬
sätzlich ebenso wie Leben, Körper, Gesundheit
und die anderen rechtlich geschützten Lebens¬
interessen eines jeden auch die Ehre als ein
Rechtsgut anerkennt, und demgemäß Straf-
und Zivilrechtsschutznormen aufstellt, die in
öffentlicher und privater Hinsicht Präventiv
und repressiv der Allgemeinheit und dem Ver¬
letzten Genugtuung und dem Verletzer in fühl¬
barer Weise Strafe und Buße auflegen, so¬
lange kann die eines Rechtsstaates unwürdige
Ignorierung der Ehre als Rechtsgut zu nichts
anderem führen als zur Beseitigung des in¬
folge der Lücke im Recht unvermeidbaren
Notstandes durch Selbsthilfe. Eine An¬
erkennung dieser dnrch dialektische Rede nicht
zu beseitigenden Tatsache enthält das geltende
Recht selbst, indem es die im geordneten
Duellverfahren herbeigeführte Tötung und
Körperverletzung nicht nach den allgemeinen
Regeln beurteilt, sondern den Täter nur einer
verhältnismäßig kurzen custoclig noiiLsta
schuldig werden läßt.

Die Beseitigung dieser gesetzlichen An¬
erkennung eines Notstandes ohne vorgängige
Beseitigung des tatsächlichen Notstandes hieße
an Stelle der dnrch die rechtsgeordnete Not¬
standsselbsthilfe schlecht verdeckten Lücke des
Gesetzes der ungezügelten Selbsthilfe Tor und
Tür öffnen und damit eine offene Bresche in
die allgemeine Rechtssicherheit und Moral

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legen. Daher bedeutet auch schon die in¬
tellektuelle zwangsartige Einwirkung ans Unter¬
lassung der rechtsanerkannten, wenngleich straf¬
baren geordneten Notstandshondluug vor Be¬
seitigung des faktischen Notstandes eine
moralisch nicht unverantwortliche Mitwirkung
zur Vornahme ungeregelter tuillkürlicherSelbst-
hilfehandlnngen, zu Ausschreitungen gegen das
Gesetz, die vor dem geltenden Recht und der
Sittlichkeit viel tiefer stehen, als etwaige in¬
tellektuelle Einwirkungen auf die Vornahme
oder Unterlassung des vom Gesetz als Not-
hilfehcmdlnng anerkannten Duells durch die
bekannten Ehrenrath- und Gerichtsbestim¬
mungen. Deshalb ist auch eine öffentliche
Klage, welche in scholastischer Weise derartige
Bestimmungen als Zwang zum Ungehorsam
gegen das Gesetz doktriniert, eine in dieser
Richtung viel schlimmer wirkende Splitter-
richterei, und in Wahrheit geeignet, zur gröb¬
lichsten Mißachtung der Rechtsordnung zu
verleiten und die Grundlagen derselben, den
Unterschied zwischen Recht und Unrecht zu
untergraben.

Die einzige scheinbare Verteidigung, der
der inneren rechtlichen und sittlichen Be¬
gründung entbehrenden Forderung der Unter¬
drückung des Duells, ohne vorgängige
Herbeiführung eines genügenden Rechts¬
schutzes der Ehre, ist die Berufung darauf,
daß man in England ohne Duell auskomme.
So leicht aber diese Berufung erhoben und
nachgesagt ist, so ungerechtfertigt ist sie; denn
so richtig jene Tatsache der Berufung im all¬
gemeinen ist, unterläßt doch die Berufung
selbst die Ursache hierfür, die Primäre Tat¬
sache anzugeben, daß der faktische Notstand,
der bei uns infolge des mangelnden Ehrcn-
schutzes besteht, eben in England nicht vor¬
handen ist, weil im Straf- und noch mehr im
Zivilrecht die persönliche, die Frauen-, Gatten-
und Familienehre anerkannten und durch die
Rechtsprechung gesicherten Rechtsschutz besitzen.
Nur zu leicht aber wird in der Wirkung das
englische Recht als Vorbild gepriesen, während
man die Ursachen, die geltenden Rechts¬
normen wegen nicht beliebter charakteristischer
Äußerungen, die aber bei jedem System
einmal mit in Kauf genommen werden müssen,
als veraltet oder unpassend für unsere
Verhältnisse verwirft. Eine gewissenhafte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/53>, abgerufen am 15.06.2024.