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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Israel Zangwill an die Neutralen

Aber es ist noch nicht einmal sicher, daß die russischen Juden weiter
leiden werden, wenn England nur erst von diesem teutonischen Albdruck
befreit ist. Versicherungen, die ich den Vorzug hatte von Sir Edward Grey
zu empfangen, daß er keine Gelegenheit versäumen würde, die Emanzipation
der russischen Juden zu fördern, bezeichnen einen Wendepunkt in deren
Geschichte, indem sie in der Tat an die Stelle windiger russischer Gerüchte
eine feste politische Grundlage der Hoffnung setzen. Und dies ist nicht nur
die bloße Äußerung eines Politikers in Nöten. Ich bin in der Lage zu
erklären, daß es den Standpunkt der Besten englischer Anschauungen wieder¬
gibt. Mit Vertrauen appelliere ich darum an amerikanische und andere neutrale
Juden, daß sie nicht den Schatten Rußlands ihre Sympathien von dieser
unüberwindlichen Jusel fernhalten lassen sollen, die jetzt, wie oft zuvor, für
die Menschheit kämpft, und die auch noch Nußland zivilisieren mag."

Also sprach Israel Zangwill! -- Wir haben in diesem Jahre, da sich
der Besten in den Ländern des Westens eine bedauerliche Begriffsverwirrung
bemächtigt hat, verwunderliche Dinge erlebt, aber nichts verwunderlicheres, als
was hier der öffentlichen Moral zugemutet wird. In Amerika und Südafrika,
sowie in Australien leben zweieinhalb bis drei Millionen von Juden, die aus
Rußland flüchten mußten -- wie die Eltern des Herrn Zangwill selbst. Viele
von ihnen sind zu Wohlstand und Ansehen gelangt, und ihr Einfluß auf die
Presse der neutralen Länder ist groß. In New Dort besonders stellen sie
25 Prozent der Wähler und bestimmen häufig den Ausgang der politischen
Kämpfe. Was aber in New Dort als politisch maßgeblich gilt, ist meistens
ausschlaggebend sür die politischen Kämpfe in der Union überhaupt. Man wird
also ohne weiteres verstehen, daß es von hohem Werte für England ist, dieses
jüdische Element in den neutralen Ländern für sich zu gewinnen, und dazu
sollen nun Sympathien für eben jenes Rußland erweckt werden, aus dem die
Juden der freien Länder flüchten mußten, um das nackte Leben zu retten. Sie
sollen ihren Stammesgenossen zureden, auf die Seite der Entente zu treten und
sollen dazu beitragen, daß sechs Millionen Juden weiter unter der russischen
Knute leben, damit der "gotische Übermensch" schwinde. Damit England siege,
sollen die Pogrome von Kischinew und Houel, von Kiew, Shitomir und
Odessa vergessen sein. Vergessen sein soll die Schande des Ansiedlungsrayons
und der Prozentnorm in den Schulen, die Ermordung ihrer Brüder und die
Entehrung ihrer Schwestern. Der Schatten Rußlands, das noch eben im
Belus-Prozeß sich mit allen Mitteln der Staatsgewalt bemühte, den Ritual¬
mordglauben zu pflegen und zu stärken, soll nicht die Sympathien für England
beeinträchtigen. Für das England, das mit den Halbwilden des Ostens ver¬
bündet "für die Menschheit kämpft". Und das sagt Israel Zangwill!

Wir Juden erinnern uns an einen Mann, der in zahllosen Versammlungen
Westeuropas Worte von erbittertster Erregung, von blutigsten Hohne über das
Zarentum an der Newa sprach, der alle Völker aufzustacheln versuchte, gegen


Israel Zangwill an die Neutralen

Aber es ist noch nicht einmal sicher, daß die russischen Juden weiter
leiden werden, wenn England nur erst von diesem teutonischen Albdruck
befreit ist. Versicherungen, die ich den Vorzug hatte von Sir Edward Grey
zu empfangen, daß er keine Gelegenheit versäumen würde, die Emanzipation
der russischen Juden zu fördern, bezeichnen einen Wendepunkt in deren
Geschichte, indem sie in der Tat an die Stelle windiger russischer Gerüchte
eine feste politische Grundlage der Hoffnung setzen. Und dies ist nicht nur
die bloße Äußerung eines Politikers in Nöten. Ich bin in der Lage zu
erklären, daß es den Standpunkt der Besten englischer Anschauungen wieder¬
gibt. Mit Vertrauen appelliere ich darum an amerikanische und andere neutrale
Juden, daß sie nicht den Schatten Rußlands ihre Sympathien von dieser
unüberwindlichen Jusel fernhalten lassen sollen, die jetzt, wie oft zuvor, für
die Menschheit kämpft, und die auch noch Nußland zivilisieren mag."

