Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Ultima ratio reZis

die Staaten als über die letzten Machtfaktoren hinausgreifen, werden nur solange
erfüllt, als es im Belieben dieser Staaten steht, d. h. als es in ihrem Nutzen
liegt. Das Individuum hat das Recht, lieber zugrunde zu gehen, als das
gegebene Wort zu verletzen, lieber sich selbst zu vernichten als das Sittengesetz.
Der Staat, als ein Kollektivwesen, hat dieses Recht nicht. Für ihn ist die höchste
und einzige Ethik Selbsterhaltung, und kein Staatsmann oder Feldherr dürfte
die Verantwortung auf sich nehmen, um einer Abmachung oder um der Humanität
willen den Bestand seines Staates zu gefährden. Es ist schwer, dieses einzusehen,
wenn die Konsequenz gegen den eigenen Staat gerichtet ist.

Auf derselben Stufe stehen die immer wieder auftauchenden Versuche einer
vertragsmäßigen Einschränkung der internationalen Rüstungen. Wenn in einem
Kriege nicht die wirkliche Macht zweier Staaten sich gegenüber steht, sondern
eine auf Grund von Verabredungen willkürlich beschränkte, so herrscht hier nicht
die Gewalt, sondern das Gesetz, und es ist nicht einzusehen, warum die Ver¬
abredung sich mit einer Reduzierung der Kriegsmacht um ein Viertel oder um
die Hälfte begnügen soll. Wird schon verabredet, so kann man die Entscheidung
ebensogut einem Zweikampf oder einer Schachpartie oder dem Lose übergeben.
Dies geht, solange man mit Verträgen auskommt; aber solange das der Fall
ist, gibt es überhaupt keinen Kampf, sondern eben Verhandlung und Abmachung.
Krieg aber heißt, daß kein anderes Mittel mehr da ist, den Streit zu schlichten als der
Zwang durch brutale Gewalt. Krieg heißt Aufhebung aller Verträge; ohne das
wäre der Krieg nicht ausgebrochen. Es ist daher auch ein Denkfehler, im
Frieden über zu schwere Militärlasten zu klagen. Militärlasten sind immer zu
schwer, d. h. sie sind immer an der Grenze des Möglichen. Was würde der
Hund zum Hasen sagen, der ihm zuriefe: "Einen Augenblick, ich bin außer Atem!" ?




Es kann kein Zweifel sein, und wir haben es an Beispielen gezeigt, daß
die Macht des Staates, insofern sie auf Gewalt beruht, darin besteht, daß er
imstande ist, wirtschaftlich oder persönlich Schaden zuzufügen oder des Lebens
zu berauben. Die Staatsgewalt hängt an der menschlichen Tatsache, daß die
Leute sich davor fürchten. Soweit das nicht der Fall ist. soweit der einzelne
bereit ist, jeden Schaden an Gut, Freiheit und Gesundheit, und schließlich den
Tod auf sich zu nehmen, ist der Staat ihm gegenüber machtlos.

Nun besteht aber diese Gleichgültigkeit gegen Schädigung und Vernichtung
tatsächlich in den Heeren, und die Gewalt meines Staates endet daher am
feindlichen Heer, wie seine Gewalt an dem meinen. Die Macht unseres Heeres
besteht in der Todesfurcht des Gegners, oder sogar schon in seiner Sterblichkeit.
Wenn der Feind sich vor unseren Geschossen fürchtet, so wird er davonlaufen;
wenn er sich nicht fürchtet und ohne Rücksicht auf seine Verluste gegen unsere
Stellungen anstürmt, so kann er aufgerieben werden. Der Effekt ist derselbe.
Was beim Soldaten Todesfurcht heißt, ist bei der Führung Vorsicht und Taktik.


