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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Frankreichs Provinzen im Kampf gegen Paris

Barros und Bazin, zwei der bedeutendsten Theoretiker, sind mit ihren
Romanen auch Typen praktischer Regionalsten. Neben ihnen steht eine ganze
Reihe mehr oder weniger bedeutender Persönlichkeiten, deren Namen z. B.
Beaurepaire-Fromme in einer "literarischen Geographie Frankreichs" gesammelt
hat*). Man kann auf auch in Deutschland bekannte Namen hinweisen: Loki,
Paul Arome. Richepin. Paul Adam. Auch Parallelerscheinungen in der bildenden
Kunst könnte man anführen. Da ist z. B. die Landschaft Noussillon am
AbHange der östlichen Pyrenäen. Dort leben der auch bei uns bekannte
Bildhauer Aristide Maillot. der in seinen Plastiker die sinnliche Schönheit der
Mittelmeerkultur gestaltet, und Terrus. der Maler, dessen Bilder Meer und Luft
von Noussillon in ihrer lichten Frische widerspiegeln. Aus allen den Namen
kann man sich einen Begriff von der Ausdehnung der provinziellen Literatur
machen. Wichtiger aber als ihre Ausdehnung ist ihr literarischer Wert und
ihre Bedeutung für die geistige Entwicklung Frankreichs überhaupt. Und da
möchte ich noch zwei Namen nennen, um die Behauptung zu stützen, daß es
"Nuancen der französischen Rassenseele" gibt, die künstlerische Persönlichkeiten
wohl hervorzubringen und damit befruchtend auf die Literatur einzuwirken
vermögen.

Diese beiden Namen sind: Jules Renard und Emile Verhaeren.

Wenn Jules Renard von dem alten Fräulein Olympe erzählt, dessen
ganzes Leben ein Opfer ist. oder von Cousine Nanette. die in der Lokomotive
den leibhaften Gottseibeiuns sieht, von dem Gewitter im Dorfe, von den Philipps,
die unter dem ältesten Strohdach des Ortes wohnen und die hochzeitlichen Kopf-
kissen jeden Abend sorgfältig auf einen Stuhl legen, um sie nicht zu zerknittern;
von Nanette, die zum erstenmal in ihrem Leben die Messe versäumt, von Zieheimer
und Scheune; dann weht einen der Atem der lebenden Provinz an. Neuland
taucht auf. neue Gestalten, ein ungeahntes Etwas, das Renard ans Licht zog.
da er sich in die Seelen der Geringsten und Kleinsten in Dorf und Land ver¬
tieft hatte.

Verhaeren wurzelt selbst in einem Lande, das zwar mit französischer
Sprache und Kultur zum größten Teil aufgezogen worden ist, aber doch seine
eigene Geschichte und sein eigenes Nationalbewußtsein hat. Wer Verhaerens
Gedichte kennt, weiß, wie seine ganze Persönlichkeit aus ihnen herausgewachsen
ist- Er trägt selber an der Geschichte seines Landes, die melancholische und
doch wieder üppige Natur seines Landes lebt in ihm. wirkt in ihm. Wie klein
erscheint uns die Pariser Clique, die Ehebruchsdramatiker, die tüftelnden Seelen¬
analytiker 5 la Bourget. die lyrischen Salons ü la nmäame cZe ^oaillss
gegenüber dem gewaltigen Menschentum Verhaerens. der. weil er eine große
Persönlichkeit, auch ein großer Künstler ist.

Das ist es, was die Dezentralisation des geistigen Lebens Frankreich geben
kann: Persönlichkeiten. Ob sie, wie Barros glaubt, vom Grad des Rassen-



*) Indern Buche von Charles-Brun. I.es Utöratures provinciales.
2*
Frankreichs Provinzen im Kampf gegen Paris

Barros und Bazin, zwei der bedeutendsten Theoretiker, sind mit ihren
Romanen auch Typen praktischer Regionalsten. Neben ihnen steht eine ganze
Reihe mehr oder weniger bedeutender Persönlichkeiten, deren Namen z. B.
Beaurepaire-Fromme in einer „literarischen Geographie Frankreichs" gesammelt
hat*). Man kann auf auch in Deutschland bekannte Namen hinweisen: Loki,
Paul Arome. Richepin. Paul Adam. Auch Parallelerscheinungen in der bildenden
Kunst könnte man anführen. Da ist z. B. die Landschaft Noussillon am
AbHange der östlichen Pyrenäen. Dort leben der auch bei uns bekannte
Bildhauer Aristide Maillot. der in seinen Plastiker die sinnliche Schönheit der
Mittelmeerkultur gestaltet, und Terrus. der Maler, dessen Bilder Meer und Luft
von Noussillon in ihrer lichten Frische widerspiegeln. Aus allen den Namen
kann man sich einen Begriff von der Ausdehnung der provinziellen Literatur
machen. Wichtiger aber als ihre Ausdehnung ist ihr literarischer Wert und
ihre Bedeutung für die geistige Entwicklung Frankreichs überhaupt. Und da
möchte ich noch zwei Namen nennen, um die Behauptung zu stützen, daß es
„Nuancen der französischen Rassenseele" gibt, die künstlerische Persönlichkeiten
wohl hervorzubringen und damit befruchtend auf die Literatur einzuwirken
vermögen.

Diese beiden Namen sind: Jules Renard und Emile Verhaeren.

