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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Zur neueren Goethe-Literatur

und Prometheus, Halle a. S. bei Max Niemeyer, 1914). Obschon er durchaus
innerhalb der Grenzen einer SpezialUntersuchung bleibt und methodische Fragen
unmittelbar kaum berührt, auch streng philologisch im Sinne des Einzelfalles
verfährt, zwingt er den Leser dennoch wie wenige, nachzudenken, sowohl über
Verfassung und Beschaffenheit der deutschen Literaturwissenschaft überhaupt, wie
über die allgemeinsten methodologischen Grundfragen dieses Faches im besonderen.
Wir missen alle, daß die Germanistik einer tiefgehenden Wandlung entgegensieht.
Es ist wie ein Blick, den man in die Zukunft tun darf, wenn man inmitten
der vielen grauen Gesichter die markanten Züge eines Gelehrten erblickt, der
vor allem Mensch ist und Menschen bildet nach seinem Bilde. Was die Schwere
der wissenschaftlichen Rüstung, die Vollständigkeit der verwendeten Quellen und
die kritische Genauigkeit ihrer Handhabung anbelangt, so steht Saran keinem
nach. Dennoch hat das Buch einen gerechten Anspruch auf die Beachtung der
weiteren Kreise aller derer, für die Goethe eine niemals endgültig zu beant¬
wortende Lebensfrage bleibt, wes Berufes sie auch sein mögen. Dieser Anspruch
liegt nicht verankert in der äußeren Gefälligkeit der Darstellung -- es wäre
Schmeichelei, Saran diesen "Vorwurf" zu machen --, oder auch nicht in einer
bloßen Mannigfaltigkeit, die vom Grundsatz ausginge, "wer vieles bringt, wird
manchem etwas bieten", sondern in der entschlossenen und restlosen Durchführung
einer streng wissenschaftlichen Methode, die aber keinem Vorgänger auf der
Schulbank abgeguckt wurde, sondern als der vergeistigte Ausdruck eines Charakters
vor uns steht und eines Mannes, der mit klammernden Organen das Leben
erfaßt hat und seine Wissenschaft vor allem aus dieser Quelle nährt.

Im Gegensatz zum überwiegenden Teil unserer Goetheforschung rückt Saran
das Werk selbst in die Mitte der Betrachtung. Aus den Werken selbst, aus
ihren, methodisch herausgearbeiteten und in den Zeitzusammenhang eingestellten
Gedankeninhalt schöpft er in erster Linie jede Erklärung, während alles Bio¬
graphische, alles von außen Herankommende erst in zweiter Linie herangezogen
wird. Der Weg, auf dem dies im vorliegenden Falle der Mahomet- und
Prometheus-Fragmente möglich war, war ein theologischer, religionsgeschicht¬
licher. Ich zweifle nicht daran, daß Saran mit derselben Freiheit in einem
anderen Falle den wirtschaftspolitischen oder naturwissenschaftlichen Weg gehen
würde, wenn die Natur des Problems ihm diesen Weg deutete, in jedem Falle
aber wird ihm die papierne Wand der Fakultät nicht standhalten. Die beiden
Fragmente, die so oft behandelt und so wenig verstanden, mit Recht als die
intimsten Offenbarungen des jungen, in der religiösen Wandlung begriffenen
Goethe vor uns stehen, erklärt uns Saran als die Frucht der Auseinander¬
setzung Goethes mit dem orthodoxen Christentum seiner Freunde und ihren
Bekehrungsversuchen einerseits, mit der rationalistischen Weltanschauung ander¬
seits. Unbeirrt von dem Namen Prometheus und Mahomet, führt uns eine
scharse Sichtung und eine für die vorliegenden Fragmente bisher unerreichte
Systematik des gedanklichen Inhalts auf eine innerlich begründete Stoffgeschichte.


Zur neueren Goethe-Literatur

und Prometheus, Halle a. S. bei Max Niemeyer, 1914). Obschon er durchaus
innerhalb der Grenzen einer SpezialUntersuchung bleibt und methodische Fragen
unmittelbar kaum berührt, auch streng philologisch im Sinne des Einzelfalles
verfährt, zwingt er den Leser dennoch wie wenige, nachzudenken, sowohl über
Verfassung und Beschaffenheit der deutschen Literaturwissenschaft überhaupt, wie
über die allgemeinsten methodologischen Grundfragen dieses Faches im besonderen.
Wir missen alle, daß die Germanistik einer tiefgehenden Wandlung entgegensieht.
Es ist wie ein Blick, den man in die Zukunft tun darf, wenn man inmitten
der vielen grauen Gesichter die markanten Züge eines Gelehrten erblickt, der
vor allem Mensch ist und Menschen bildet nach seinem Bilde. Was die Schwere
der wissenschaftlichen Rüstung, die Vollständigkeit der verwendeten Quellen und
die kritische Genauigkeit ihrer Handhabung anbelangt, so steht Saran keinem
nach. Dennoch hat das Buch einen gerechten Anspruch auf die Beachtung der
weiteren Kreise aller derer, für die Goethe eine niemals endgültig zu beant¬
wortende Lebensfrage bleibt, wes Berufes sie auch sein mögen. Dieser Anspruch
liegt nicht verankert in der äußeren Gefälligkeit der Darstellung — es wäre
Schmeichelei, Saran diesen „Vorwurf" zu machen —, oder auch nicht in einer
bloßen Mannigfaltigkeit, die vom Grundsatz ausginge, „wer vieles bringt, wird
manchem etwas bieten", sondern in der entschlossenen und restlosen Durchführung
einer streng wissenschaftlichen Methode, die aber keinem Vorgänger auf der
Schulbank abgeguckt wurde, sondern als der vergeistigte Ausdruck eines Charakters
vor uns steht und eines Mannes, der mit klammernden Organen das Leben
erfaßt hat und seine Wissenschaft vor allem aus dieser Quelle nährt.