Ultima ratio reZis

die Staaten als über die letzten Machtfaktoren hinausgreifen, werden nur solange
erfüllt, als es im Belieben dieser Staaten steht, d. h. als es in ihrem Nutzen
liegt. Das Individuum hat das Recht, lieber zugrunde zu gehen, als das
gegebene Wort zu verletzen, lieber sich selbst zu vernichten als das Sittengesetz.
Der Staat, als ein Kollektivwesen, hat dieses Recht nicht. Für ihn ist die höchste
und einzige Ethik Selbsterhaltung, und kein Staatsmann oder Feldherr dürfte
die Verantwortung auf sich nehmen, um einer Abmachung oder um der Humanität
willen den Bestand seines Staates zu gefährden. Es ist schwer, dieses einzusehen,
wenn die Konsequenz gegen den eigenen Staat gerichtet ist.

Auf derselben Stufe stehen die immer wieder auftauchenden Versuche einer
vertragsmäßigen Einschränkung der internationalen Rüstungen. Wenn in einem
Kriege nicht die wirkliche Macht zweier Staaten sich gegenüber steht, sondern
eine auf Grund von Verabredungen willkürlich beschränkte, so herrscht hier nicht
die Gewalt, sondern das Gesetz, und es ist nicht einzusehen, warum die Ver¬
abredung sich mit einer Reduzierung der Kriegsmacht um ein Viertel oder um
die Hälfte begnügen soll. Wird schon verabredet, so kann man die Entscheidung
ebensogut einem Zweikampf oder einer Schachpartie oder dem Lose übergeben.
Dies geht, solange man mit Verträgen auskommt; aber solange das der Fall
ist, gibt es überhaupt keinen Kampf, sondern eben Verhandlung und Abmachung.
Krieg aber heißt, daß kein anderes Mittel mehr da ist, den Streit zu schlichten als der
Zwang durch brutale Gewalt. Krieg heißt Aufhebung aller Verträge; ohne das
wäre der Krieg nicht ausgebrochen. Es ist daher auch ein Denkfehler, im
Frieden über zu schwere Militärlasten zu klagen. Militärlasten sind immer zu
schwer, d. h. sie sind immer an der Grenze des Möglichen. Was würde der
Hund zum Hasen sagen, der ihm zuriefe: „Einen Augenblick, ich bin außer Atem!" ?




Es kann kein Zweifel sein, und wir haben es an Beispielen gezeigt, daß
die Macht des Staates, insofern sie auf Gewalt beruht, darin besteht, daß er
imstande ist, wirtschaftlich oder persönlich Schaden zuzufügen oder des Lebens
zu berauben. Die Staatsgewalt hängt an der menschlichen Tatsache, daß die
Leute sich davor fürchten. Soweit das nicht der Fall ist. soweit der einzelne
bereit ist, jeden Schaden an Gut, Freiheit und Gesundheit, und schließlich den
Tod auf sich zu nehmen, ist der Staat ihm gegenüber machtlos.

