Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die litauisch-baltische Frage

war verboten, ebenso die Pacht von Domänen. Hingegen wurde die Rusftfizierung
Litauens durch intensive Kolonisation eifrig betrieben. Staatliche Banken kauften
in Litauen gelegene Güter auf und verteilten sie unter Verleihung von be¬
sonderen Rechten und Unterstützungen an russische Kolonisten. Diese waren
jedoch meist minderwertige und ungeeignete Personen, die wirtschaftlich nicht
vorwärts kamen, dagegen in moralischer Hinsicht auf ihre Umgebung verderblich
wirkten. Ein wie großes Gewicht die Regierung auf die innere Kolonisation
legte, erhellt daraus, daß im Jahre 1900 für diesen Zweck im Gouver¬
nement Kowno die Summe von sechs Millionen Rubel ausgeworfen wurde.
Dagegen bemühte man sich, Litauer in das Innere Rußlands zu ver¬
setzen, um sie dort völlig der Heimat zu entfremden und zu russifizieren. Ganz
Litauen sollte ein "echt russisches Land" werden.

Die Beamtenschaft, die vielfach mit großer Willkür waltet, ist ausschließlich
russisch. Litauer, die die Beamtenkarriere ergriffen, konnten nur im Innern
Rußlands Anstellung finden. Als Arbeiter in fiskalischen Betrieben wurden nur
orthodoxe Russen hinzugezogen, wenn sie auch von weither und mit großen Kosten
herbei geschafft werden mußten. Den litauischen Arbeitern blieb nichts anderes
übrig, als in die entfernten größeren Städte oder nach Amerika auszuwandern.
In Riga, Libau und Petersburg zählt man die litauischen Arbeiter zu Tausenden;
in Amerika dürften sich wohl bis zu einer Million Litauer aushalten. In den
neunziger Jahren sind aus dem Gouvernement Suwalki alljährlich 10 Prozent
der Bevölkerung nach Amerika und 4 Prozent in die Großstädte abgewandert.
Nach Berichten in litauisch-amerikanischen Zeitungen sind viele litauischen Aus¬
wanderer gewillt, in die Heimat zurückzukehren, sobald dort eine freiere Luft
weht und die Möglichkeit zur Entfaltung wirtschaftlicher und geistiger Kräfte
gegeben ist.

In die kleineren Städte Litauens hat die russische Verwaltung beträchtliche
Garnisonen gelegt, wobei neben anderen Gründen das Bestreben angesprochen
haben mag, diese Städte und ihre Umgebungen dadurch schneller zu
russifizieren.

Trotz aller dieser wuchtigen Regierungsmaßnahmen, die sehr drückend auf
dem litauischen Volk lasten, ist es nicht gelungen, das Volk dem Russentum
näherzubringen. Äußerlich angesehen scheint das russische Element in Litauen
große Bedeutung und viel Einfluß zu haben, wenn man aber von der russischen
Beamtenschaft absieht, so bleibt eine ziemlich reine litauische Bevölkerung
zurück, wobei allerdings zuzugeben ist, daß die Städte und eine Anzahl
größerer Güter, die sich zumeist in polnischen Händen befinden, eine Aus¬
nahme bilden.

"Die russische Negierung treibt meist nur extensive Wirtschaft; das. was
sie besitzt, zu kultivieren, rationell zu benutzen, dessen ist sie nicht fähig; Aus¬
dehnung des schon übergroßen Staatsgebietes neben der Verallgemeinerung des
sogenannten .russischen Gedankens', bestehend in gleicher Sprache, gleichem


Die litauisch-baltische Frage

war verboten, ebenso die Pacht von Domänen. Hingegen wurde die Rusftfizierung
Litauens durch intensive Kolonisation eifrig betrieben. Staatliche Banken kauften
in Litauen gelegene Güter auf und verteilten sie unter Verleihung von be¬
sonderen Rechten und Unterstützungen an russische Kolonisten. Diese waren
jedoch meist minderwertige und ungeeignete Personen, die wirtschaftlich nicht
vorwärts kamen, dagegen in moralischer Hinsicht auf ihre Umgebung verderblich
wirkten. Ein wie großes Gewicht die Regierung auf die innere Kolonisation
legte, erhellt daraus, daß im Jahre 1900 für diesen Zweck im Gouver¬
nement Kowno die Summe von sechs Millionen Rubel ausgeworfen wurde.
Dagegen bemühte man sich, Litauer in das Innere Rußlands zu ver¬
setzen, um sie dort völlig der Heimat zu entfremden und zu russifizieren. Ganz
Litauen sollte ein „echt russisches Land" werden.

