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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Belgiens Neutralität zg-o

französischen Wünsche nicht ein. Gramont sah sich gezwungen, dem englischen
Projekte seine Zustimmung zu geben und auf diese Weise der vorausgegangenen
moralischen Niederlage eine diplomatische hinzuzufügen. Am 9. August unter¬
zeichnete Granville den Vertrag mit Bernstorff. am 11. August mit La Valette,
dem Botschafter Frankreichs in London.

Der Rückblick auf das Schicksal der belgischen Neutralität 1870 ruft die
Frage hervor, von welcher Bedeutung die diplomatische Lösung dieser Verwick¬
lungen für die beiden kriegführenden Staaten gewesen sei. Eine unmittelbare
militärische Bedeutung enthielt das Abkommen mit England für keinen der
beiden Gegner. Napoleons Kriegsplan zielte allein auf einen schnellen Vorstoß,
nach Süddeutschland, in der Hoffnung, daß nach einigen französischen Siegen
die süddeutschen Staaten an seine Seite treten und sich gegen Preußen und den
Norddeutschen Bund wenden würden. Der preußische Generalstabsplan war
durch das gleiche Interesse an dem Anschluß Süddeutschlands und durch den
Gedanken gemeinsamer Operationen gegen Frankreich bestimmt. Die erneute
Garantie der belgischen Neutralität bewahrte Preußen zugleich vor einer Zer¬
splitterung seiner militärischen Kräfte. Dies mußte ihm um so willkommener
sein, als es sich bei Beginn des Krieges von der Gefahr bedroht sah, an zwei
Fronten kämpfen zu müssen, wenn Österreich und Italien ihre schwankende
Haltung aufgaben und zu Frankreichs Gunsten in den Kampf eingrtffen.

Der eigentliche Wert des Vertrages vom 9. und 11. August 1370 konnte
sich jedoch erst zeigen, wenn Napoleon nach preußischen Niederlagen daran
gehen würde, sich Belgiens zu bemächtigen. Dann mußte sich in England für
Napoleon ein zweiter Gegner, für Preußen ein wertvoller Bundesgenosse er¬
heben. Bismarck gab mit der Veröffentlichung des Aktenstückes in der Times
den ersten Anstoß zu dieser Gruppierung der Mächte. Er erfüllte dadurch die
Aufgabe des Diplomaten und Staatsmannes, die darin besteht, ungünstigen
militärischen Ereignissen, die im Bereich der Möglichkeit liegen, durch diploma¬
tische Maßnahmen im voraus entgegenzuarbeiten.




Belgiens Neutralität zg-o

französischen Wünsche nicht ein. Gramont sah sich gezwungen, dem englischen
Projekte seine Zustimmung zu geben und auf diese Weise der vorausgegangenen
moralischen Niederlage eine diplomatische hinzuzufügen. Am 9. August unter¬
zeichnete Granville den Vertrag mit Bernstorff. am 11. August mit La Valette,
dem Botschafter Frankreichs in London.

Der Rückblick auf das Schicksal der belgischen Neutralität 1870 ruft die
Frage hervor, von welcher Bedeutung die diplomatische Lösung dieser Verwick¬
lungen für die beiden kriegführenden Staaten gewesen sei. Eine unmittelbare
militärische Bedeutung enthielt das Abkommen mit England für keinen der
beiden Gegner. Napoleons Kriegsplan zielte allein auf einen schnellen Vorstoß,
nach Süddeutschland, in der Hoffnung, daß nach einigen französischen Siegen
die süddeutschen Staaten an seine Seite treten und sich gegen Preußen und den
Norddeutschen Bund wenden würden. Der preußische Generalstabsplan war
durch das gleiche Interesse an dem Anschluß Süddeutschlands und durch den
Gedanken gemeinsamer Operationen gegen Frankreich bestimmt. Die erneute
Garantie der belgischen Neutralität bewahrte Preußen zugleich vor einer Zer¬
splitterung seiner militärischen Kräfte. Dies mußte ihm um so willkommener
sein, als es sich bei Beginn des Krieges von der Gefahr bedroht sah, an zwei
Fronten kämpfen zu müssen, wenn Österreich und Italien ihre schwankende
Haltung aufgaben und zu Frankreichs Gunsten in den Kampf eingrtffen.

Der eigentliche Wert des Vertrages vom 9. und 11. August 1370 konnte
sich jedoch erst zeigen, wenn Napoleon nach preußischen Niederlagen daran
gehen würde, sich Belgiens zu bemächtigen. Dann mußte sich in England für
Napoleon ein zweiter Gegner, für Preußen ein wertvoller Bundesgenosse er¬
heben. Bismarck gab mit der Veröffentlichung des Aktenstückes in der Times
den ersten Anstoß zu dieser Gruppierung der Mächte. Er erfüllte dadurch die
Aufgabe des Diplomaten und Staatsmannes, die darin besteht, ungünstigen
militärischen Ereignissen, die im Bereich der Möglichkeit liegen, durch diploma¬
tische Maßnahmen im voraus entgegenzuarbeiten.




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[0146] Belgiens Neutralität zg-o französischen Wünsche nicht ein. Gramont sah sich gezwungen, dem englischen Projekte seine Zustimmung zu geben und auf diese Weise der vorausgegangenen moralischen Niederlage eine diplomatische hinzuzufügen. Am 9. August unter¬ zeichnete Granville den Vertrag mit Bernstorff. am 11. August mit La Valette, dem Botschafter Frankreichs in London. Der Rückblick auf das Schicksal der belgischen Neutralität 1870 ruft die Frage hervor, von welcher Bedeutung die diplomatische Lösung dieser Verwick¬ lungen für die beiden kriegführenden Staaten gewesen sei. Eine unmittelbare militärische Bedeutung enthielt das Abkommen mit England für keinen der beiden Gegner. Napoleons Kriegsplan zielte allein auf einen schnellen Vorstoß, nach Süddeutschland, in der Hoffnung, daß nach einigen französischen Siegen die süddeutschen Staaten an seine Seite treten und sich gegen Preußen und den Norddeutschen Bund wenden würden. Der preußische Generalstabsplan war durch das gleiche Interesse an dem Anschluß Süddeutschlands und durch den Gedanken gemeinsamer Operationen gegen Frankreich bestimmt. Die erneute Garantie der belgischen Neutralität bewahrte Preußen zugleich vor einer Zer¬ splitterung seiner militärischen Kräfte. Dies mußte ihm um so willkommener sein, als es sich bei Beginn des Krieges von der Gefahr bedroht sah, an zwei Fronten kämpfen zu müssen, wenn Österreich und Italien ihre schwankende Haltung aufgaben und zu Frankreichs Gunsten in den Kampf eingrtffen. Der eigentliche Wert des Vertrages vom 9. und 11. August 1370 konnte sich jedoch erst zeigen, wenn Napoleon nach preußischen Niederlagen daran gehen würde, sich Belgiens zu bemächtigen. Dann mußte sich in England für Napoleon ein zweiter Gegner, für Preußen ein wertvoller Bundesgenosse er¬ heben. Bismarck gab mit der Veröffentlichung des Aktenstückes in der Times den ersten Anstoß zu dieser Gruppierung der Mächte. Er erfüllte dadurch die Aufgabe des Diplomaten und Staatsmannes, die darin besteht, ungünstigen militärischen Ereignissen, die im Bereich der Möglichkeit liegen, durch diploma¬ tische Maßnahmen im voraus entgegenzuarbeiten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/146>, abgerufen am 15.05.2024.