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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Die litauisch-baltische Frage

litauisch-jüdische Studenten besuchen deutsche Universitäten und erscheinen
schließlich wohl auch als Koryphäen in der deutschen Gelehrtenwelt.

Das Verhältnis der Litauer zu den Polen ist trotz der jahrhundertelangen
politischen Gemeinsamkeit ziemlich unfreundlich. Und dieses aus nationalen
Gründen. Die Polen sind gewohnt, Litauen als einen Teil ihres Reiches
anzusehen, das sie mit den Segnungen ihrer Kultur und ihrer "vornehmen"
Sprache beschenkt hätten. Dafür müßten die Litauer dankbar sein. Sie sollten
ihre "heidnische" Sprache und ihre bäuerischen Sitten fahren lassen und sich
dem hochkultivierten Polonismus anschließen, so wie es ihr Adel bereits vor
Jahrhunderten getan habe. In der Tat hatte der Polonismus gewaltigen Ein¬
fluß in Litauen gewonnen. Die Universität Wilna und die ihrer Aufsicht
unterstellten Schulen waren seine Pflanzstätten. Das Verbot des Gebrauches
titanischer Bücher 1864 bewirkte eine starke Verbreitung der polnischen geist¬
lichen und Profanliteratur über ganz Litauen. Vielfach betete und lehrte man
die Jugend aus polnischen Büchern. Das Litauische schien völlig eingeschlafen.
Als aber im neunzehnten Jahrhundert eine Erstarkung des Nationalitätsgefühls
bei verschiedenen kleinen Völkerschaften zutage trat, wurden auch die Litauer
zum nationalen Erwachen angeregt. Es galt zunächst, den gewaltigen Einfluß
des Polonismus aufzuhalten. Die gebildeten Litauer bemühten sich, nachdem
sie sich allmählich auf nationalen Boden gestellt hatten, im Bunde mit der
Geistlichkeit in allen kulturellen Fragen das Volk von dem polnischen Wesen
unabhängig zu machen. Sie schufen bald eine litauische Literatur, und in der
Schul- und Kirchenfrage kam ihnen die russische Regierung entgegen. Der
litauische Adel ist allerdings auch gegenwärtig noch in seiner Mehrheit dem
Polonismus ergeben, jedoch hat bereits eine beträchtliche Anzahl Bojaren sich
von ihm losgesagt und ist sich seiner Zugehörigkeit zum Litauertum bewußt
geworden. Böses Aufsehen haben einige Kämpfe in der Wilnaer Diözese
zwischen Polen und Litauern bei kirchlichen Gottesdiensten erregt, wobei die
Polen den neueingeführten litauischen Gesang durchaus nicht zulassen wollten,
und ihn nicht nur zu überschreien suchten, sondern auch die Sänger mißhandelten
und die litauische Predigt verhinderten. Ausführliches hat darüber der Abge¬
ordnete Dr. Steputat im preußischen Abgeordnetenhause am 13. Februar 1914
berichtet. Gegenwärtig giebt es keine freundschaftlichen Beziehungen zwischen
Litauern und Polen. Daher sollte auch nie zugelassen werden, daß die litauischen
Kreise des Gouverments Suwalki, obwohl sie früher vorübergehend zum engeren
Polenreiche gehörten, in irgendeine nähere Verbindung mit Polen kämen.
Sie sind völlig litauisch und sollten und dürften nicht von dem übrigen Litauen
getrennt werden. Würden diese Gebiete wieder mit Polen vereinigt, so wäre
dadurch der Vergewaltigung und Bedrückung der Litauer durch die Polen Tor
und Tür geöffnet.

Zu den Letten, dem Brudervolk der Litauer, die in Kurland und Livland
die große Masse der Bevölkerung ausmachen, stehen die Litauer in freundlicher


Die litauisch-baltische Frage

litauisch-jüdische Studenten besuchen deutsche Universitäten und erscheinen
schließlich wohl auch als Koryphäen in der deutschen Gelehrtenwelt.

