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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Buch über das Wesen des Christentums hat
uns dieses besonders eindringlich nahegebracht.
Albert Schweizer kommt in seinen Unter¬
suchungen "Geschichte der Leben - Jesu - For¬
schung" (2. Aufl. Verlag von I. C, B, Mohr
in Tübingen. Preis 12 Mark, geb. 13,60
Mark) zu einem durchaus anderen Resultat.
Er faßt Jesus ganz eschatologisch auf, der
das Ende der Dinge stündlich erwartete.
Wenn aber Gottes Reich bor der Tür steht,
dann muß nach dem jüdischen Glauben, den
Jesus teilte, der Menschensohn-Messias schon
im Verborgenen auf Erden wandeln. Und
nun kam Jesus in irgendeinem Augenblick
seines Lebens zu dem Wahn, daß er zu
diesem Menschensohn bestimmt sei. Von hier
aus ist alles in seinem Leben zu verstehen,
vor allein das geheimnisvolle Verbergen
seines Messiasanspruches. Es ist klar, daß
eine eschatologische Auffassung aller Worte
Jesu es unmöglich macht, ihn als sitt¬
lich - religiöses Vorbild unmittelbar in
unsere Zeit hineinzustellen. Denn ein
Schwärmer -- und das ist er dann
-- wird nicht unsere Richtschnur werden.
Dennoch will Schweitzer nicht rein negativ
schließen. Wie Jesus sollen wir "von dem
Wollen und Hoffen auf das Reich Gottes
hin" erfüllt sein. Sein Ziel, die Welt¬
vollendung, soll neu von uns ergriffen werden,
und die religiöse Verkündigung wird größere
Ziele und größere Kraft erhalten. Mit großer
Energie wird das uns nahe gebracht.
Schweitzer bietet seine Resultate in Form
einer Geschichte der Leben-Jesu-Forschung,
deren erste Abschnitte besonders durch eine
knappe und klare Darstellung hervorragen;
die letzten Kapitel orientieren uns, vielleicht
öfter zu breit, über die neuesten Phasen der
Forschung, z. B. Jensens und Drews', bis
zum Jahre 1912. So stark ich das Buch
ablehne, so dringend empfehle ich eS zur
Lektüre. Durch den zum Teil glänzenden
deutschen Stil, durch die oft scharssinnige
Kritik, durch den temperamentvollen Ton des
Buches, der die inneren Kämpfe des Ver¬
fassers mit überlieferten Auffassungen deutlich
hindurchfühlen läßt, reißt das Buch den Leser
fort, und dann stößt es Plötzlich durch rück¬
sichtslose Polemik gegen verdiente Forscher,
z. B. Ritschl oder Jülicher, durch die scharfe

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Hervorhebung der eigenen Resultate, als ob
sie einen Wendepunkt in der Forschung be¬
deuten, ab. Jedenfalls steht hinter dem Buch
eine eigenartige, vielleicht nicht leicht zu
ertragende Persönlichkeit. Trotz aller negativen
Resultate weht durch das Buch ein starker
religiöser Zug.

Karl Beths gedankenreiches Buch "Die
Entwicklung des Christentums zur Uni¬
versalreligion" (Verlag von Quelle u. Meyer,
Leipzig. Preis S,S0 Mark, geb. 6 Mark)
führt in das Problem des Verhältnisses von
Geschichte und Religion ein, das im Mittel¬
punkte der heutigen theologischen Debatten
steht. Der orthodoxe Standpunkt kannte
eigentlich keine wirkliche Entwicklung des
Christentums, sondern nur Abfall oder Rück¬
kehr zu den Schriften des Neuen Testaments.
Die ganze theologische Arbeit bestand darin,
aus diesen Schriften, die man als inhaltlich
einheitlich saßt, "einen festen, stabilen Kodex zu
gewinnen, der für alle Zeiten absolute "Gel¬
tung" hat. Der neuere Theologe sucht,
historisch einen ewigen Kern des Christentums
aus seinen Schalen herauszufordern. Auch
dieses hält Beth für unmöglich (vgl. S. 228 ff.).
