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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Die Politik des Fürsten Bülow

Sprache der Archive seine Gedanken und Absichten wieder erstehen zu lassen.
Wir wollen vielmehr die Stimme derer hören, die an verantwortlicher Stelle
Weltgeschichte haben machen helfen; wir wollen sie hören, solange sie unter den
Lebenden weilen, ja noch mehr: wir haben ein Anrecht darauf. Zwar herrscht
bei uns noch die Gepflogenheit, daß der Rücktritt vom Amt für einen Staats¬
mann in der Regel zugleich den Abschluß politischer Tätigkeit überhaupt be¬
deutet. Das ist ein Überbleibsel aus der Zeit des Absolutismus und des
damit zusammenhängenden bureaukratischen Staatsbegrifss, eine Überlieferung,
die, genau betrachtet, dem Wesen des modernen Verfassungsstaats durchaus
widerspricht. Aber wo solche Gewohnheiten einmal Bestandteile einer im all¬
gemeinen mit Recht hochgehaltenen Tradition geworden sind, da sind sie sehr
schwer auszuschalten. Und so werden wir leider wohl noch lange damit rechnen
müssen, daß in der freien, außeramtlichen Mitarbeit am Staatswohl, zu der
im Rahmen und nach Maßgabe der Verfassung eigentlich jeder Staatsbürger
erniutigt werden sollte", gerade die berufensten und erfahrensten Kräfte nicht in
dem Maße zur Geltung kommen, wie es dem Staatsinteresse entsprechen würde.
Man weist ihnen einen Platz im Herrenhause an, man hindert sie nicht, sich
um ein Abgeordnetenmandat zu bewerben, aber lieber sieht man es doch in
der amtlichen Welt, wenn sie als schweigende Zuschauer vor der politischen
Bühne sitzen und ihre Nachfolger von dem Alpdruck möglicher Indiskretionen
und unbequemer Kritik befreien.

Um so dankbarer müssen alle, die für ihr politisches Urteil um der
Schrullen einer überwundenen Epoche willen nicht auf eine sachliche Aufklärung
verzichten möchten, es begrüßen, wenn ein ehemaliger leitender Staatsmann in
der vornehmsten Form schriftstellerischer Gedankendarlegung, fern von jeder
Sensationsmacherei oder Enthüllungsgelüsten, von seiner politischen Tätigkeit
Rechenschaft ablegt. Fürst Bülows prächtige Darstellung der deutschen Politik
in dem bei Reimar Hobbing erschienenen Sammelwerk "Deutschland unter
Kaiser Wilhelm II" ist ein solcher Rechenschaftsbericht, der ja auch nach seinem
Erscheinen seiner Bedeutung entsprechend in der Presse aller Länder gewürdigt
worden ist. Dergleichen Erscheinungen können aber mit den üblichen Be¬
sprechungen in der Tagespresse nicht als erledigt gelten; sie wollen wiederholt
studiert und auf ihren geschichtlichen und politischen Wert geprüft sein. Wenn
an dieser Stelle noch einmal auf die Bedeutung der Politik des Fürsten Bülow
auf Grund seiner eigenen Darstellung hingewiesen werden soll, so kann es hierbei
freilich nicht darauf ankommen, bei Einzelheiten zu verweilen und sie kritisch
zu zergliedern, sondern es gilt, zeitlich und inhaltlich diese bedeutsame Veröffent¬
lichung als Ganzes in das rechte Licht zu setzen.

Fürst Bülow hat nach seinem Rücktritt eine Reihe von Jahren vergehen
lassen, ehe er eine sich ihm bietende Gelegenheit ergriff, wieder einmal zum
deutschen Volke zu sprechen. Man darf sagen, daß der gewählte Zeitpunkt
diesen Schritt nicht nur rechtfertigte, sondern vielmehr besonders dankenswert


Die Politik des Fürsten Bülow

Sprache der Archive seine Gedanken und Absichten wieder erstehen zu lassen.
Wir wollen vielmehr die Stimme derer hören, die an verantwortlicher Stelle
Weltgeschichte haben machen helfen; wir wollen sie hören, solange sie unter den
Lebenden weilen, ja noch mehr: wir haben ein Anrecht darauf. Zwar herrscht
bei uns noch die Gepflogenheit, daß der Rücktritt vom Amt für einen Staats¬
mann in der Regel zugleich den Abschluß politischer Tätigkeit überhaupt be¬
deutet. Das ist ein Überbleibsel aus der Zeit des Absolutismus und des
damit zusammenhängenden bureaukratischen Staatsbegrifss, eine Überlieferung,
die, genau betrachtet, dem Wesen des modernen Verfassungsstaats durchaus
widerspricht. Aber wo solche Gewohnheiten einmal Bestandteile einer im all¬
gemeinen mit Recht hochgehaltenen Tradition geworden sind, da sind sie sehr
schwer auszuschalten. Und so werden wir leider wohl noch lange damit rechnen
müssen, daß in der freien, außeramtlichen Mitarbeit am Staatswohl, zu der
im Rahmen und nach Maßgabe der Verfassung eigentlich jeder Staatsbürger
erniutigt werden sollte», gerade die berufensten und erfahrensten Kräfte nicht in
dem Maße zur Geltung kommen, wie es dem Staatsinteresse entsprechen würde.
Man weist ihnen einen Platz im Herrenhause an, man hindert sie nicht, sich
um ein Abgeordnetenmandat zu bewerben, aber lieber sieht man es doch in
der amtlichen Welt, wenn sie als schweigende Zuschauer vor der politischen
Bühne sitzen und ihre Nachfolger von dem Alpdruck möglicher Indiskretionen
und unbequemer Kritik befreien.

Um so dankbarer müssen alle, die für ihr politisches Urteil um der
Schrullen einer überwundenen Epoche willen nicht auf eine sachliche Aufklärung
verzichten möchten, es begrüßen, wenn ein ehemaliger leitender Staatsmann in
der vornehmsten Form schriftstellerischer Gedankendarlegung, fern von jeder
Sensationsmacherei oder Enthüllungsgelüsten, von seiner politischen Tätigkeit
Rechenschaft ablegt. Fürst Bülows prächtige Darstellung der deutschen Politik
in dem bei Reimar Hobbing erschienenen Sammelwerk „Deutschland unter
Kaiser Wilhelm II" ist ein solcher Rechenschaftsbericht, der ja auch nach seinem
Erscheinen seiner Bedeutung entsprechend in der Presse aller Länder gewürdigt
worden ist. Dergleichen Erscheinungen können aber mit den üblichen Be¬
sprechungen in der Tagespresse nicht als erledigt gelten; sie wollen wiederholt
studiert und auf ihren geschichtlichen und politischen Wert geprüft sein. Wenn
an dieser Stelle noch einmal auf die Bedeutung der Politik des Fürsten Bülow
auf Grund seiner eigenen Darstellung hingewiesen werden soll, so kann es hierbei
freilich nicht darauf ankommen, bei Einzelheiten zu verweilen und sie kritisch
zu zergliedern, sondern es gilt, zeitlich und inhaltlich diese bedeutsame Veröffent¬
lichung als Ganzes in das rechte Licht zu setzen.

Fürst Bülow hat nach seinem Rücktritt eine Reihe von Jahren vergehen
lassen, ehe er eine sich ihm bietende Gelegenheit ergriff, wieder einmal zum
deutschen Volke zu sprechen. Man darf sagen, daß der gewählte Zeitpunkt
diesen Schritt nicht nur rechtfertigte, sondern vielmehr besonders dankenswert


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/62>, abgerufen am 16.06.2024.