Das Verhältnis der Litauer zu den Polen ist trotz der jahrhundertelangen
politischen Gemeinsamkeit ziemlich unfreundlich. Und dieses aus nationalen
Gründen. Die Polen sind gewohnt, Litauen als einen Teil ihres Reiches
anzusehen, das sie mit den Segnungen ihrer Kultur und ihrer „vornehmen"
Sprache beschenkt hätten. Dafür müßten die Litauer dankbar sein. Sie sollten
ihre „heidnische" Sprache und ihre bäuerischen Sitten fahren lassen und sich
dem hochkultivierten Polonismus anschließen, so wie es ihr Adel bereits vor
Jahrhunderten getan habe. In der Tat hatte der Polonismus gewaltigen Ein¬
fluß in Litauen gewonnen. Die Universität Wilna und die ihrer Aufsicht
unterstellten Schulen waren seine Pflanzstätten. Das Verbot des Gebrauches
titanischer Bücher 1864 bewirkte eine starke Verbreitung der polnischen geist¬
lichen und Profanliteratur über ganz Litauen. Vielfach betete und lehrte man
die Jugend aus polnischen Büchern. Das Litauische schien völlig eingeschlafen.
Als aber im neunzehnten Jahrhundert eine Erstarkung des Nationalitätsgefühls
bei verschiedenen kleinen Völkerschaften zutage trat, wurden auch die Litauer
zum nationalen Erwachen angeregt. Es galt zunächst, den gewaltigen Einfluß
des Polonismus aufzuhalten. Die gebildeten Litauer bemühten sich, nachdem
sie sich allmählich auf nationalen Boden gestellt hatten, im Bunde mit der
Geistlichkeit in allen kulturellen Fragen das Volk von dem polnischen Wesen
unabhängig zu machen. Sie schufen bald eine litauische Literatur, und in der
Schul- und Kirchenfrage kam ihnen die russische Regierung entgegen. Der
litauische Adel ist allerdings auch gegenwärtig noch in seiner Mehrheit dem
Polonismus ergeben, jedoch hat bereits eine beträchtliche Anzahl Bojaren sich
von ihm losgesagt und ist sich seiner Zugehörigkeit zum Litauertum bewußt
geworden. Böses Aufsehen haben einige Kämpfe in der Wilnaer Diözese
zwischen Polen und Litauern bei kirchlichen Gottesdiensten erregt, wobei die
Polen den neueingeführten litauischen Gesang durchaus nicht zulassen wollten,
und ihn nicht nur zu überschreien suchten, sondern auch die Sänger mißhandelten
und die litauische Predigt verhinderten. Ausführliches hat darüber der Abge¬
ordnete Dr. Steputat im preußischen Abgeordnetenhause am 13. Februar 1914
berichtet. Gegenwärtig giebt es keine freundschaftlichen Beziehungen zwischen
Litauern und Polen. Daher sollte auch nie zugelassen werden, daß die litauischen
Kreise des Gouverments Suwalki, obwohl sie früher vorübergehend zum engeren
Polenreiche gehörten, in irgendeine nähere Verbindung mit Polen kämen.
Sie sind völlig litauisch und sollten und dürften nicht von dem übrigen Litauen
getrennt werden. Würden diese Gebiete wieder mit Polen vereinigt, so wäre
dadurch der Vergewaltigung und Bedrückung der Litauer durch die Polen Tor
und Tür geöffnet.

Zu den Letten, dem Brudervolk der Litauer, die in Kurland und Livland
die große Masse der Bevölkerung ausmachen, stehen die Litauer in freundlicher


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[0246] Die litauisch-baltische Frage litauisch-jüdische Studenten besuchen deutsche Universitäten und erscheinen schließlich wohl auch als Koryphäen in der deutschen Gelehrtenwelt. Das Verhältnis der Litauer zu den Polen ist trotz der jahrhundertelangen politischen Gemeinsamkeit ziemlich unfreundlich. Und dieses aus nationalen Gründen. Die Polen sind gewohnt, Litauen als einen Teil ihres Reiches anzusehen, das sie mit den Segnungen ihrer Kultur und ihrer „vornehmen" Sprache beschenkt hätten. Dafür müßten die Litauer dankbar sein. Sie sollten ihre „heidnische" Sprache und ihre bäuerischen Sitten fahren lassen und sich dem hochkultivierten Polonismus anschließen, so wie es ihr Adel bereits vor Jahrhunderten getan habe. In der Tat hatte der Polonismus gewaltigen Ein¬ fluß in Litauen gewonnen. Die Universität Wilna und die ihrer Aufsicht unterstellten Schulen waren seine Pflanzstätten. Das Verbot des Gebrauches titanischer Bücher 1864 bewirkte eine starke Verbreitung der polnischen geist¬ lichen und Profanliteratur über ganz Litauen. Vielfach betete und lehrte man die Jugend aus polnischen Büchern. Das Litauische schien völlig eingeschlafen. Als aber im neunzehnten Jahrhundert eine Erstarkung des Nationalitätsgefühls bei verschiedenen kleinen Völkerschaften zutage trat, wurden auch die Litauer zum nationalen Erwachen angeregt. Es galt zunächst, den gewaltigen Einfluß des Polonismus aufzuhalten. Die gebildeten Litauer bemühten sich, nachdem sie sich allmählich auf nationalen Boden gestellt hatten, im Bunde mit der Geistlichkeit in allen kulturellen Fragen das Volk von dem polnischen Wesen unabhängig zu machen. Sie schufen bald eine litauische Literatur, und in der Schul- und Kirchenfrage kam ihnen die russische Regierung entgegen. Der litauische Adel ist allerdings auch gegenwärtig noch in seiner Mehrheit dem Polonismus ergeben, jedoch hat bereits eine beträchtliche Anzahl Bojaren sich von ihm losgesagt und ist sich seiner Zugehörigkeit zum Litauertum bewußt geworden. Böses Aufsehen haben einige Kämpfe in der Wilnaer Diözese zwischen Polen und Litauern bei kirchlichen Gottesdiensten erregt, wobei die Polen den neueingeführten litauischen Gesang durchaus nicht zulassen wollten, und ihn nicht nur zu überschreien suchten, sondern auch die Sänger mißhandelten und die litauische Predigt verhinderten. Ausführliches hat darüber der Abge¬ ordnete Dr. Steputat im preußischen Abgeordnetenhause am 13. Februar 1914 berichtet. Gegenwärtig giebt es keine freundschaftlichen Beziehungen zwischen Litauern und Polen. Daher sollte auch nie zugelassen werden, daß die litauischen Kreise des Gouverments Suwalki, obwohl sie früher vorübergehend zum engeren Polenreiche gehörten, in irgendeine nähere Verbindung mit Polen kämen. Sie sind völlig litauisch und sollten und dürften nicht von dem übrigen Litauen getrennt werden. Würden diese Gebiete wieder mit Polen vereinigt, so wäre dadurch der Vergewaltigung und Bedrückung der Litauer durch die Polen Tor und Tür geöffnet. Zu den Letten, dem Brudervolk der Litauer, die in Kurland und Livland die große Masse der Bevölkerung ausmachen, stehen die Litauer in freundlicher

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/246>, abgerufen am 29.05.2024.