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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Deutschland und Neu-Griechenland

Mittelalters und der Freiheit unserer Zeit vermittelte und, was für die Ent¬
wicklung gerade des deutschen Staatslebens von ungeheurer Wichtigkeit wurde,
eine pflichttreue Beamtenschaft heranbildete, hat Griechenland gefehlt.

Das auf den angedeuteten Verhältnissen beruhende, im wesentlichen
ungünstige Urteil über Griechenland ist aber doch nur ein einseitiges, das dem
Kern des Volkstums nicht entspricht. Mit Recht hebt Professor Heisenberg in
einem am 8. Dezember 1912 im Kunstgewerbehause in München zum Besten
der damals im Felde stehenden griechischen Krieger gehaltenen Vortrage (Der
Philhellenismus einst und jetzt; als Broschüre erschienen München 1913) hervor,
welch edler Kern in einem Volke stecken muß, das jahrhundertelang in halber
Sklaverei, in Armut und Elend dahin gelebt hat und doch trotz alledem vom
Turkmenen nicht aufgesogen wurde und den Glauben an ein glücklicheres Los
nicht verloren hat. Es handelt sich offenbar bei den erwähnten Mißständen um
die Jugendkrankheiten eines Volkes, die die Folge einer zu raschen Entwicklung
sind, aber überwunden werden können und schon jetzt überwunden zu sein scheinen.

Seit der kluge und energische Kreter Venizelos an der Spitze der Regierung
steht, ist ein anderer Zug in das Staatsleben gekommen.

Unter Führung des damaligen Kronprinzen hat sich das Heer im letzten
Kriege in blutigen Schlachten tapfer geschlagen, und einen in Europa allseitig
als weit überlegen angesehenen Feind besiegt. Die Scharte des Krieges von
1897 ist glänzend ausgewetzt. Griechenland ist zu einer Militärmacht geworden,
mit der gerechnet werden muß.

Das Finanzwesen ist zum Teil infolge der nach dem Staatsbankrott ein¬
gesetzten europäischen Finanzkontmission aber auch durch die sonstige Entwicklung
des Landes wesentlich gebessert. Während vor zwanzig Jahren der Goldkurs
gegenüber dem Papierkurs 150 Prozent und mehr betrug, steht jetzt Gold und
Papier etwa gleich. Aber auch sonst sind große Fortschritte zu verzeichnen.

Das Räuberwesen in abgelegenen Gebirgsgegenden ist völlig unterdrückt.
Man reist in einsamen Gegenden in Griechenland jetzt nicht unsicherer als
in den sonstigen europäischen Ländern alter Kultur. Als ich infolge eines Auf¬
trages der griechischen Negierung vor zwanzig Jahren das Innere des Landes
in den nördlichen Gebirgsgegenden bereiste, hielt die Regierung eine starke
militärische Eskorte für nötig. Bei ähnlichen Reisen vor zwei Jahren dachte
niemand mehr an solche Maßregeln.

Der Wohlstand hat sich gehoben. Die Handelsbilanz des Landes ist zwar
noch immer eine passive. 1911: Ausfuhr 1409 Millionen Drachmen, Ein¬
fuhr 1722 Millionen Drachmen. 1912: Ausfuhr 1468 Millionen Drachmen.
Einfuhr 1562 Millionen Drachmen. Aber das wird reichlich aufgehoben durch
die Beleidigung des Volkes im Handel und bei der Schiffahrt, die im Orient


Deutschland und Neu-Griechenland

Mittelalters und der Freiheit unserer Zeit vermittelte und, was für die Ent¬
wicklung gerade des deutschen Staatslebens von ungeheurer Wichtigkeit wurde,
eine pflichttreue Beamtenschaft heranbildete, hat Griechenland gefehlt.

Das auf den angedeuteten Verhältnissen beruhende, im wesentlichen
ungünstige Urteil über Griechenland ist aber doch nur ein einseitiges, das dem
Kern des Volkstums nicht entspricht. Mit Recht hebt Professor Heisenberg in
einem am 8. Dezember 1912 im Kunstgewerbehause in München zum Besten
der damals im Felde stehenden griechischen Krieger gehaltenen Vortrage (Der
Philhellenismus einst und jetzt; als Broschüre erschienen München 1913) hervor,
welch edler Kern in einem Volke stecken muß, das jahrhundertelang in halber
Sklaverei, in Armut und Elend dahin gelebt hat und doch trotz alledem vom
Turkmenen nicht aufgesogen wurde und den Glauben an ein glücklicheres Los
nicht verloren hat. Es handelt sich offenbar bei den erwähnten Mißständen um
die Jugendkrankheiten eines Volkes, die die Folge einer zu raschen Entwicklung
sind, aber überwunden werden können und schon jetzt überwunden zu sein scheinen.

Seit der kluge und energische Kreter Venizelos an der Spitze der Regierung
steht, ist ein anderer Zug in das Staatsleben gekommen.

