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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Die litauisch-baltische Frcige

Wenn es uns nun, was wir zuversichtlich hoffen, gelingt, das russische
Reich, diesen Koloß, der aus einer Menge von Nationen zusammengefügt ist,
-- sollen doch hundertzweiundvierzig verschiedene Völkerschaften in seinen Grenzen
ihre Sitze haben, -- zu demütigen und ihm den Frieden zu diktieren, so fragt
es sich, ob eine Gebietserweiterung für uns an unserer Ostgrenze wünschenswert
wäre, und ob man bisher russisches Gebiet annektieren solle. Manche Stimmen
erklärten strikt: NeinI Wir wollen, daß Deutschland ein Nationalstaat sei und
bleibe. Wir wünschen nicht, daß fremde Völkerschaften in unseren deutschen
Staatenbund aufgenommen würden. Sie würden unsere Einheit nur stören,
die Verwaltung erschweren und zu verschiedenen Beunruhigungen und Streit¬
fragen Veranlassung geben. Wir haben in den letzten Jahrzehnten zur Genüge
erfahren, welch große Schwierigkeiten uns die Polen in der Ostmark bereitet
haben, welche Opfer an Kraft und Geld wir haben bringen müssen. Man
weiß, wie schwierig die Schul- und Kirchenverhältnisse, die praktische Rechtspflege
und der ganze zweisprachige Verwaltungsbetrieb dort gewesen ist. Sollen wir
uns nun etwa Provinzen oder sonstige staatliche Gebilde mit noch schwierigeren
Verhältnissen aufhalsen? Gebiete, in denen deutsches Wesen völlig fremd
und unbekannt ist, dem Deutschen Reiche einverleiben und das berüchtigste
Sprachengewirr des Ostens unter Deutschlands Schirm stellen? Wenn es auch
erwünscht erscheint, daß unser Vaterland größer werde, so wäre doch der Preis,
den wir dafür zahlen müßten, zu groß. Nein, wir verzichten, und sorgen viel¬
mehr, daß unser Volk in seinen bisherigen Grenzen national und wirtschaftlich
kräftiger werde.

Das sind Erwägungen, die in der Tat eine große Berechtigung haben
und nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen sind. Es sind aber Er¬
wägungen, die von dem feindlichen Nußland, das unserem Volksganzen so un¬
geheure Wunden geschlagen hat, mit größterFreude begrüßt werden würden. Würde
doch hiernach Rußland territorial völlig ungeschwächt aus dem von ihm über¬
mütig und frevelhaft hervorgerufenen Kriege hervorgehen. Auch an Bevölkerungs-
zahl würde das sich verhältnismäßig schnell vermehrende slawische Volk sich
bald regenerieren. So würden die allerdings tiefen Wunden, die der Krieg
dem russischen Volk geschlagen, wieder bald heilen, und es würde in seiner
bisherigen Größe, dann aber als unversöhnlicher gewaltiger Feind, drohend an
unserer Ostgrenze sich aufrichten. Hat Rußland nach den großen Niederlagen,
die es sich im japanischen Kriege geholt hat, sich nicht bald wieder erholt? Wer
wäre so einfältig zu glauben, daß Rußland nach dem Frieden mit Deutschland
nun die Hände in den Schoß legen würde? Würden wir dann nicht ein
zweites, aber viel mächtigeres Frankreich an unseren Ostgrenzen haben, das
den Vergeltungsgedanken nimmer fahren ließe? Es mögen zehn oder mehr
Jahre friedlicher Tätigkeit dahingehen, Nußland, das jetzt mit tödlichem Haß
gegen uns erfüllt ist, das den deutschen Grundbesitz expropriiert hat, das fast
alles, was ans Deutschtum erinnerte, vernichtet und ausgelöscht hat, würde jähr-


Die litauisch-baltische Frcige

Wenn es uns nun, was wir zuversichtlich hoffen, gelingt, das russische
Reich, diesen Koloß, der aus einer Menge von Nationen zusammengefügt ist,
— sollen doch hundertzweiundvierzig verschiedene Völkerschaften in seinen Grenzen
ihre Sitze haben, — zu demütigen und ihm den Frieden zu diktieren, so fragt
es sich, ob eine Gebietserweiterung für uns an unserer Ostgrenze wünschenswert
wäre, und ob man bisher russisches Gebiet annektieren solle. Manche Stimmen
erklärten strikt: NeinI Wir wollen, daß Deutschland ein Nationalstaat sei und
bleibe. Wir wünschen nicht, daß fremde Völkerschaften in unseren deutschen
Staatenbund aufgenommen würden. Sie würden unsere Einheit nur stören,
die Verwaltung erschweren und zu verschiedenen Beunruhigungen und Streit¬
fragen Veranlassung geben. Wir haben in den letzten Jahrzehnten zur Genüge
erfahren, welch große Schwierigkeiten uns die Polen in der Ostmark bereitet
haben, welche Opfer an Kraft und Geld wir haben bringen müssen. Man
weiß, wie schwierig die Schul- und Kirchenverhältnisse, die praktische Rechtspflege
und der ganze zweisprachige Verwaltungsbetrieb dort gewesen ist. Sollen wir
uns nun etwa Provinzen oder sonstige staatliche Gebilde mit noch schwierigeren
Verhältnissen aufhalsen? Gebiete, in denen deutsches Wesen völlig fremd
und unbekannt ist, dem Deutschen Reiche einverleiben und das berüchtigste
Sprachengewirr des Ostens unter Deutschlands Schirm stellen? Wenn es auch
erwünscht erscheint, daß unser Vaterland größer werde, so wäre doch der Preis,
den wir dafür zahlen müßten, zu groß. Nein, wir verzichten, und sorgen viel¬
mehr, daß unser Volk in seinen bisherigen Grenzen national und wirtschaftlich
kräftiger werde.