Nun besteht aber diese Gleichgültigkeit gegen Schädigung und Vernichtung
tatsächlich in den Heeren, und die Gewalt meines Staates endet daher am
feindlichen Heer, wie seine Gewalt an dem meinen. Die Macht unseres Heeres
besteht in der Todesfurcht des Gegners, oder sogar schon in seiner Sterblichkeit.
Wenn der Feind sich vor unseren Geschossen fürchtet, so wird er davonlaufen;
wenn er sich nicht fürchtet und ohne Rücksicht auf seine Verluste gegen unsere
Stellungen anstürmt, so kann er aufgerieben werden. Der Effekt ist derselbe.
Was beim Soldaten Todesfurcht heißt, ist bei der Führung Vorsicht und Taktik.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0156" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/323253"/>
          <fw type="header" place="top"> Ultima ratio reZis</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_457" prev="#ID_456"> die Staaten als über die letzten Machtfaktoren hinausgreifen, werden nur solange<lb/>
erfüllt, als es im Belieben dieser Staaten steht, d. h. als es in ihrem Nutzen<lb/>
liegt. Das Individuum hat das Recht, lieber zugrunde zu gehen, als das<lb/>
gegebene Wort zu verletzen, lieber sich selbst zu vernichten als das Sittengesetz.<lb/>
Der Staat, als ein Kollektivwesen, hat dieses Recht nicht. Für ihn ist die höchste<lb/>
und einzige Ethik Selbsterhaltung, und kein Staatsmann oder Feldherr dürfte<lb/>
die Verantwortung auf sich nehmen, um einer Abmachung oder um der Humanität<lb/>
willen den Bestand seines Staates zu gefährden. Es ist schwer, dieses einzusehen,<lb/>
wenn die Konsequenz gegen den eigenen Staat gerichtet ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_458"> Auf derselben Stufe stehen die immer wieder auftauchenden Versuche einer<lb/>
vertragsmäßigen Einschränkung der internationalen Rüstungen. Wenn in einem<lb/>
Kriege nicht die wirkliche Macht zweier Staaten sich gegenüber steht, sondern<lb/>
eine auf Grund von Verabredungen willkürlich beschränkte, so herrscht hier nicht<lb/>
die Gewalt, sondern das Gesetz, und es ist nicht einzusehen, warum die Ver¬<lb/>
abredung sich mit einer Reduzierung der Kriegsmacht um ein Viertel oder um<lb/>
die Hälfte begnügen soll. Wird schon verabredet, so kann man die Entscheidung<lb/>
ebensogut einem Zweikampf oder einer Schachpartie oder dem Lose übergeben.<lb/>
Dies geht, solange man mit Verträgen auskommt; aber solange das der Fall<lb/>
ist, gibt es überhaupt keinen Kampf, sondern eben Verhandlung und Abmachung.<lb/>
Krieg aber heißt, daß kein anderes Mittel mehr da ist, den Streit zu schlichten als der<lb/>
Zwang durch brutale Gewalt. Krieg heißt Aufhebung aller Verträge; ohne das<lb/>
wäre der Krieg nicht ausgebrochen. Es ist daher auch ein Denkfehler, im<lb/>
Frieden über zu schwere Militärlasten zu klagen. Militärlasten sind immer zu<lb/>
schwer, d. h. sie sind immer an der Grenze des Möglichen. Was würde der<lb/>
Hund zum Hasen sagen, der ihm zuriefe: &#x201E;Einen Augenblick, ich bin außer Atem!" ?</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p xml:id="ID_459"> Es kann kein Zweifel sein, und wir haben es an Beispielen gezeigt, daß<lb/>
die Macht des Staates, insofern sie auf Gewalt beruht, darin besteht, daß er<lb/>
imstande ist, wirtschaftlich oder persönlich Schaden zuzufügen oder des Lebens<lb/>
zu berauben. Die Staatsgewalt hängt an der menschlichen Tatsache, daß die<lb/>
Leute sich davor fürchten. Soweit das nicht der Fall ist. soweit der einzelne<lb/>
bereit ist, jeden Schaden an Gut, Freiheit und Gesundheit, und schließlich den<lb/>
Tod auf sich zu nehmen, ist der Staat ihm gegenüber machtlos.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_460"> Nun besteht aber diese Gleichgültigkeit gegen Schädigung und Vernichtung<lb/>
tatsächlich in den Heeren, und die Gewalt meines Staates endet daher am<lb/>