Unter Führung des damaligen Kronprinzen hat sich das Heer im letzten
Kriege in blutigen Schlachten tapfer geschlagen, und einen in Europa allseitig
als weit überlegen angesehenen Feind besiegt. Die Scharte des Krieges von
1897 ist glänzend ausgewetzt. Griechenland ist zu einer Militärmacht geworden,
mit der gerechnet werden muß.

Das Finanzwesen ist zum Teil infolge der nach dem Staatsbankrott ein¬
gesetzten europäischen Finanzkontmission aber auch durch die sonstige Entwicklung
des Landes wesentlich gebessert. Während vor zwanzig Jahren der Goldkurs
gegenüber dem Papierkurs 150 Prozent und mehr betrug, steht jetzt Gold und
Papier etwa gleich. Aber auch sonst sind große Fortschritte zu verzeichnen.

Das Räuberwesen in abgelegenen Gebirgsgegenden ist völlig unterdrückt.
Man reist in einsamen Gegenden in Griechenland jetzt nicht unsicherer als
in den sonstigen europäischen Ländern alter Kultur. Als ich infolge eines Auf¬
trages der griechischen Negierung vor zwanzig Jahren das Innere des Landes
in den nördlichen Gebirgsgegenden bereiste, hielt die Regierung eine starke
militärische Eskorte für nötig. Bei ähnlichen Reisen vor zwei Jahren dachte
niemand mehr an solche Maßregeln.

Der Wohlstand hat sich gehoben. Die Handelsbilanz des Landes ist zwar
noch immer eine passive. 1911: Ausfuhr 1409 Millionen Drachmen, Ein¬
fuhr 1722 Millionen Drachmen. 1912: Ausfuhr 1468 Millionen Drachmen.
Einfuhr 1562 Millionen Drachmen. Aber das wird reichlich aufgehoben durch
die Beleidigung des Volkes im Handel und bei der Schiffahrt, die im Orient


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[0068] Deutschland und Neu-Griechenland Mittelalters und der Freiheit unserer Zeit vermittelte und, was für die Ent¬ wicklung gerade des deutschen Staatslebens von ungeheurer Wichtigkeit wurde, eine pflichttreue Beamtenschaft heranbildete, hat Griechenland gefehlt. Das auf den angedeuteten Verhältnissen beruhende, im wesentlichen ungünstige Urteil über Griechenland ist aber doch nur ein einseitiges, das dem Kern des Volkstums nicht entspricht. Mit Recht hebt Professor Heisenberg in einem am 8. Dezember 1912 im Kunstgewerbehause in München zum Besten der damals im Felde stehenden griechischen Krieger gehaltenen Vortrage (Der Philhellenismus einst und jetzt; als Broschüre erschienen München 1913) hervor, welch edler Kern in einem Volke stecken muß, das jahrhundertelang in halber Sklaverei, in Armut und Elend dahin gelebt hat und doch trotz alledem vom Turkmenen nicht aufgesogen wurde und den Glauben an ein glücklicheres Los nicht verloren hat. Es handelt sich offenbar bei den erwähnten Mißständen um die Jugendkrankheiten eines Volkes, die die Folge einer zu raschen Entwicklung sind, aber überwunden werden können und schon jetzt überwunden zu sein scheinen. Seit der kluge und energische Kreter Venizelos an der Spitze der Regierung steht, ist ein anderer Zug in das Staatsleben gekommen. Unter Führung des damaligen Kronprinzen hat sich das Heer im letzten Kriege in blutigen Schlachten tapfer geschlagen, und einen in Europa allseitig als weit überlegen angesehenen Feind besiegt. Die Scharte des Krieges von 1897 ist glänzend ausgewetzt. Griechenland ist zu einer Militärmacht geworden, mit der gerechnet werden muß. Das Finanzwesen ist zum Teil infolge der nach dem Staatsbankrott ein¬ gesetzten europäischen Finanzkontmission aber auch durch die sonstige Entwicklung des Landes wesentlich gebessert. Während vor zwanzig Jahren der Goldkurs gegenüber dem Papierkurs 150 Prozent und mehr betrug, steht jetzt Gold und Papier etwa gleich. Aber auch sonst sind große Fortschritte zu verzeichnen. Das Räuberwesen in abgelegenen Gebirgsgegenden ist völlig unterdrückt. Man reist in einsamen Gegenden in Griechenland jetzt nicht unsicherer als in den sonstigen europäischen Ländern alter Kultur. Als ich infolge eines Auf¬ trages der griechischen Negierung vor zwanzig Jahren das Innere des Landes in den nördlichen Gebirgsgegenden bereiste, hielt die Regierung eine starke militärische Eskorte für nötig. Bei ähnlichen Reisen vor zwei Jahren dachte niemand mehr an solche Maßregeln. Der Wohlstand hat sich gehoben. Die Handelsbilanz des Landes ist zwar noch immer eine passive. 1911: Ausfuhr 1409 Millionen Drachmen, Ein¬ fuhr 1722 Millionen Drachmen. 1912: Ausfuhr 1468 Millionen Drachmen. Einfuhr 1562 Millionen Drachmen. Aber das wird reichlich aufgehoben durch die Beleidigung des Volkes im Handel und bei der Schiffahrt, die im Orient

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/68>, abgerufen am 19.05.2024.