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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Die litauisch-baltische Frage

beschränkter Erfolg nimmer aufwiegen könnte. Die preußische Polenpolitik
hat zur Genüge erwiesen, wie schwierig, unerquicklich und undankbar es ist, ein
Volk national schwächen zu wollen, das sich nun einmal zu einer gewissen
nationalen Selbständigkeit entwickelt hat.

Es erstehen für Deutschland, wenn es mit Gottes Hilfe stegreich aus dein
gewaltigen Ringen hervorgeht, besonders wichtige Aufgaben bezüglich dieser
seiner nordöstlichen Nachbarländer. Es darf diese Gebiete, deren Bevölkerung
durch Sprache, Volkstum und Sitten keine Verwandtschaft und keinen Zusammen¬
hang mit dem altrussischen Wesen hat, zu seinem eigenen Schaden nicht fernerhin
bei dem russischen Koloß belassen. Es ist geradezu eine moralische Pflicht
des Deutschen Reiches, das baltische Deutschtum, das lettische und litauische
Volk nicht länger unter der geistig knechtenden, den wirtschaftlichen Aufschwung
lähmenden und die nationale Wohlfahrt hemmenden Verwaltung Rußlands zu
belassen. Deutschland muß sie befreien, zunächst um seiner eigenen politischen
Sicherheit willen, indem es den gewaltigen Gegner schwächt und sich befreundete
Staatsgebilde schafft, auf die es sich verlassen kann. Was Nußland bei Aus¬
bruch dieses Krieges für Ziele hatte, beweisen die unter den russischen Bagage¬
stücken gefundenen Spezialkarten des europäischen Rußland aus dein Jahre 1911,
denen zufolge die Grenzen des russischen Reiches bereits bis Stettin, Berlin und
Potsdam reichten. Ein Gegner, der aus überschäumenden Nationalitätsgefühl
und unersättlichen Machthunger wohl jahrelang auf die Gelegenheit gewartet
hat, unserem Volksganzen den tödlichen Stoß zu versetzen und der dann tat¬
sächlich unserer Volkskraft und unserem Lande unsäglich tiefe Wunden ge¬
schlagen hat, muß für lange Zeit, möglichst für immer, unschädlich gemacht
werden.

Daß Rußland selber im Falle eines unglücklich endenden Krieges mit Deutsch¬
land mit Gebietsverlust rechnet, und zwar mit dem Verlust des ganzen Gebietes
von Russisch - Polen, ja sogar des nördlich davon liegenden Gebietes bis zur
Dura. hat General Kuropatkin in seinen "Denkwürdigkeiten aus dem Russisch-
Japanischen Kriege" offen zugegeben.

Das moderne Deutsche Reich hat um so mehr die Pflicht, vorwärtsstrebende
Völkerschaften dein Machtbereich Rußlands zu entziehen, als dieses Reich in seiner
Verwaltung vielfach rückständig, ungerecht und geradezu kulturhemmend geblieben
ist und den Stempel seiner Eigenart den unterjochten Völkern, die nach Aus¬
bildung ihrer eigenen, nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit, der Menschlichkeit
und des Kulturforlschritts sich entwickelnden Art streben, mit rauher Faust auf¬
zudrücken sich dauernd bemüht hat.

Es fällt gegenwärtig den Deutschen die herrliche Aufgabe zu, als Schutz-
und Schirmherr der kleineren Nationen vor aller Welt aufzutreten. England
gefiel sich in heuchlerischer Weise in dieser Rolle. Es hat während des gegen¬
wärtigen Krieges den Mund voll genommen und der Welt erklärt, daß es nur
zum Schutze der kleineren Staaten und Nationen in den Krieg eingegriffen habe.


Die litauisch-baltische Frage

beschränkter Erfolg nimmer aufwiegen könnte. Die preußische Polenpolitik
hat zur Genüge erwiesen, wie schwierig, unerquicklich und undankbar es ist, ein
Volk national schwächen zu wollen, das sich nun einmal zu einer gewissen
nationalen Selbständigkeit entwickelt hat.

Es erstehen für Deutschland, wenn es mit Gottes Hilfe stegreich aus dein
gewaltigen Ringen hervorgeht, besonders wichtige Aufgaben bezüglich dieser
seiner nordöstlichen Nachbarländer. Es darf diese Gebiete, deren Bevölkerung
durch Sprache, Volkstum und Sitten keine Verwandtschaft und keinen Zusammen¬
hang mit dem altrussischen Wesen hat, zu seinem eigenen Schaden nicht fernerhin
bei dem russischen Koloß belassen. Es ist geradezu eine moralische Pflicht
des Deutschen Reiches, das baltische Deutschtum, das lettische und litauische
Volk nicht länger unter der geistig knechtenden, den wirtschaftlichen Aufschwung
lähmenden und die nationale Wohlfahrt hemmenden Verwaltung Rußlands zu
belassen. Deutschland muß sie befreien, zunächst um seiner eigenen politischen
Sicherheit willen, indem es den gewaltigen Gegner schwächt und sich befreundete
Staatsgebilde schafft, auf die es sich verlassen kann. Was Nußland bei Aus¬
bruch dieses Krieges für Ziele hatte, beweisen die unter den russischen Bagage¬
stücken gefundenen Spezialkarten des europäischen Rußland aus dein Jahre 1911,
denen zufolge die Grenzen des russischen Reiches bereits bis Stettin, Berlin und
Potsdam reichten. Ein Gegner, der aus überschäumenden Nationalitätsgefühl
und unersättlichen Machthunger wohl jahrelang auf die Gelegenheit gewartet
hat, unserem Volksganzen den tödlichen Stoß zu versetzen und der dann tat¬
sächlich unserer Volkskraft und unserem Lande unsäglich tiefe Wunden ge¬
schlagen hat, muß für lange Zeit, möglichst für immer, unschädlich gemacht
werden.