Das sind Erwägungen, die in der Tat eine große Berechtigung haben
und nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen sind. Es sind aber Er¬
wägungen, die von dem feindlichen Nußland, das unserem Volksganzen so un¬
geheure Wunden geschlagen hat, mit größterFreude begrüßt werden würden. Würde
doch hiernach Rußland territorial völlig ungeschwächt aus dem von ihm über¬
mütig und frevelhaft hervorgerufenen Kriege hervorgehen. Auch an Bevölkerungs-
zahl würde das sich verhältnismäßig schnell vermehrende slawische Volk sich
bald regenerieren. So würden die allerdings tiefen Wunden, die der Krieg
dem russischen Volk geschlagen, wieder bald heilen, und es würde in seiner
bisherigen Größe, dann aber als unversöhnlicher gewaltiger Feind, drohend an
unserer Ostgrenze sich aufrichten. Hat Rußland nach den großen Niederlagen,
die es sich im japanischen Kriege geholt hat, sich nicht bald wieder erholt? Wer
wäre so einfältig zu glauben, daß Rußland nach dem Frieden mit Deutschland
nun die Hände in den Schoß legen würde? Würden wir dann nicht ein
zweites, aber viel mächtigeres Frankreich an unseren Ostgrenzen haben, das
den Vergeltungsgedanken nimmer fahren ließe? Es mögen zehn oder mehr
Jahre friedlicher Tätigkeit dahingehen, Nußland, das jetzt mit tödlichem Haß
gegen uns erfüllt ist, das den deutschen Grundbesitz expropriiert hat, das fast
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[0217] Die litauisch-baltische Frcige Wenn es uns nun, was wir zuversichtlich hoffen, gelingt, das russische Reich, diesen Koloß, der aus einer Menge von Nationen zusammengefügt ist, — sollen doch hundertzweiundvierzig verschiedene Völkerschaften in seinen Grenzen ihre Sitze haben, — zu demütigen und ihm den Frieden zu diktieren, so fragt es sich, ob eine Gebietserweiterung für uns an unserer Ostgrenze wünschenswert wäre, und ob man bisher russisches Gebiet annektieren solle. Manche Stimmen erklärten strikt: NeinI Wir wollen, daß Deutschland ein Nationalstaat sei und bleibe. Wir wünschen nicht, daß fremde Völkerschaften in unseren deutschen Staatenbund aufgenommen würden. Sie würden unsere Einheit nur stören, die Verwaltung erschweren und zu verschiedenen Beunruhigungen und Streit¬ fragen Veranlassung geben. Wir haben in den letzten Jahrzehnten zur Genüge erfahren, welch große Schwierigkeiten uns die Polen in der Ostmark bereitet haben, welche Opfer an Kraft und Geld wir haben bringen müssen. Man weiß, wie schwierig die Schul- und Kirchenverhältnisse, die praktische Rechtspflege und der ganze zweisprachige Verwaltungsbetrieb dort gewesen ist. Sollen wir uns nun etwa Provinzen oder sonstige staatliche Gebilde mit noch schwierigeren Verhältnissen aufhalsen? Gebiete, in denen deutsches Wesen völlig fremd und unbekannt ist, dem Deutschen Reiche einverleiben und das berüchtigste Sprachengewirr des Ostens unter Deutschlands Schirm stellen? Wenn es auch erwünscht erscheint, daß unser Vaterland größer werde, so wäre doch der Preis, den wir dafür zahlen müßten, zu groß. Nein, wir verzichten, und sorgen viel¬ mehr, daß unser Volk in seinen bisherigen Grenzen national und wirtschaftlich kräftiger werde. Das sind Erwägungen, die in der Tat eine große Berechtigung haben und nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen sind. Es sind aber Er¬ wägungen, die von dem feindlichen Nußland, das unserem Volksganzen so un¬ geheure Wunden geschlagen hat, mit größterFreude begrüßt werden würden. Würde doch hiernach Rußland territorial völlig ungeschwächt aus dem von ihm über¬ mütig und frevelhaft hervorgerufenen Kriege hervorgehen. Auch an Bevölkerungs- zahl würde das sich verhältnismäßig schnell vermehrende slawische Volk sich bald regenerieren. So würden die allerdings tiefen Wunden, die der Krieg dem russischen Volk geschlagen, wieder bald heilen, und es würde in seiner bisherigen Größe, dann aber als unversöhnlicher gewaltiger Feind, drohend an unserer Ostgrenze sich aufrichten. Hat Rußland nach den großen Niederlagen, die es sich im japanischen Kriege geholt hat, sich nicht bald wieder erholt? Wer wäre so einfältig zu glauben, daß Rußland nach dem Frieden mit Deutschland nun die Hände in den Schoß legen würde? Würden wir dann nicht ein zweites, aber viel mächtigeres Frankreich an unseren Ostgrenzen haben, das den Vergeltungsgedanken nimmer fahren ließe? Es mögen zehn oder mehr Jahre friedlicher Tätigkeit dahingehen, Nußland, das jetzt mit tödlichem Haß gegen uns erfüllt ist, das den deutschen Grundbesitz expropriiert hat, das fast alles, was ans Deutschtum erinnerte, vernichtet und ausgelöscht hat, würde jähr-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/217>, abgerufen am 14.05.2024.