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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Zur neueren Goethe - Literatur

6.-- Mark. 424 Seiten.) Wir stehen heute ungefähr denselben Vorzügen,
denselben Nachteilen gegenüber. Allein für den zweiten "Faust" dasselbe zu
leisten wie für den ersten, war nicht nur weit schwieriger, sondern auch ver¬
dienstvoller. Schwieriger, weil für den ersten Teil das Werk Minors vorlag,
das meiner Ansicht nach von Traumann weder übertroffen, noch ersetzt, höchstens
im einzelnen, etwa anmerkungsweise ergänzt, vervollständigt wurde; verdienstvoller,
weil nun die in mancher Hinsicht ebenbürtige Leistung Traumanns den leider nur
bis zum Schlüsse des ersten Teiles gediehenen Minorschen Kommentar ergänzt.

Die Entstehungsgeschichte des zweiten Faust behandelt der Verfasser auf
den ersten 110 Seiten. Die Fülle der sorgfältig aneinandergereihten Angaben
zeugt von Traumanns großer Bewandertheit, von seinem gründlichen Wissen
und seiner Genauigkeit. Die Schwierigkeit einer solchen' Systematisierung des
ungeheueren historischen Stoffes darf sicherlich nicht unterschätzt werden, wenn
man sich auch die gar zu äußerliche Fassung oder Handhabung des Begriffes
"Entstehung" bei Traumann nicht aneignen möchte. Tatsächlich bietet Traumann
eher das wertvolle, wissenschaftlich einwandfrei gesichtete Material zu einer Ent¬
stehungsgeschichte des zweiten Teils, als diese selbst. Die Teile hätten wir in
der Hand, und zwar vollständiger, besser, übersichtlicher als bisher -- "fehlt
leider nur das geistige Band!" Den größeren Teil des Werkes nimmt die
eigentliche Erklärung ein, und der Verfasser hat hierin seine exegetische Be¬
gabung nicht verleugnet.

Vortrefflich ist der Aufbau der Tragödie klargelegt, die führenden Gedanken in
ihrer Kontinuität durchgehend beleuchtet, und der Sinn der einzelnen Gestalten mit
feinem Empfinden enthüllt, ohne daß der Verfasser zu unbegründeten, oder nur
persönlich begründeten Hypothesen griffe, eine Gefahr, die bekanntlich jeden
Faustforscher bedroht. Für die Mühe des Lesens wird man von Traumann
reichlich entschädigt und das will schon was heißen, denn die Mühe ist nicht
gering: an Längen der Jnhaltserzählung karge der Verfasser nicht und seiue
etwas lahme Darstellung läßt auch nicht viel urkräftiges Behagen aufkommen.
Es geht einem wie mit dem Baedeker: überaus nützlich -- und man atmet
auf. wenn man ihn beiseite legen darf. Jedoch es ist ganz gewiß der Mühe
wert und ich könnte keinem, der sich ernstlich mit Faust beschäftigen will, für
den zweiten Teil einen besseren, verläßlicheren Führer empfehlen.

Zur Faust-Literatur werden wir auch ein anderes Werk zu zählen haben,
das sich uns in diesem Zusammenhang wie eine neue, wundersam liebliche
Landschaft auftut. Man sieht sich um. späht nach Brücken, erblickt sie nicht
und weiß nicht, wie man herübergekommen, da doch nachträglich die große
Kluft zwischen dem Bisherigen und dem Neuen gar zu sichtbar ist. Die Werke
der Goethe-Literatur, die man mit Genuß und Erbauung lesen kann, sind zu
zählen und um gerecht zu sein, muß betont werden, daß zunächst meist Belehrung
ihr Ziel ist. -- nicht Genuß und Erbauung. Julius Burggraf aber ruft
uns in seinen "Goethepredigten" (Alfr. Töpelmann. Gießen. Preis 4 Mary


Zur neueren Goethe - Literatur

6.— Mark. 424 Seiten.) Wir stehen heute ungefähr denselben Vorzügen,
denselben Nachteilen gegenüber. Allein für den zweiten „Faust" dasselbe zu
leisten wie für den ersten, war nicht nur weit schwieriger, sondern auch ver¬
dienstvoller. Schwieriger, weil für den ersten Teil das Werk Minors vorlag,
das meiner Ansicht nach von Traumann weder übertroffen, noch ersetzt, höchstens
im einzelnen, etwa anmerkungsweise ergänzt, vervollständigt wurde; verdienstvoller,
weil nun die in mancher Hinsicht ebenbürtige Leistung Traumanns den leider nur
bis zum Schlüsse des ersten Teiles gediehenen Minorschen Kommentar ergänzt.

Die Entstehungsgeschichte des zweiten Faust behandelt der Verfasser auf
den ersten 110 Seiten. Die Fülle der sorgfältig aneinandergereihten Angaben
zeugt von Traumanns großer Bewandertheit, von seinem gründlichen Wissen
und seiner Genauigkeit. Die Schwierigkeit einer solchen' Systematisierung des
ungeheueren historischen Stoffes darf sicherlich nicht unterschätzt werden, wenn
man sich auch die gar zu äußerliche Fassung oder Handhabung des Begriffes
„Entstehung" bei Traumann nicht aneignen möchte. Tatsächlich bietet Traumann
eher das wertvolle, wissenschaftlich einwandfrei gesichtete Material zu einer Ent¬
stehungsgeschichte des zweiten Teils, als diese selbst. Die Teile hätten wir in
der Hand, und zwar vollständiger, besser, übersichtlicher als bisher — „fehlt
leider nur das geistige Band!" Den größeren Teil des Werkes nimmt die
eigentliche Erklärung ein, und der Verfasser hat hierin seine exegetische Be¬
gabung nicht verleugnet.