Also sprach Israel Zangwill! — Wir haben in diesem Jahre, da sich
der Besten in den Ländern des Westens eine bedauerliche Begriffsverwirrung
bemächtigt hat, verwunderliche Dinge erlebt, aber nichts verwunderlicheres, als
was hier der öffentlichen Moral zugemutet wird. In Amerika und Südafrika,
sowie in Australien leben zweieinhalb bis drei Millionen von Juden, die aus
Rußland flüchten mußten — wie die Eltern des Herrn Zangwill selbst. Viele
von ihnen sind zu Wohlstand und Ansehen gelangt, und ihr Einfluß auf die
Presse der neutralen Länder ist groß. In New Dort besonders stellen sie
25 Prozent der Wähler und bestimmen häufig den Ausgang der politischen
Kämpfe. Was aber in New Dort als politisch maßgeblich gilt, ist meistens
ausschlaggebend sür die politischen Kämpfe in der Union überhaupt. Man wird
also ohne weiteres verstehen, daß es von hohem Werte für England ist, dieses
jüdische Element in den neutralen Ländern für sich zu gewinnen, und dazu
sollen nun Sympathien für eben jenes Rußland erweckt werden, aus dem die
Juden der freien Länder flüchten mußten, um das nackte Leben zu retten. Sie
sollen ihren Stammesgenossen zureden, auf die Seite der Entente zu treten und
sollen dazu beitragen, daß sechs Millionen Juden weiter unter der russischen
Knute leben, damit der „gotische Übermensch" schwinde. Damit England siege,
sollen die Pogrome von Kischinew und Houel, von Kiew, Shitomir und
Odessa vergessen sein. Vergessen sein soll die Schande des Ansiedlungsrayons
und der Prozentnorm in den Schulen, die Ermordung ihrer Brüder und die
Entehrung ihrer Schwestern. Der Schatten Rußlands, das noch eben im
Belus-Prozeß sich mit allen Mitteln der Staatsgewalt bemühte, den Ritual¬
mordglauben zu pflegen und zu stärken, soll nicht die Sympathien für England
beeinträchtigen. Für das England, das mit den Halbwilden des Ostens ver¬
bündet „für die Menschheit kämpft". Und das sagt Israel Zangwill!

Wir Juden erinnern uns an einen Mann, der in zahllosen Versammlungen
Westeuropas Worte von erbittertster Erregung, von blutigsten Hohne über das
Zarentum an der Newa sprach, der alle Völker aufzustacheln versuchte, gegen


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[0163] Israel Zangwill an die Neutralen Aber es ist noch nicht einmal sicher, daß die russischen Juden weiter leiden werden, wenn England nur erst von diesem teutonischen Albdruck befreit ist. Versicherungen, die ich den Vorzug hatte von Sir Edward Grey zu empfangen, daß er keine Gelegenheit versäumen würde, die Emanzipation der russischen Juden zu fördern, bezeichnen einen Wendepunkt in deren Geschichte, indem sie in der Tat an die Stelle windiger russischer Gerüchte eine feste politische Grundlage der Hoffnung setzen. Und dies ist nicht nur die bloße Äußerung eines Politikers in Nöten. Ich bin in der Lage zu erklären, daß es den Standpunkt der Besten englischer Anschauungen wieder¬ gibt. Mit Vertrauen appelliere ich darum an amerikanische und andere neutrale Juden, daß sie nicht den Schatten Rußlands ihre Sympathien von dieser unüberwindlichen Jusel fernhalten lassen sollen, die jetzt, wie oft zuvor, für die Menschheit kämpft, und die auch noch Nußland zivilisieren mag." Also sprach Israel Zangwill! — Wir haben in diesem Jahre, da sich der Besten in den Ländern des Westens eine bedauerliche Begriffsverwirrung bemächtigt hat, verwunderliche Dinge erlebt, aber nichts verwunderlicheres, als was hier der öffentlichen Moral zugemutet wird. In Amerika und Südafrika, sowie in Australien leben zweieinhalb bis drei Millionen von Juden, die aus Rußland flüchten mußten — wie die Eltern des Herrn Zangwill selbst. Viele von ihnen sind zu Wohlstand und Ansehen gelangt, und ihr Einfluß auf die Presse der neutralen Länder ist groß. In New Dort besonders stellen sie 25 Prozent der Wähler und bestimmen häufig den Ausgang der politischen Kämpfe. Was aber in New Dort als politisch maßgeblich gilt, ist meistens ausschlaggebend sür die politischen Kämpfe in der Union überhaupt. Man wird also ohne weiteres verstehen, daß es von hohem Werte für England ist, dieses jüdische Element in den neutralen Ländern für sich zu gewinnen, und dazu sollen nun Sympathien für eben jenes Rußland erweckt werden, aus dem die Juden der freien Länder flüchten mußten, um das nackte Leben zu retten. Sie sollen ihren Stammesgenossen zureden, auf die Seite der Entente zu treten und sollen dazu beitragen, daß sechs Millionen Juden weiter unter der russischen Knute leben, damit der „gotische Übermensch" schwinde. Damit England siege, sollen die Pogrome von Kischinew und Houel, von Kiew, Shitomir und Odessa vergessen sein. Vergessen sein soll die Schande des Ansiedlungsrayons und der Prozentnorm in den Schulen, die Ermordung ihrer Brüder und die Entehrung ihrer Schwestern. Der Schatten Rußlands, das noch eben im Belus-Prozeß sich mit allen Mitteln der Staatsgewalt bemühte, den Ritual¬ mordglauben zu pflegen und zu stärken, soll nicht die Sympathien für England beeinträchtigen. Für das England, das mit den Halbwilden des Ostens ver¬ bündet „für die Menschheit kämpft". Und das sagt Israel Zangwill! Wir Juden erinnern uns an einen Mann, der in zahllosen Versammlungen Westeuropas Worte von erbittertster Erregung, von blutigsten Hohne über das Zarentum an der Newa sprach, der alle Völker aufzustacheln versuchte, gegen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/163>, abgerufen am 15.05.2024.