Er geht neue Wege. Eine einheitliche Formel
für das Wesen des Christentums gibt es nach
ihm nicht. Das Neue Testament zeigt schon
verschiedenartige religiöse Ausprägungen.
Selbst die Gedanken Jesu sind nichts Ein¬
deutiges, das sich nur folgerecht zu ent¬
falten braucht, um sein Wesen darzutun.
Verschiedenartige Entwicklungsmöglichkeiten
liegen von Anfang an dem Christentum zu¬
grunde. Darin liegt ein ungeheuerer Vorzug.
Denn nun konnte das Christentum in die
Kulturwelt eingehen und sich zur Kultur¬
religion entwickeln. Und so faßt er das
Christentum nicht als eine Evolution auf,
d. h. als Entfaltung einer von Anfang fix
und fertig abgeschlossenen Größe, sondern als
eine Epigenesis, d. h. "als ein Werden auf
Grund von verschiedenen Motiven, die im
Ausgangspunkt nicht enthalten waren, sondern
erst gelegentlich sich einstellen und sich geltend
machen" (S. 127). Es ergibt sich daraus,
daß wir bewußt an der Weiterbildung un¬
serer Religion, d. h. an ihrer Einigung mit
der Kultur, arbeiten müssen. Er faßt neue
Formen des Christentums ins Auge, damit

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Buch über das Wesen des Christentums hat
uns dieses besonders eindringlich nahegebracht.
Albert Schweizer kommt in seinen Unter¬
suchungen „Geschichte der Leben - Jesu - For¬
schung" (2. Aufl. Verlag von I. C, B, Mohr
in Tübingen. Preis 12 Mark, geb. 13,60
Mark) zu einem durchaus anderen Resultat.
Er faßt Jesus ganz eschatologisch auf, der
das Ende der Dinge stündlich erwartete.
Wenn aber Gottes Reich bor der Tür steht,
dann muß nach dem jüdischen Glauben, den
Jesus teilte, der Menschensohn-Messias schon
im Verborgenen auf Erden wandeln. Und
nun kam Jesus in irgendeinem Augenblick
seines Lebens zu dem Wahn, daß er zu
diesem Menschensohn bestimmt sei. Von hier
aus ist alles in seinem Leben zu verstehen,
vor allein das geheimnisvolle Verbergen
seines Messiasanspruches. Es ist klar, daß
eine eschatologische Auffassung aller Worte
Jesu es unmöglich macht, ihn als sitt¬
lich - religiöses Vorbild unmittelbar in
unsere Zeit hineinzustellen. Denn ein
Schwärmer — und das ist er dann
— wird nicht unsere Richtschnur werden.
Dennoch will Schweitzer nicht rein negativ
schließen. Wie Jesus sollen wir „von dem
Wollen und Hoffen auf das Reich Gottes
hin" erfüllt sein. Sein Ziel, die Welt¬
vollendung, soll neu von uns ergriffen werden,
und die religiöse Verkündigung wird größere
Ziele und größere Kraft erhalten. Mit großer
Energie wird das uns nahe gebracht.
Schweitzer bietet seine Resultate in Form
einer Geschichte der Leben-Jesu-Forschung,
deren erste Abschnitte besonders durch eine
knappe und klare Darstellung hervorragen;
die letzten Kapitel orientieren uns, vielleicht
öfter zu breit, über die neuesten Phasen der
Forschung, z. B. Jensens und Drews', bis
zum Jahre 1912. So stark ich das Buch
ablehne, so dringend empfehle ich eS zur
Lektüre. Durch den zum Teil glänzenden
deutschen Stil, durch die oft scharssinnige
Kritik, durch den temperamentvollen Ton des
Buches, der die inneren Kämpfe des Ver¬
fassers mit überlieferten Auffassungen deutlich
hindurchfühlen läßt, reißt das Buch den Leser
fort, und dann stößt es Plötzlich durch rück¬
sichtslose Polemik gegen verdiente Forscher,
z. B. Ritschl oder Jülicher, durch die scharfe

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Hervorhebung der eigenen Resultate, als ob
sie einen Wendepunkt in der Forschung be¬
deuten, ab. Jedenfalls steht hinter dem Buch
eine eigenartige, vielleicht nicht leicht zu
ertragende Persönlichkeit. Trotz aller negativen
Resultate weht durch das Buch ein starker
religiöser Zug.