Vortrefflich ist der Aufbau der Tragödie klargelegt, die führenden Gedanken in
ihrer Kontinuität durchgehend beleuchtet, und der Sinn der einzelnen Gestalten mit
feinem Empfinden enthüllt, ohne daß der Verfasser zu unbegründeten, oder nur
persönlich begründeten Hypothesen griffe, eine Gefahr, die bekanntlich jeden
Faustforscher bedroht. Für die Mühe des Lesens wird man von Traumann
reichlich entschädigt und das will schon was heißen, denn die Mühe ist nicht
gering: an Längen der Jnhaltserzählung karge der Verfasser nicht und seiue
etwas lahme Darstellung läßt auch nicht viel urkräftiges Behagen aufkommen.
Es geht einem wie mit dem Baedeker: überaus nützlich — und man atmet
auf. wenn man ihn beiseite legen darf. Jedoch es ist ganz gewiß der Mühe
wert und ich könnte keinem, der sich ernstlich mit Faust beschäftigen will, für
den zweiten Teil einen besseren, verläßlicheren Führer empfehlen.

Zur Faust-Literatur werden wir auch ein anderes Werk zu zählen haben,
das sich uns in diesem Zusammenhang wie eine neue, wundersam liebliche
Landschaft auftut. Man sieht sich um. späht nach Brücken, erblickt sie nicht
und weiß nicht, wie man herübergekommen, da doch nachträglich die große
Kluft zwischen dem Bisherigen und dem Neuen gar zu sichtbar ist. Die Werke
der Goethe-Literatur, die man mit Genuß und Erbauung lesen kann, sind zu
zählen und um gerecht zu sein, muß betont werden, daß zunächst meist Belehrung
ihr Ziel ist. — nicht Genuß und Erbauung. Julius Burggraf aber ruft
uns in seinen „Goethepredigten" (Alfr. Töpelmann. Gießen. Preis 4 Mary


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[0131] Zur neueren Goethe - Literatur 6.— Mark. 424 Seiten.) Wir stehen heute ungefähr denselben Vorzügen, denselben Nachteilen gegenüber. Allein für den zweiten „Faust" dasselbe zu leisten wie für den ersten, war nicht nur weit schwieriger, sondern auch ver¬ dienstvoller. Schwieriger, weil für den ersten Teil das Werk Minors vorlag, das meiner Ansicht nach von Traumann weder übertroffen, noch ersetzt, höchstens im einzelnen, etwa anmerkungsweise ergänzt, vervollständigt wurde; verdienstvoller, weil nun die in mancher Hinsicht ebenbürtige Leistung Traumanns den leider nur bis zum Schlüsse des ersten Teiles gediehenen Minorschen Kommentar ergänzt. Die Entstehungsgeschichte des zweiten Faust behandelt der Verfasser auf den ersten 110 Seiten. Die Fülle der sorgfältig aneinandergereihten Angaben zeugt von Traumanns großer Bewandertheit, von seinem gründlichen Wissen und seiner Genauigkeit. Die Schwierigkeit einer solchen' Systematisierung des ungeheueren historischen Stoffes darf sicherlich nicht unterschätzt werden, wenn man sich auch die gar zu äußerliche Fassung oder Handhabung des Begriffes „Entstehung" bei Traumann nicht aneignen möchte. Tatsächlich bietet Traumann eher das wertvolle, wissenschaftlich einwandfrei gesichtete Material zu einer Ent¬ stehungsgeschichte des zweiten Teils, als diese selbst. Die Teile hätten wir in der Hand, und zwar vollständiger, besser, übersichtlicher als bisher — „fehlt leider nur das geistige Band!" Den größeren Teil des Werkes nimmt die eigentliche Erklärung ein, und der Verfasser hat hierin seine exegetische Be¬ gabung nicht verleugnet. Vortrefflich ist der Aufbau der Tragödie klargelegt, die führenden Gedanken in ihrer Kontinuität durchgehend beleuchtet, und der Sinn der einzelnen Gestalten mit feinem Empfinden enthüllt, ohne daß der Verfasser zu unbegründeten, oder nur persönlich begründeten Hypothesen griffe, eine Gefahr, die bekanntlich jeden Faustforscher bedroht. Für die Mühe des Lesens wird man von Traumann reichlich entschädigt und das will schon was heißen, denn die Mühe ist nicht gering: an Längen der Jnhaltserzählung karge der Verfasser nicht und seiue etwas lahme Darstellung läßt auch nicht viel urkräftiges Behagen aufkommen. Es geht einem wie mit dem Baedeker: überaus nützlich — und man atmet auf. wenn man ihn beiseite legen darf. Jedoch es ist ganz gewiß der Mühe wert und ich könnte keinem, der sich ernstlich mit Faust beschäftigen will, für den zweiten Teil einen besseren, verläßlicheren Führer empfehlen. Zur Faust-Literatur werden wir auch ein anderes Werk zu zählen haben, das sich uns in diesem Zusammenhang wie eine neue, wundersam liebliche Landschaft auftut. Man sieht sich um. späht nach Brücken, erblickt sie nicht und weiß nicht, wie man herübergekommen, da doch nachträglich die große Kluft zwischen dem Bisherigen und dem Neuen gar zu sichtbar ist. Die Werke der Goethe-Literatur, die man mit Genuß und Erbauung lesen kann, sind zu zählen und um gerecht zu sein, muß betont werden, daß zunächst meist Belehrung ihr Ziel ist. — nicht Genuß und Erbauung. Julius Burggraf aber ruft uns in seinen „Goethepredigten" (Alfr. Töpelmann. Gießen. Preis 4 Mary

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/131>, abgerufen am 15.05.2024.