feindlichen Heer, wie seine Gewalt an dem meinen. Die Macht unseres Heeres<lb/>
besteht in der Todesfurcht des Gegners, oder sogar schon in seiner Sterblichkeit.<lb/>
Wenn der Feind sich vor unseren Geschossen fürchtet, so wird er davonlaufen;<lb/>
wenn er sich nicht fürchtet und ohne Rücksicht auf seine Verluste gegen unsere<lb/>
Stellungen anstürmt, so kann er aufgerieben werden. Der Effekt ist derselbe.<lb/>
Was beim Soldaten Todesfurcht heißt, ist bei der Führung Vorsicht und Taktik.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0156] Ultima ratio reZis die Staaten als über die letzten Machtfaktoren hinausgreifen, werden nur solange erfüllt, als es im Belieben dieser Staaten steht, d. h. als es in ihrem Nutzen liegt. Das Individuum hat das Recht, lieber zugrunde zu gehen, als das gegebene Wort zu verletzen, lieber sich selbst zu vernichten als das Sittengesetz. Der Staat, als ein Kollektivwesen, hat dieses Recht nicht. Für ihn ist die höchste und einzige Ethik Selbsterhaltung, und kein Staatsmann oder Feldherr dürfte die Verantwortung auf sich nehmen, um einer Abmachung oder um der Humanität willen den Bestand seines Staates zu gefährden. Es ist schwer, dieses einzusehen, wenn die Konsequenz gegen den eigenen Staat gerichtet ist. Auf derselben Stufe stehen die immer wieder auftauchenden Versuche einer vertragsmäßigen Einschränkung der internationalen Rüstungen. Wenn in einem Kriege nicht die wirkliche Macht zweier Staaten sich gegenüber steht, sondern eine auf Grund von Verabredungen willkürlich beschränkte, so herrscht hier nicht die Gewalt, sondern das Gesetz, und es ist nicht einzusehen, warum die Ver¬ abredung sich mit einer Reduzierung der Kriegsmacht um ein Viertel oder um die Hälfte begnügen soll. Wird schon verabredet, so kann man die Entscheidung ebensogut einem Zweikampf oder einer Schachpartie oder dem Lose übergeben. Dies geht, solange man mit Verträgen auskommt; aber solange das der Fall ist, gibt es überhaupt keinen Kampf, sondern eben Verhandlung und Abmachung. Krieg aber heißt, daß kein anderes Mittel mehr da ist, den Streit zu schlichten als der Zwang durch brutale Gewalt. Krieg heißt Aufhebung aller Verträge; ohne das wäre der Krieg nicht ausgebrochen. Es ist daher auch ein Denkfehler, im Frieden über zu schwere Militärlasten zu klagen. Militärlasten sind immer zu schwer, d. h. sie sind immer an der Grenze des Möglichen. Was würde der Hund zum Hasen sagen, der ihm zuriefe: „Einen Augenblick, ich bin außer Atem!" ? Es kann kein Zweifel sein, und wir haben es an Beispielen gezeigt, daß die Macht des Staates, insofern sie auf Gewalt beruht, darin besteht, daß er imstande ist, wirtschaftlich oder persönlich Schaden zuzufügen oder des Lebens zu berauben. Die Staatsgewalt hängt an der menschlichen Tatsache, daß die Leute sich davor fürchten. Soweit das nicht der Fall ist. soweit der einzelne bereit ist, jeden Schaden an Gut, Freiheit und Gesundheit, und schließlich den Tod auf sich zu nehmen, ist der Staat ihm gegenüber machtlos. Nun besteht aber diese Gleichgültigkeit gegen Schädigung und Vernichtung tatsächlich in den Heeren, und die Gewalt meines Staates endet daher am feindlichen Heer, wie seine Gewalt an dem meinen. Die Macht unseres Heeres besteht in der Todesfurcht des Gegners, oder sogar schon in seiner Sterblichkeit. Wenn der Feind sich vor unseren Geschossen fürchtet, so wird er davonlaufen; wenn er sich nicht fürchtet und ohne Rücksicht auf seine Verluste gegen unsere Stellungen anstürmt, so kann er aufgerieben werden. Der Effekt ist derselbe. Was beim Soldaten Todesfurcht heißt, ist bei der Führung Vorsicht und Taktik.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/156
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/156>, abgerufen am 31.05.2024.