Karl Beths gedankenreiches Buch „Die
Entwicklung des Christentums zur Uni¬
versalreligion" (Verlag von Quelle u. Meyer,
Leipzig. Preis S,S0 Mark, geb. 6 Mark)
führt in das Problem des Verhältnisses von
Geschichte und Religion ein, das im Mittel¬
punkte der heutigen theologischen Debatten
steht. Der orthodoxe Standpunkt kannte
eigentlich keine wirkliche Entwicklung des
Christentums, sondern nur Abfall oder Rück¬
kehr zu den Schriften des Neuen Testaments.
Die ganze theologische Arbeit bestand darin,
aus diesen Schriften, die man als inhaltlich
einheitlich saßt, „einen festen, stabilen Kodex zu
gewinnen, der für alle Zeiten absolute „Gel¬
tung" hat. Der neuere Theologe sucht,
historisch einen ewigen Kern des Christentums
aus seinen Schalen herauszufordern. Auch
dieses hält Beth für unmöglich (vgl. S. 228 ff.).
Er geht neue Wege. Eine einheitliche Formel
für das Wesen des Christentums gibt es nach
ihm nicht. Das Neue Testament zeigt schon
verschiedenartige religiöse Ausprägungen.
Selbst die Gedanken Jesu sind nichts Ein¬
deutiges, das sich nur folgerecht zu ent¬
falten braucht, um sein Wesen darzutun.
Verschiedenartige Entwicklungsmöglichkeiten
liegen von Anfang an dem Christentum zu¬
grunde. Darin liegt ein ungeheuerer Vorzug.
Denn nun konnte das Christentum in die
Kulturwelt eingehen und sich zur Kultur¬
religion entwickeln. Und so faßt er das
Christentum nicht als eine Evolution auf,
d. h. als Entfaltung einer von Anfang fix
und fertig abgeschlossenen Größe, sondern als
eine Epigenesis, d. h. „als ein Werden auf
Grund von verschiedenen Motiven, die im
Ausgangspunkt nicht enthalten waren, sondern
erst gelegentlich sich einstellen und sich geltend
machen" (S. 127). Es ergibt sich daraus,
daß wir bewußt an der Weiterbildung un¬
serer Religion, d. h. an ihrer Einigung mit
der Kultur, arbeiten müssen. Er faßt neue
Formen des Christentums ins Auge, damit

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[0107] Maßgebliches und Unmaßgebliches Buch über das Wesen des Christentums hat uns dieses besonders eindringlich nahegebracht. Albert Schweizer kommt in seinen Unter¬ suchungen „Geschichte der Leben - Jesu - For¬ schung" (2. Aufl. Verlag von I. C, B, Mohr in Tübingen. Preis 12 Mark, geb. 13,60 Mark) zu einem durchaus anderen Resultat. Er faßt Jesus ganz eschatologisch auf, der das Ende der Dinge stündlich erwartete. Wenn aber Gottes Reich bor der Tür steht, dann muß nach dem jüdischen Glauben, den Jesus teilte, der Menschensohn-Messias schon im Verborgenen auf Erden wandeln. Und nun kam Jesus in irgendeinem Augenblick seines Lebens zu dem Wahn, daß er zu diesem Menschensohn bestimmt sei. Von hier aus ist alles in seinem Leben zu verstehen, vor allein das geheimnisvolle Verbergen seines Messiasanspruches. Es ist klar, daß eine eschatologische Auffassung aller Worte Jesu es unmöglich macht, ihn als sitt¬ lich - religiöses Vorbild unmittelbar in unsere Zeit hineinzustellen. Denn ein Schwärmer — und das ist er dann — wird nicht unsere Richtschnur werden. Dennoch will Schweitzer nicht rein negativ schließen. Wie Jesus sollen wir „von dem Wollen und Hoffen auf das Reich Gottes hin" erfüllt sein. Sein Ziel, die Welt¬ vollendung, soll neu von