Die Beamtenschaft, die vielfach mit großer Willkür waltet, ist ausschließlich
russisch. Litauer, die die Beamtenkarriere ergriffen, konnten nur im Innern
Rußlands Anstellung finden. Als Arbeiter in fiskalischen Betrieben wurden nur
orthodoxe Russen hinzugezogen, wenn sie auch von weither und mit großen Kosten
herbei geschafft werden mußten. Den litauischen Arbeitern blieb nichts anderes
übrig, als in die entfernten größeren Städte oder nach Amerika auszuwandern.
In Riga, Libau und Petersburg zählt man die litauischen Arbeiter zu Tausenden;
in Amerika dürften sich wohl bis zu einer Million Litauer aushalten. In den
neunziger Jahren sind aus dem Gouvernement Suwalki alljährlich 10 Prozent
der Bevölkerung nach Amerika und 4 Prozent in die Großstädte abgewandert.
Nach Berichten in litauisch-amerikanischen Zeitungen sind viele litauischen Aus¬
wanderer gewillt, in die Heimat zurückzukehren, sobald dort eine freiere Luft
weht und die Möglichkeit zur Entfaltung wirtschaftlicher und geistiger Kräfte
gegeben ist.

In die kleineren Städte Litauens hat die russische Verwaltung beträchtliche
Garnisonen gelegt, wobei neben anderen Gründen das Bestreben angesprochen
haben mag, diese Städte und ihre Umgebungen dadurch schneller zu
russifizieren.

Trotz aller dieser wuchtigen Regierungsmaßnahmen, die sehr drückend auf
dem litauischen Volk lasten, ist es nicht gelungen, das Volk dem Russentum
näherzubringen. Äußerlich angesehen scheint das russische Element in Litauen
große Bedeutung und viel Einfluß zu haben, wenn man aber von der russischen
Beamtenschaft absieht, so bleibt eine ziemlich reine litauische Bevölkerung
zurück, wobei allerdings zuzugeben ist, daß die Städte und eine Anzahl
größerer Güter, die sich zumeist in polnischen Händen befinden, eine Aus¬
nahme bilden.

„Die russische Negierung treibt meist nur extensive Wirtschaft; das. was
sie besitzt, zu kultivieren, rationell zu benutzen, dessen ist sie nicht fähig; Aus¬
dehnung des schon übergroßen Staatsgebietes neben der Verallgemeinerung des
sogenannten .russischen Gedankens', bestehend in gleicher Sprache, gleichem