Im Gegensatz zum überwiegenden Teil unserer Goetheforschung rückt Saran
das Werk selbst in die Mitte der Betrachtung. Aus den Werken selbst, aus
ihren, methodisch herausgearbeiteten und in den Zeitzusammenhang eingestellten
Gedankeninhalt schöpft er in erster Linie jede Erklärung, während alles Bio¬
graphische, alles von außen Herankommende erst in zweiter Linie herangezogen
wird. Der Weg, auf dem dies im vorliegenden Falle der Mahomet- und
Prometheus-Fragmente möglich war, war ein theologischer, religionsgeschicht¬
licher. Ich zweifle nicht daran, daß Saran mit derselben Freiheit in einem
anderen Falle den wirtschaftspolitischen oder naturwissenschaftlichen Weg gehen
würde, wenn die Natur des Problems ihm diesen Weg deutete, in jedem Falle
aber wird ihm die papierne Wand der Fakultät nicht standhalten. Die beiden
Fragmente, die so oft behandelt und so wenig verstanden, mit Recht als die
intimsten Offenbarungen des jungen, in der religiösen Wandlung begriffenen
Goethe vor uns stehen, erklärt uns Saran als die Frucht der Auseinander¬
setzung Goethes mit dem orthodoxen Christentum seiner Freunde und ihren
Bekehrungsversuchen einerseits, mit der rationalistischen Weltanschauung ander¬
seits. Unbeirrt von dem Namen Prometheus und Mahomet, führt uns eine
scharse Sichtung und eine für die vorliegenden Fragmente bisher unerreichte
Systematik des gedanklichen Inhalts auf eine innerlich begründete Stoffgeschichte.


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[0133] Zur neueren Goethe-Literatur und Prometheus, Halle a. S. bei Max Niemeyer, 1914). Obschon er durchaus innerhalb der Grenzen einer SpezialUntersuchung bleibt und methodische Fragen unmittelbar kaum berührt, auch streng philologisch im Sinne des Einzelfalles verfährt, zwingt er den Leser dennoch wie wenige, nachzudenken, sowohl über Verfassung und Beschaffenheit der deutschen Literaturwissenschaft überhaupt, wie über die allgemeinsten methodologischen Grundfragen dieses Faches im besonderen. Wir missen alle, daß die Germanistik einer tiefgehenden Wandlung entgegensieht. Es ist wie ein Blick, den man in die Zukunft tun darf, wenn man inmitten der vielen grauen Gesichter die markanten Züge eines Gelehrten erblickt, der vor allem Mensch ist und Menschen bildet nach seinem Bilde. Was die Schwere der wissenschaftlichen Rüstung, die Vollständigkeit der verwendeten Quellen und die kritische Genauigkeit ihrer Handhabung anbelangt, so steht Saran keinem nach. Dennoch hat das Buch einen gerechten Anspruch auf die Beachtung der weiteren Kreise aller derer, für die Goethe eine niemals endgültig zu beant¬ wortende Lebensfrage bleibt, wes Berufes sie auch sein mögen. Dieser Anspruch liegt nicht verankert in der äußeren Gefälligkeit der Darstellung — es wäre Schmeichelei, Saran diesen „Vorwurf" zu machen —, oder auch nicht in einer bloßen Mannigfaltigkeit, die vom Grundsatz ausginge, „wer vieles bringt, wird manchem etwas bieten", sondern in der entschlossenen und restlosen Durchführung einer streng wissenschaftlichen Methode, die aber keinem Vorgänger auf der Schulbank abgeguckt wurde, sondern als der vergeistigte Ausdruck eines Charakters vor uns steht und eines Mannes, der mit klammernden Organen das Leben erfaßt hat und seine Wissenschaft vor allem aus dieser Quelle nährt. Im Gegensatz zum überwiegenden Teil unserer Goetheforschung rückt Saran das Werk selbst in die Mitte der Betrachtung. Aus den Werken selbst, aus ihren, methodisch herausgearbeiteten und in den Zeitzusammenhang eingestellten Gedankeninhalt schöpft er in erster Linie jede Erklärung, während alles Bio¬ graphische, alles von außen Herankommende erst in zweiter Linie herangezogen wird. Der Weg, auf dem dies im vorliegenden Falle der Mahomet- und Prometheus-Fragmente möglich war, war ein theologischer, religionsgeschicht¬ licher. Ich zweifle nicht daran, daß Saran mit derselben Freiheit in einem anderen Falle den wirtschaftspolitischen oder naturwissenschaftlichen Weg gehen würde, wenn die Natur des Problems ihm diesen Weg deutete, in jedem Falle aber wird ihm die papierne Wand der Fakultät nicht standhalten. Die beiden Fragmente, die so oft behandelt und so wenig verstanden, mit Recht als die intimsten Offenbarungen des jungen, in der religiösen Wandlung begriffenen Goethe vor uns stehen, erklärt uns Saran als die Frucht der Auseinander¬ setzung Goethes mit dem orthodoxen Christentum seiner Freunde und ihren Bekehrungsversuchen einerseits, mit der rationalistischen Weltanschauung ander¬ seits. Unbeirrt von dem Namen Prometheus und Mahomet, führt uns eine scharse Sichtung und eine für die vorliegenden Fragmente bisher unerreichte Systematik des gedanklichen Inhalts auf eine innerlich begründete Stoffgeschichte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/133>, abgerufen am 10.06.2024.