Wenn Jules Renard von dem alten Fräulein Olympe erzählt, dessen
ganzes Leben ein Opfer ist. oder von Cousine Nanette. die in der Lokomotive
den leibhaften Gottseibeiuns sieht, von dem Gewitter im Dorfe, von den Philipps,
die unter dem ältesten Strohdach des Ortes wohnen und die hochzeitlichen Kopf-
kissen jeden Abend sorgfältig auf einen Stuhl legen, um sie nicht zu zerknittern;
von Nanette, die zum erstenmal in ihrem Leben die Messe versäumt, von Zieheimer
und Scheune; dann weht einen der Atem der lebenden Provinz an. Neuland
taucht auf. neue Gestalten, ein ungeahntes Etwas, das Renard ans Licht zog.
da er sich in die Seelen der Geringsten und Kleinsten in Dorf und Land ver¬
tieft hatte.

Verhaeren wurzelt selbst in einem Lande, das zwar mit französischer
Sprache und Kultur zum größten Teil aufgezogen worden ist, aber doch seine
eigene Geschichte und sein eigenes Nationalbewußtsein hat. Wer Verhaerens
Gedichte kennt, weiß, wie seine ganze Persönlichkeit aus ihnen herausgewachsen
ist- Er trägt selber an der Geschichte seines Landes, die melancholische und
doch wieder üppige Natur seines Landes lebt in ihm. wirkt in ihm. Wie klein
erscheint uns die Pariser Clique, die Ehebruchsdramatiker, die tüftelnden Seelen¬
analytiker 5 la Bourget. die lyrischen Salons ü la nmäame cZe ^oaillss
gegenüber dem gewaltigen Menschentum Verhaerens. der. weil er eine große
Persönlichkeit, auch ein großer Künstler ist.

Das ist es, was die Dezentralisation des geistigen Lebens Frankreich geben
kann: Persönlichkeiten. Ob sie, wie Barros glaubt, vom Grad des Rassen-



*) Indern Buche von Charles-Brun. I.es Utöratures provinciales.
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[0031] Frankreichs Provinzen im Kampf gegen Paris Barros und Bazin, zwei der bedeutendsten Theoretiker, sind mit ihren Romanen auch Typen praktischer Regionalsten. Neben ihnen steht eine ganze Reihe mehr oder weniger bedeutender Persönlichkeiten, deren Namen z. B. Beaurepaire-Fromme in einer „literarischen Geographie Frankreichs" gesammelt hat*). Man kann auf auch in Deutschland bekannte Namen hinweisen: Loki, Paul Arome. Richepin. Paul Adam. Auch Parallelerscheinungen in der bildenden Kunst könnte man anführen. Da ist z. B. die Landschaft Noussillon am AbHange der östlichen Pyrenäen. Dort leben der auch bei uns bekannte Bildhauer Aristide Maillot. der in seinen Plastiker die sinnliche Schönheit der Mittelmeerkultur gestaltet, und Terrus. der Maler, dessen Bilder Meer und Luft von Noussillon in ihrer lichten Frische widerspiegeln. Aus allen den Namen kann man sich einen Begriff von der Ausdehnung der provinziellen Literatur machen. Wichtiger aber als ihre Ausdehnung ist ihr literarischer Wert und ihre Bedeutung für die geistige Entwicklung Frankreichs überhaupt. Und da möchte ich noch zwei Namen nennen, um die Behauptung zu stützen, daß es „Nuancen der französischen Rassenseele" gibt, die künstlerische Persönlichkeiten wohl hervorzubringen und damit befruchtend auf die Literatur einzuwirken vermögen. Diese beiden Namen sind: Jules Renard und Emile Verhaeren. Wenn Jules Renard von dem alten Fräulein Olympe erzählt, dessen ganzes Leben ein Opfer ist. oder von Cousine Nanette. die in der Lokomotive den leibhaften Gottseibeiuns sieht, von dem Gewitter im Dorfe, von den Philipps, die unter dem ältesten Strohdach des Ortes wohnen und die hochzeitlichen Kopf- kissen jeden Abend sorgfältig auf einen Stuhl legen, um sie nicht zu zerknittern; von Nanette, die zum erstenmal in ihrem Leben die Messe versäumt, von Zieheimer und Scheune; dann weht einen der Atem der lebenden Provinz an. Neuland taucht auf. neue Gestalten, ein ungeahntes Etwas, das Renard ans Licht zog. da er sich in die Seelen der Geringsten und Kleinsten in Dorf und Land ver¬ tieft hatte. Verhaeren wurzelt selbst in einem Lande, das zwar mit französischer Sprache und Kultur zum größten Teil aufgezogen worden ist, aber doch seine eigene Geschichte und sein eigenes Nationalbewußtsein hat. Wer Verhaerens Gedichte kennt, weiß, wie seine ganze Persönlichkeit aus ihnen herausgewachsen ist- Er trägt selber an der Geschichte seines Landes, die melancholische und doch wieder üppige Natur seines Landes lebt in ihm. wirkt in ihm. Wie klein erscheint uns die Pariser Clique, die Ehebruchsdramatiker, die tüftelnden Seelen¬ analytiker 5 la Bourget. die lyrischen Salons ü la nmäame cZe ^oaillss gegenüber dem gewaltigen Menschentum Verhaerens. der. weil er eine große Persönlichkeit, auch ein großer Künstler ist. Das ist es, was die Dezentralisation des geistigen Lebens Frankreich geben kann: Persönlichkeiten. Ob sie, wie Barros glaubt, vom Grad des Rassen- *) Indern Buche von Charles-Brun. I.es Utöratures provinciales. 2*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/31>, abgerufen am 19.05.2024.