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0225" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/323322"/>
          <fw type="header" place="top"> Die litauisch-baltische Frage</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_712" prev="#ID_711"> war verboten, ebenso die Pacht von Domänen. Hingegen wurde die Rusftfizierung<lb/>
Litauens durch intensive Kolonisation eifrig betrieben. Staatliche Banken kauften<lb/>
in Litauen gelegene Güter auf und verteilten sie unter Verleihung von be¬<lb/>
sonderen Rechten und Unterstützungen an russische Kolonisten. Diese waren<lb/>
jedoch meist minderwertige und ungeeignete Personen, die wirtschaftlich nicht<lb/>
vorwärts kamen, dagegen in moralischer Hinsicht auf ihre Umgebung verderblich<lb/>
wirkten. Ein wie großes Gewicht die Regierung auf die innere Kolonisation<lb/>
legte, erhellt daraus, daß im Jahre 1900 für diesen Zweck im Gouver¬<lb/>
nement Kowno die Summe von sechs Millionen Rubel ausgeworfen wurde.<lb/>
Dagegen bemühte man sich, Litauer in das Innere Rußlands zu ver¬<lb/>
setzen, um sie dort völlig der Heimat zu entfremden und zu russifizieren. Ganz<lb/>
Litauen sollte ein &#x201E;echt russisches Land" werden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_713"> Die Beamtenschaft, die vielfach mit großer Willkür waltet, ist ausschließlich<lb/>
russisch. Litauer, die die Beamtenkarriere ergriffen, konnten nur im Innern<lb/>
Rußlands Anstellung finden. Als Arbeiter in fiskalischen Betrieben wurden nur<lb/>
orthodoxe Russen hinzugezogen, wenn sie auch von weither und mit großen Kosten<lb/>
herbei geschafft werden mußten. Den litauischen Arbeitern blieb nichts anderes<lb/>
übrig, als in die entfernten größeren Städte oder nach Amerika auszuwandern.<lb/>
In Riga, Libau und Petersburg zählt man die litauischen Arbeiter zu Tausenden;<lb/>
in Amerika dürften sich wohl bis zu einer Million Litauer aushalten. In den<lb/>
neunziger Jahren sind aus dem Gouvernement Suwalki alljährlich 10 Prozent<lb/>
der Bevölkerung nach Amerika und 4 Prozent in die Großstädte abgewandert.<lb/>
Nach Berichten in litauisch-amerikanischen Zeitungen sind viele litauischen Aus¬<lb/>
wanderer gewillt, in die Heimat zurückzukehren, sobald dort eine freiere Luft<lb/>
weht und die Möglichkeit zur Entfaltung wirtschaftlicher und geistiger Kräfte<lb/>
gegeben ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_714"> In die kleineren Städte Litauens hat die russische Verwaltung beträchtliche<lb/>
Garnisonen gelegt, wobei neben anderen Gründen das Bestreben angesprochen<lb/>
haben mag, diese Städte und ihre Umgebungen dadurch schneller zu<lb/>
russifizieren.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_715"> Trotz aller dieser wuchtigen Regierungsmaßnahmen, die sehr drückend auf<lb/>
dem litauischen Volk lasten, ist es nicht gelungen, das Volk dem Russentum<lb/>
näherzubringen. Äußerlich angesehen scheint das russische Element in Litauen<lb/>
große Bedeutung und viel Einfluß zu haben, wenn man aber von der russischen<lb/>
Beamtenschaft absieht, so bleibt eine ziemlich reine litauische Bevölkerung<lb/>
zurück, wobei allerdings zuzugeben ist, daß die Städte und eine Anzahl<lb/>
größerer Güter, die sich zumeist in polnischen Händen befinden, eine Aus¬<lb/>
nahme bilden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_716" next="#ID_717"> &#x201E;Die russische Negierung treibt meist nur extensive Wirtschaft; das. was<lb/>
sie besitzt, zu kultivieren, rationell zu benutzen, dessen ist sie nicht fähig; Aus¬<lb/>
dehnung des schon übergroßen Staatsgebietes neben der Verallgemeinerung des<lb/>
sogenannten .russischen Gedankens', bestehend in gleicher Sprache, gleichem</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0225] Die litauisch-baltische Frage war verboten, ebenso die Pacht von Domänen. Hingegen wurde die Rusftfizierung Litauens durch intensive Kolonisation eifrig betrieben. Staatliche Banken kauften in Litauen gelegene Güter auf und verteilten sie unter Verleihung von be¬ sonderen Rechten und Unterstützungen an russische Kolonisten. Diese waren jedoch meist minderwertige und ungeeignete Personen, die wirtschaftlich nicht vorwärts kamen, dagegen in moralischer Hinsicht auf ihre Umgebung verderblich wirkten. Ein wie großes Gewicht die Regierung auf die innere Kolonisation legte, erhellt daraus, daß im Jahre 1900 für diesen Zweck im Gouver¬ nement Kowno die Summe von sechs Millionen Rubel ausgeworfen wurde. Dagegen bemühte man sich, Litauer in das Innere Rußlands zu ver¬ setzen, um sie dort völlig der Heimat zu entfremden und zu russifizieren. Ganz Litauen sollte ein „echt russisches Land" werden. Die Beamtenschaft, die vielfach mit großer Willkür waltet, ist ausschließlich russisch. Litauer, die die Beamtenkarriere ergriffen, konnten nur im Innern Rußlands Anstellung finden. Als Arbeiter in fiskalischen Betrieben wurden nur orthodoxe Russen hinzugezogen, wenn sie auch von weither und mit großen Kosten herbei geschafft werden mußten. Den litauischen Arbeitern blieb nichts anderes übrig, als in die entfernten größeren Städte oder nach Amerika auszuwandern. In Riga, Libau und Petersburg zählt man die litauischen Arbeiter zu Tausenden; in Amerika dürften sich wohl bis zu einer Million Litauer aushalten. In den neunziger Jahren sind aus dem Gouvernement Suwalki alljährlich 10 Prozent der Bevölkerung nach Amerika und 4 Prozent in die Großstädte abgewandert. Nach Berichten in litauisch-amerikanischen Zeitungen sind viele litauischen Aus¬ wanderer gewillt, in die Heimat zurückzukehren, sobald dort eine freiere Luft weht und die Möglichkeit zur Entfaltung wirtschaftlicher und geistiger Kräfte gegeben ist. In die kleineren Städte Litauens hat die russische Verwaltung beträchtliche Garnisonen gelegt, wobei neben anderen Gründen das Bestreben angesprochen haben mag, diese Städte und ihre Umgebungen dadurch schneller zu russifizieren. Trotz aller dieser wuchtigen Regierungsmaßnahmen, die sehr drückend auf dem litauischen Volk lasten, ist es nicht gelungen, das Volk dem Russentum näherzubringen. Äußerlich angesehen scheint das russische Element in Litauen große Bedeutung und viel Einfluß zu haben, wenn man aber von der russischen Beamtenschaft absieht, so bleibt eine ziemlich reine litauische Bevölkerung zurück, wobei allerdings zuzugeben ist, daß die Städte und eine Anzahl größerer Güter, die sich zumeist in polnischen Händen befinden, eine Aus¬ nahme bilden. „Die russische Negierung treibt meist nur extensive Wirtschaft; das. was sie besitzt, zu kultivieren, rationell zu benutzen, dessen ist sie nicht fähig; Aus¬ dehnung des schon übergroßen Staatsgebietes neben der Verallgemeinerung des sogenannten .russischen Gedankens', bestehend in gleicher Sprache, gleichem

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/225
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/225>, abgerufen am 14.05.2024.