Daß Rußland selber im Falle eines unglücklich endenden Krieges mit Deutsch¬
land mit Gebietsverlust rechnet, und zwar mit dem Verlust des ganzen Gebietes
von Russisch - Polen, ja sogar des nördlich davon liegenden Gebietes bis zur
Dura. hat General Kuropatkin in seinen „Denkwürdigkeiten aus dem Russisch-
Japanischen Kriege" offen zugegeben.

Das moderne Deutsche Reich hat um so mehr die Pflicht, vorwärtsstrebende
Völkerschaften dein Machtbereich Rußlands zu entziehen, als dieses Reich in seiner
Verwaltung vielfach rückständig, ungerecht und geradezu kulturhemmend geblieben
ist und den Stempel seiner Eigenart den unterjochten Völkern, die nach Aus¬
bildung ihrer eigenen, nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit, der Menschlichkeit
und des Kulturforlschritts sich entwickelnden Art streben, mit rauher Faust auf¬
zudrücken sich dauernd bemüht hat.

Es fällt gegenwärtig den Deutschen die herrliche Aufgabe zu, als Schutz-
und Schirmherr der kleineren Nationen vor aller Welt aufzutreten. England
gefiel sich in heuchlerischer Weise in dieser Rolle. Es hat während des gegen¬
wärtigen Krieges den Mund voll genommen und der Welt erklärt, daß es nur
zum Schutze der kleineren Staaten und Nationen in den Krieg eingegriffen habe.


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[0248] Die litauisch-baltische Frage beschränkter Erfolg nimmer aufwiegen könnte. Die preußische Polenpolitik hat zur Genüge erwiesen, wie schwierig, unerquicklich und undankbar es ist, ein Volk national schwächen zu wollen, das sich nun einmal zu einer gewissen nationalen Selbständigkeit entwickelt hat. Es erstehen für Deutschland, wenn es mit Gottes Hilfe stegreich aus dein gewaltigen Ringen hervorgeht, besonders wichtige Aufgaben bezüglich dieser seiner nordöstlichen Nachbarländer. Es darf diese Gebiete, deren Bevölkerung durch Sprache, Volkstum und Sitten keine Verwandtschaft und keinen Zusammen¬ hang mit dem altrussischen Wesen hat, zu seinem eigenen Schaden nicht fernerhin bei dem russischen Koloß belassen. Es ist geradezu eine moralische Pflicht des Deutschen Reiches, das baltische Deutschtum, das lettische und litauische Volk nicht länger unter der geistig knechtenden, den wirtschaftlichen Aufschwung lähmenden und die nationale Wohlfahrt hemmenden Verwaltung Rußlands zu belassen. Deutschland muß sie befreien, zunächst um seiner eigenen politischen Sicherheit willen, indem es den gewaltigen Gegner schwächt und sich befreundete Staatsgebilde schafft, auf die es sich verlassen kann. Was Nußland bei Aus¬ bruch dieses Krieges für Ziele hatte, beweisen die unter den russischen Bagage¬ stücken gefundenen Spezialkarten des europäischen Rußland aus dein Jahre 1911, denen zufolge die Grenzen des russischen Reiches bereits bis Stettin, Berlin und Potsdam reichten. Ein Gegner, der aus überschäumenden Nationalitätsgefühl und unersättlichen Machthunger wohl jahrelang auf die Gelegenheit gewartet hat, unserem Volksganzen den tödlichen Stoß zu versetzen und der dann tat¬ sächlich unserer Volkskraft und unserem Lande unsäglich tiefe Wunden ge¬ schlagen hat, muß für lange Zeit, möglichst für immer, unschädlich gemacht werden. Daß Rußland selber im Falle eines unglücklich endenden Krieges mit Deutsch¬ land mit Gebietsverlust rechnet, und zwar mit dem Verlust des ganzen Gebietes von Russisch - Polen, ja sogar des nördlich davon liegenden Gebietes bis zur Dura. hat General Kuropatkin in seinen „Denkwürdigkeiten aus dem Russisch- Japanischen Kriege" offen zugegeben. Das moderne Deutsche Reich hat um so mehr die Pflicht, vorwärtsstrebende Völkerschaften dein Machtbereich Rußlands zu entziehen, als dieses Reich in seiner Verwaltung vielfach rückständig, ungerecht und geradezu kulturhemmend geblieben ist und den Stempel seiner Eigenart den unterjochten Völkern, die nach Aus¬ bildung ihrer eigenen, nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit, der Menschlichkeit und des Kulturforlschritts sich entwickelnden Art streben, mit rauher Faust auf¬ zudrücken sich dauernd bemüht hat. Es fällt gegenwärtig den Deutschen die herrliche Aufgabe zu, als Schutz- und Schirmherr der kleineren Nationen vor aller Welt aufzutreten. England gefiel sich in heuchlerischer Weise in dieser Rolle. Es hat während des gegen¬ wärtigen Krieges den Mund voll genommen und der Welt erklärt, daß es nur zum Schutze der kleineren Staaten und Nationen in den Krieg eingegriffen habe.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/248>, abgerufen am 29.05.2024.