uns ergriffen werden, und die religiöse Verkündigung wird größere Ziele und größere Kraft erhalten. Mit großer Energie wird das uns nahe gebracht. Schweitzer bietet seine Resultate in Form einer Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, deren erste Abschnitte besonders durch eine knappe und klare Darstellung hervorragen; die letzten Kapitel orientieren uns, vielleicht öfter zu breit, über die neuesten Phasen der Forschung, z. B. Jensens und Drews', bis zum Jahre 1912. So stark ich das Buch ablehne, so dringend empfehle ich eS zur Lektüre. Durch den zum Teil glänzenden deutschen Stil, durch die oft scharssinnige Kritik, durch den temperamentvollen Ton des Buches, der die inneren Kämpfe des Ver¬ fassers mit überlieferten Auffassungen deutlich hindurchfühlen läßt, reißt das Buch den Leser fort, und dann stößt es Plötzlich durch rück¬ sichtslose Polemik gegen verdiente Forscher, z. B. Ritschl oder Jülicher, durch die scharfe Hervorhebung der eigenen Resultate, als ob sie einen Wendepunkt in der Forschung be¬ deuten, ab. Jedenfalls steht hinter dem Buch eine eigenartige, vielleicht nicht leicht zu ertragende Persönlichkeit. Trotz aller negativen Resultate weht durch das Buch ein starker religiöser Zug. Karl Beths gedankenreiches Buch „Die Entwicklung des Christentums zur Uni¬ versalreligion" (Verlag von Quelle u. Meyer, Leipzig. Preis S,S0 Mark, geb. 6 Mark) führt in das Problem des Verhältnisses von Geschichte und Religion ein, das im Mittel¬ punkte der heutigen theologischen Debatten steht. Der orthodoxe Standpunkt kannte eigentlich keine wirkliche Entwicklung des Christentums, sondern nur Abfall oder Rück¬ kehr zu den Schriften des Neuen Testaments. Die ganze theologische Arbeit bestand darin, aus diesen Schriften, die man als inhaltlich einheitlich saßt, „einen festen, stabilen Kodex zu gewinnen, der für alle Zeiten absolute „Gel¬ tung" hat. Der neuere Theologe sucht, historisch einen ewigen Kern des Christentums aus seinen Schalen herauszufordern. Auch dieses hält Beth für unmöglich (vgl. S. 228 ff.). Er geht neue Wege. Eine einheitliche Formel für das Wesen des Christentums gibt es nach ihm nicht. Das Neue Testament zeigt schon verschiedenartige religiöse Ausprägungen. Selbst die Gedanken Jesu sind nichts Ein¬ deutiges, das sich nur folgerecht zu ent¬ falten braucht, um sein Wesen darzutun. Verschiedenartige Entwicklungsmöglichkeiten liegen von Anfang an dem Christentum zu¬ grunde. Darin liegt ein ungeheuerer Vorzug. Denn nun konnte das Christentum in die Kulturwelt eingehen und sich zur Kultur¬ religion entwickeln. Und so faßt er das Christentum nicht als eine Evolution auf, d. h. als Entfaltung einer von Anfang fix und fertig abgeschlossenen Größe, sondern als eine Epigenesis, d. h. „als ein Werden auf Grund von verschiedenen Motiven, die im Ausgangspunkt nicht enthalten waren, sondern erst gelegentlich sich einstellen und sich geltend machen" (S. 127). Es ergibt sich daraus, daß wir bewußt an der Weiterbildung un¬ serer Religion, d. h. an ihrer Einigung mit der Kultur, arbeiten müssen. Er faßt neue Formen des Christentums ins Auge, damit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/107>, abgerufen am 15.05.2024.